Verhaftung von Menschenrechtlern: Deutschland verliert die Geduld mit der Türkei
Der Streit zwischen der Türkei und Deutschland eskaliert. Ankara weist die Forderungen aus Berlin schroff zurück. In Kürze will sich Gabriel äußern.
- Antje Sirleschtov
- Susanne Güsten
- Gerd Appenzeller
Die diplomatische Krise zwischen Deutschland und der Türkei verschärft sich. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) unterbricht deswegen seinen Urlaub und kehrt nach Berlin zurück. Wegen der Inhaftierung eines Deutschen und fünf weiterer Menschenrechtsaktivisten ist der türkische Botschafter am Mittwoch ins Auswärtige Amt zitiert worden. Ihm sei "klipp und klar" mitgeteilt worden, dass die Verhaftungen in der Türkei "weder nachvollziehbar noch akzeptabel" seien, sagte ein Ministeriumssprecher in Berlin. Der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner und fünf Kollegen waren bei einem Workshop in Istanbul wegen Terrorverdachts festgenommen worden.
"Die Bundesregierung fordert die unverzügliche Freilassung von Peter Steudtner", betonte der Außenamtssprecher. "Vorwürfe über Verbindungen zu terroristischen Organisationen sind offensichtlich an den Haaren herbeigezogen." Regierungssprecher Steffen Seibert ergänzte: "Das ist eine ernste und auch eine traurige Situation im deutsch-türkischen Verhältnis." Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stehe in stetigem Kontakt mit Gabriel.
Ankara spricht von inakzeptablen deutschen Äußerungen
Das türkische Außenministerium erklärte am Donnerstag, die deutschen Äußerungen zur Festnahme von Menschenrechtsaktivisten seien nicht akzeptabel. "Das war eine direkte Einmischung in Angelegenheiten der türkischen Justiz." Zudem sei mit den von deutscher Seite gewählten Äußerungen eine Grenze überschritten worden.
Die türkische Staatsanwaltschaft wirft den Inhaftierten vor, eine "bewaffnete Terrororganisation" zu unterstützen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte sie zuvor in die Nähe von Putschisten gerückt. Seibert bezeichnete die Vorwürfe hingegen als den "durchschaubaren Versuch", Andersdenkende zu diskreditieren und zu kriminalisieren.
Deutsche Diplomaten sind offenbar der Überzeugung, dass die türkische Regierung inhaftierte Deutsche als Geiseln benutzt. Ankara wolle erreichen, dass die Bundesregierung diejenigen türkischen Staatsbürger an die Türkei ausliefert, die nach dem Putschversuch vor einem Jahr in Deutschland Asyl beantragt hatten, berichtet die "Bild"-Zeitung unter Berufung auf namentlich nicht genannte Quellen im Auswärtigen Amt.
Erdogan soll diskret Gefangenenaustausch angeboten haben
Erdogan habe der Bundesrepublik bereits vor Wochen diskret angeboten, den seit Mitte Februar inhaftierten "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel gegen zwei nach Deutschland geflüchtete Ex-Generäle der türkischen Armee auszutauschen, schreibt die "Bild" weiter. "Auf so einen Handel können wir uns natürlich nicht einlassen", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts dem Blatt.
Im Zusammenhang mit dem Putschversuch vor einem Jahr sind nach Erkenntnissen der Bundesregierung bislang 22 deutsche Staatsbürger in der Türkei festgenommen worden. Das geht aus einer Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Özcan Mutlu hervor. 13 Betroffene wurden demnach wieder auf freien Fuß gesetzt, neun seien weiter inhaftiert. Erst im Juni war gegen den Amnesty-Landesvorsitzenden in der Türkei, Taner Kilic, Untersuchungshaft verhängt worden. Auch der deutsch-türkische Journalist Yücel und die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu sitzen in der Türkei in Untersuchungshaft.
Zwei Amnesty-Vertretern wird Terror-Unterstützung unterstellt
Der Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International, Markus N. Beeko, sagte dem Tagesspiegel: Mit Idil Eser und Taner Kiliç von der türkischen Amnesty-Sektion seien zwei führende Amnesty-Vertreter eines Landes in Haft – "in der über 55-jährigen Geschichte von Amnesty International ein einmaliger Vorgang". Idil Eser und Taner Kiliç werde die Unterstützung terroristischer Vereinigungen unterstellt. "Diese Beschuldigungen sind absurd, vorgeschoben und entbehren jeder Grundlage."
Die türkische Regierung hat den deutschen Behörden eine weitere Liste mit angeblichen Terrorunterstützern übergeben, auf der sich erstmals auch deutsche Firmen befinden. Auf der Liste, die dem Bundeskriminalamt bereits vor mehreren Wochen übergeben wurde, stehen nach Informationen der "Zeit" die Namen von insgesamt 68 Unternehmen und Einzelpersonen. Darunter befinden sich unter anderem Daimler und BASF sowie ein Spätkauf-Imbiss oder eine Dönerbude in Nordrhein-Westfalen. Die genannten Unternehmen sollen Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen haben, die in der Türkei für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird.
Jörg Howe, Kommunikationschef von Daimler, sagte dem Tagesspiegel, das Unternehmen könne die Meldung nicht kommentieren, weil dem Unternehmen die Liste nicht vorliege. Auch BASF lehnte eine Stellungnahme ab. Das Chemieunternehmen beschäftigt rund 800 Mitarbeiter in der Türkei. Im Bundesverband der Industrie (BDI) hieß es, deutsche Unternehmen beobachteten die Situation vor Ort "sehr genau und mit immer größerer Sorge". Die Unternehmen benötigten ein "stabiles Umfeld, das immer mehr ins Wanken gerät". (mit dpa, AFP, Reuters)
Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.