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Fängt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gerade einen Feldzug gegen die Menschenrechte im Allgemeinen an?
© dpa

Festnahmen in der Türkei: Erdogan will den Menschenrechtsschutz demolieren

Mit der Inhaftierung von Amnesty-Vertretern blasen die türkischen Behörden zum Angriff auf mehr als unliebsame Aktivisten. Es geht ums Ganze. Was tut die Staatengemeinschaft? Ein Gastbeitrag des Generalsekretärs von Amnesty Deutschland.

Trotz aller Kenntnis über die Menschenrechtslage in der Türkei war es kaum vorstellbar: Am Dienstagmorgen wurde in einem Istanbuler Justizgebäude Untersuchungshaft gegen İdil Eser, die Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion, und fünf weitere Menschenrechtsverteidiger angeordnet. Nach der Inhaftierung von Taner Kılıç, dem ehrenamtlichen Vorstandsvorsitzenden der türkischen Amnesty-Sektion, am 6. Juni 2017 sitzen nunmehr zwei führende Amnesty-Vertreter eines Landes in Haft – in der über 55-jährigen Geschichte von Amnesty International ein einmaliger Vorgang.

Die Polizeioperationen fanden zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Orten statt, doch der Vorwurf ist ähnlich: İdil Eser und Taner Kılıç wird die Unterstützung terroristischer Vereinigungen unterstellt. Diese Beschuldigungen sind absurd, vorgeschoben und entbehren jeder Grundlage. Die Vorwürfe des Staatsanwaltes zeigen aber ebenso: İdil Eser werden auch friedliche, legale Menschenrechtsaktivitäten zur Last gelegt. Hierzu gehören unter anderem Projekte, die Amnesty vor ihrer Amtszeit unternahm. Die türkischen Behörden behandeln hiermit nicht nur die freie Meinungsäußerung und den friedlichen Einsatz für die Menschenrechte als Verbrechen, sondern blasen zum Angriff auf eine unabhängige, internationale Menschenrechtsorganisation.

Zusammen mit İdil Eser wurden neun weitere Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler festgenommen, unter ihnen Vertreter einiger der prominentesten Menschenrechtsorganisationen im Land. Es bleibt bittere Ironie, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Festnahme an einem Seminar unter anderem zu den Themen Trauma- und Stressbewältigung teilnahmen. Angeleitet wurde der Workshop von dem deutschen Menschenrechtstrainer Peter Steudtner und seinem Kollegen Ali Gharavi.

U-Haft kann Jahre dauern, sie ist Strafe ohne Prozess

Eser, Steudtner und vier weitere Teilnehmer befinden sich nun seit Dienstag in Untersuchungshaft. Diese kann in der Türkei bis zu fünf Jahre andauern, im schlimmsten Fall müssen die Betroffenen also fünf Jahre hinter Gittern verbringen, bis es überhaupt zu einem Prozess kommt. Dies kommt einer Strafe ohne Gerichtsverfahren gleich. Amnesty International fordert die sofortige und bedingungslose Freilassung von İdil Eser und den anderen inhaftierten Menschenrechtsverteidigern.

Doch an wen richtet sich diese Forderung? Die türkische Regierung geht seit längerem ungerührt und massiv gegen die Zivilgesellschaft vor. Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 wurden unter dem Generalverdacht des „Terrorismus“ landesweit Journalisten, Aktivisten, Akademiker und Angestellte des Öffentlichen Dienstes suspendiert oder festgenommen. Für die Türkei war der Putschversuch eine Zäsur, 249 Menschen verloren ihr Leben. Die Sicherung von Recht und Ordnung sowie die Pflicht, die für den Putschversuch und die damit verbundene Gewalt Verantwortlichen in fairen Verfahren zur Rechenschaft zu ziehen, waren eine vordringliche Aufgabe. Die türkischen Behörden nutzen den verhängten Ausnahmezustand jedoch auch dazu, kritische Stimmen, sei es im Parlament oder auf der Straße, zum Schweigen zu bringen und die Unabhängigkeit der Justiz auszuhebeln.

Die jüngsten Festnahmen von Menschenrechtsaktivisten in der Türkei drohen nun eine neue Runde im Kampf gegen die Menschenrechte einzuläuten. Sie bestätigen auf sehr konkrete Weise einen weltweiten Trend, den Amnesty International beobachtet: Regierungen schränken willkürlich Grund- und Freiheitsrechte ein, entmachten rechtsstaatliche Kontrollinstanzen und kriminalisieren systematisch friedlich aktive Bürgerinnen und Bürger sowie zivilgesellschaftliche Organisationen.

Die Tatsache, dass İdil Eser zudem die legale, international anerkannte Menschenrechtsarbeit von Amnesty International zur Last gelegt wird, macht deutlich, dass dieser Angriff auch dem internationalen Menschenrechtsschutz gilt.

Die Weltgemeinschaft ist gefragt – es geht um mehr als um die Türkei

In den vergangenen Tagen wurde mir immer wieder die Frage gestellt, wie Amnesty mit den Verhaftungen umgehe. Ob wir uns aus der Türkei zurückziehen. Amnesty International wird sich durch das Vorgehen der türkischen Behörden und Justiz nicht einschüchtern lassen. Die entscheidende Frage ist allerdings: Wie wollen die Regierungen der Welt auf diese Eskalation reagieren? Sehen sie weiter zu, wie nun auch Vertreter internationaler Organisationen willkürlich verhaftet werden? Zeigen sie den politischen Willen, jetzt konsequent Druck auf die türkische Regierung auszuüben? Wird die Forderung nach sofortiger und bedingungsloser Freilassung der Inhaftierten in den Mittelpunkt der vielfältigen bilateralen und internationalen Beziehungen gestellt?

Die Antwort auf diese Frage hat nicht nur Konsequenzen für İdil Eser, Taner Kılıç, Peter Steudtner und alle anderen willkürlich Inhaftierten in der Türkei. Die Reaktion wird auch genau beobachtet von autoritären Machthabern weltweit, die gleichermaßen gegen unliebsame Kritiker vorgehen wollen. Und von den unzähligen Menschen, die weltweit für ihre Rechte eintreten und dabei auf die Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen und der Staatengemeinschaft angewiesen sind.

Fast 70 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte droht ein großer zivilisatorischer Fortschritt zu erodieren. Jetzt ist es an der Zeit, sich entschlossen an die Seite derjenigen zu stellen, die sich für grundlegende Menschenrechte stark machen. In der Türkei und im Rest der Welt.

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