Doku zum Anschlag am Breitscheidplatz: Als der Terror nach Berlin kam
Eine ARD-Doku bringt die Perspektive der Opfer vom Breitscheidplatz mit den Versäumnissen der Behörden zusammen. Sie liefert auch Hinweise, dass Attentäter Anis Amri nicht allein gehandelt haben könnte.
Die RBB-Lounge ist ein heiterer Ort. Hoch oben im Sendegebäude an der Masurenallee in Berlin gibt es Cocktails, kleine Speisen und einen fantastischen Blick über die Stadt. Doch all das verblasst, als die Fernsehleute den ARD-Film „Der Anschlag – Als der Terror nach Berlin kam“ vorstellen. Kurz vor dem 19. Dezember, dem ersten Jahrestag des Angriffs von Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, hat ein Rechercheteam von RBB und „Berliner Morgenpost“ den vielschichtigen Horror dieser Geschichte zusammengefasst.
Dabei wollen sie auch Hinweise dafür gefunden haben, dass Anis Amri offenbar nicht als Einzeltäter, sondern womöglich auf Anweisung von Predigern einer Dschihadistenzelle aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen gehandelt hat. Laut einem Vermerk des Landeskriminalamtes (LKA) NRW vom April dieses Jahres hatte Amri bereits über Weihnachten 2015 eine etwa 30-minütige konspirative "Privataudienz" bei dem als Abu Walaa bekannten Prediger Ahmad A., der sich wegen des Verdachts der Unterstützung der Terrormiliz "Islamischer Staat" zurzeit vor dem Oberlandesgericht Celle verantworten muss. Amri habe den Prediger offenbar unbedingt persönlich sprechen wollen und eine "exklusive Beziehung" zu ihm unterhalten. Weiter heißt es in dem Vermerk: "Aus heutiger Sicht kann es sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit nur um die 'religiöse' Legitimierung von Anschlägen gehandelt haben."
Bei der Dokumentation geht es nicht nur um den Anschlag an sich, bei dem zwölf Menschen starben und ungefähr 70 verletzt wurden, sondern auch und gerade darum, was die Sicherheitsbehörden vor der Tat versäumt haben - und wie bei Angehörigen von Ermordeten die Trauer durch Wut noch schmerzhafter wird.
Astrid Passin, die Sprecherin der Familien der Mordopfer, und eine Freundin sind zur Preview in die Lounge gekommen. Passin hat ihren Vater bei dem Terrorangriff verloren, die Freundin, die sich nicht mit Nachnamen vorstellt, ihre Mutter. Im Film ist zunächst der Breitscheidplatz zu sehen, wie vor einem Jahr sind Weihnachtsbuden aufgebaut. Passin steht da vor einem mit bunten Kugeln geschmückten Tannenbaum. Sie ringt mit der Fassung, im Film und in der Lounge, als sie den Ort des Geschehens und sich selbst dort sieht. „Ich will gesichert haben, wer der Verantwortliche ist“, sagt Passin im Film, „um innere Ruhe zu finden, wenn das überhaupt jemals möglich sein kann“. Beim Termin in der Lounge ist die Frau schon früh unruhig. Zwanzig Minuten nach Beginn des Films hält sie es nicht mehr aus. Die Freundin, selbst emotional stark belastet, tröstet sie. Doch Passin verlässt den Raum. Erst nach einer Viertelstunde hat sie die Kraft, zurückzukommen und sich den Rest anzuschauen.
Harter Stoff
Der Film ist harter Stoff. Amri ist mit einem Messer und mit einer Pistole zu sehen. Die Bilder aus einem Handy des Tunesiers, das die Polizei ihm im Februar 2016 in Berlin wegnahm, wurden erst jetzt im November bekannt. Das Landeskriminalamt schickte das Mobiltelefon zur Auswertung den Kollegen in Nordrhein-Westfalen, wo Amri als Flüchtling registriert war. Das LKA in Düsseldorf übersah jedoch die brisanten Bilddateien. Eine womöglich fatale Panne – die Pistole könnte die Waffe gewesen sein, mit der Amri am Tag des Anschlags den polnischen Lkw-Fahrer Lukasz Urban erschoss, um dessen Truck für die Todesfahrt über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz zu kapern.
Im Film wird Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt zu den Handybildern interviewt. Er gibt sich gelassen. Solche Menschen würden sich „gerne mit Waffen in Pose setzen“, das sei nichts Überraschendes, sagt Kandt. Es ist nicht die einzige Äußerung von ihm, die in Kontext des Anschlags zumindest makaber erscheint.
Es fehlte nicht an Warnungen
Im Film wird erwähnt, dass ein marokkanischer Geheimdienst im Herbst 2016 vor Amri warnte. Der hetze gegen Deutschland und führe „ein Projekt aus“. Ein Sicherheitsexperte, der einst im GTAZ saß, dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum von 40 Sicherheitsbehörden in Berlin, sagt im Film anonym aus, die Information hätte „höchste Alarmstufe auslösen müssen“. Kandt hingegen bleibt im RBB-Interview locker, „,Projekt’ ist sehr unspezifisch“. Ein Stichwort wie ,Projekt’ könne sich „in banale Alltäglichkeiten auflösen“.
Astrid Passin ärgert sich nach dem Film über „die lasche Art“, in der Kandt sich äußere. „Ich kann es nicht glauben“, sagt die Frau, „er ist für mich nur ein Mann, der es verdient, nicht mehr dort zu sein im Amt“. Die Verbitterung erinnert an die Wut der Hinterbliebenden der zehn Menschen, die von den NSU-Mördern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen wurden. In beiden Fällen fühlen sich die Angehörigen vom Staat nicht ernst genommen.
Dem RBB ist, wenn man das so sagen kann, ein bedrückender Film gelungen. Er verbindet die leidgetriebene Opferperspektive mit der Darstellung der Fehler und sonstigen Merkwürdigkeiten bei Behörden. So dicht es geht.
„Der Anschlag - Als der Terror nach Berlin kam“, ARD, Montag, 22 Uhr 45, RBB, Dienstag (19. 12.) , 21 Uhr