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Ein Jahr danach. Angela Merkel besuchte den Weihnachtsmarkt Anfang Dezember.
© BPA/Reuters

Anschlag in Berlin: Der Versuch, die Schwere abfallen zu lassen

Hinterbliebene und Opfer des Terroranschlags fordern mehr Unterstützung und Raum für Trauer. Der Jahrestag des Attentats ist entscheidend für sie.

Zwölf Opfer sind nicht weniger wert als 86 in Nizza. Als Astrid Passin im Juli in die südfranzösische Küstenstadt fuhr, um sich dort die nationale Gedenkveranstaltung ein Jahr nach dem Terroranschlag anzusehen, war der 44-Jährigen klar, dass sie sich so eine perfekte Organisation am französischen Nationalfeiertag auch in Berlin wünscht.

„Wir erleben die gleiche Trauer ohne Abstriche wie die Familien in Nizza“, sagt die Grafikdesignerin. Aber kann man in tiefem Respekt und Trauer um die ermordeten Menschen und die Schwerverletzten nach dem ersten islamistischen Anschlag in Deutschland gemeinsame Anteilnahme zeigen? Astrid Passin hofft es.

"Dieser Jahrestag ist entscheidend."

Einen Staatsakt wie nach den Anschlägen in Paris 2015 gab es in Deutschland nach dem 19. Dezember nicht. „Jetzt wird dieser Jahrestag für uns entscheidend sein, um die Schwere abfallen lassen zu können.“ Die Grafikdesignerin verlor bei dem Anschlag ihren Vater Klaus Jacob. Sie ist inzwischen so etwas wie die Sprecherin der Hinterbliebenen, die diese existenzielle Erfahrung teilen, einen oder mehrere Menschen durch einen Terroranschlag verloren zu haben. Die Familien kommen aus Deutschland, Israel, Polen, Italien, der Tschechischen Republik und der Ukraine.

Der Umgang der Behörden und der Politik mit den Hinterbliebenen der zwölf Toten und 66 Verletzten war, im besten Fall, ungeschickt. Im schlimmsten Fall unsensibel und herzlos. „Ja, das war so am Anfang“, sagt Astrid Passin. Drei Tage dauerte es bis zur Identifikation der Opfer. 72 Stunden Gefühle zwischen Hoffen, Bangen, Trauer, Ohnmacht und erneutem Hoffen.

Die Ermittlungsbehörden baten Angehörige um Zahnbürsten, Haarbürsten oder Einlegesohlen, um die DNA der Opfer abzugleichen. Darauf bestanden die Behörden. Beamte des Landeskriminalamtes durften überhaupt erst nach 36 Stunden Auskünfte erteilen, da das BKA eine Informationssperre verhängt hatte.

Und danach verschickte die Gerichtsmedizin Rechnungen für die Obduktion, und der Trauergottesdienst einen Tag nach dem Anschlag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche fand ohne die Angehörigen statt, dafür mit viel Politik und Bürgern. Für die Hinterbliebenen gab es keinen geschützten Raum, sich gemeinsam in Trauer und Anerkennung von den Opfern zu verabschieden. Das soll die Gedenkveranstaltung zum ersten Jahrestag am Dienstag leisten: Die interreligiöse Andacht in der Gedächtniskirche findet im nichtöffentlichen Rahmen statt.

Bei der anschließenden Gedenkveranstaltung im Abgeordnetenhaus sollen die Hinterbliebenen auch so weit wie möglich abgeschirmt werden. „Wir wollen nicht im Blitzlichtgewitter stehen. Jeder von uns braucht Raum und Zeit für sich“, betont Astrid Passin. Erst am Abend soll es mit den Berlinern zusammen eine gemeinsame Friedenskundgebung auf dem Breitscheidplatz geben. Die werden nicht alle Hinterbliebene besuchen wollen und können.

Was nützt die "Schockpauschale" nach dem Tod eines geliebten Menschen?

Die Monate nach dem Anschlag empfanden Angehörige und Opfer als Kränkung, als Demütigung durch Behörden und Politik. Hätten sie nicht Hilfe und Unterstützung vom ehrenamtlich arbeitenden Opferbeauftragten des Landes erhalten, „wäre alles komplett aus dem Ruder gelaufen“, sagt Astrid Passin.

Was nützt nach dem jähen, gewaltsamen Tod eines Menschen, der mitten im Leben gestanden hat, eine minimale Direkthilfe von 10 000 Euro, die „Schockpauschale“, wie sie Astrid Passin nennt? Die gesamte Summe bekommen auch nur die Angehörigen ersten Grades, die zweiten Grades erhalten 5000 Euro.

Rechtsanwalt Roland Weber sah die vielen Mängel, die Versäumnisse und forderte beim Bund einen Opferbeauftragten. Die Bundesregierung setzte Kurt Beck, den früheren Ministerpräsidenten aus Rheinland-Pfalz, ein. Es war SPD-Politiker Beck, der die Anliegen, die Wünsche und Forderungen der Angehörigen zur Bundesregierung trug und sich dort auch Gehör verschaffte. Anders als die Opfer es selbst tun konnten oder sollten.

„Bisher wurde man da echt nur abgelehnt. Man sucht nicht das Gespräch mit den Hinterbliebenen. Weil es vielleicht für die Politiker zu unbequem ist“, erzählte Sascha Klösters kürzlich im ZDF. Der 41-jährige Pilot aus Neuss überlebte den Anschlag selbst schwerverletzt. Seine Mutter Angelika Klösters, die wenige Minuten vor dem Attentat um 20.02 Uhr Glühwein mit ihrem Sohn auf dem Breitscheidplatz trank, kam bei dem Attentat ums Leben.

Am Montag trafen sich mehr als 80 Menschen, Opfer und Hinterbliebene des Terroranschlags mit der Bundeskanzlerin. „Mir ist wichtig, dass ich heute noch einmal deutlich mache, wie sehr wir mit den Angehörigen, mit den Verletzten fühlen“, sagte Angela Merkel gestern vor der Begegnung. Das Treffen sei ihr „sehr wichtig“. Die Lage von Anschlagsopfern sollte „mit aller Kraft“ verbessert werden.

Kleine Schritte für einen besseren Opferschutz

Diese Geste kommt für die Hinterbliebenen sehr spät. Ebenso wie die geplante, zentrale Anlaufstelle für Angehörige und Terroropfer, genauso wie eine deutlich höhere Entschädigung oder die vorläufige Identifizierung, die in Zukunft ermöglicht werden soll, um den Angehörigen eine schnelle Orientierung geben zu können.

In einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin zählten die Hinterbliebenen und Opfer des Terroranschlags nicht nur alle Missstände im Umgang mit ihnen auf. Sie kritisierten überdies auch die „mangelhafte Anti-Terror-Arbeit“ in Deutschland. In einer Zeit, in der die Bedrohung durch islamistische Gefährder deutlich zugenommen habe, habe die Kanzlerin es versäumt, „die Reformierung der wirren behördlichen Strukturen für die Bekämpfung dieser Gefahren voranzutreiben“.

Es sollte alles getan werden, künftige Anschläge zu verhindern. „Die einfache Fortschreibung des aktuellen Versagens der Bundesrepublik ist unverantwortlich.“

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