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Der Anschlag. Viele Angehörige sprechen nur von "dem Montag", wenn sie über den 19. Dezember 2016 reden.
© imago/Olaf Wagner

Ein Jahr Anschlag am Breitscheidplatz: Die Zerreißprobe

Das erste Jahr gilt als Trauerjahr. Aber im Kern sind die zwölf Monate nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz eine Prüfung. Für die Hinterbliebenen, die Verletzten. Für die Behörden und das Land.

Nach großen Erschütterungen sind es oft die kleinen Entscheidungen, die sich der Sache gewachsen zeigen. Vor die Frage gestellt: Was ist zu tun?, hat die City AG Anfang Januar ganz praktisch erst einmal einen Gärtner beauftragt – Jörg Nöthe, Frühaufsteher, zwei Töchter, 52 Jahre alt –, damit er sich fortan um die wilden Kerzeninseln kümmere. Nöthe ist angewiesen, alles Verwehte wieder zurechtzurücken und die Blumen zu entfernen, wenn sie schäbig und verblüht aussehen. Man will ja keinen Kompost züchten auf dem Breitscheidplatz. Nöthe, Gärtner der Erinnerungslandschaft, kommt anfangs täglich, das ist der Auftrag.

Man wird die inoffizielle Gedenkstelle nicht irgendwann abräumen, ein ganzes Jahr lang nicht. Man stellt stattdessen einen Gärtner ein, um sie zu pflegen.

Jörg Nöthe, selbst eine aufgeräumte Natur, sammelt also die Zigarettenstummel ein, die der Wind zwischen die Kerzen weht. Er trennt den organischen Müll von LED-Kerzen und Wachs. Das eine fährt er auf den Kompost, das andere zur BSR in die Gradestraße. Damit ist im Januar 2017, nur vier Wochen nach dem Anschlag, der Gärtner Jörg Nöthe einer der wenigen, die wissen, wo sie ihre Last abladen können.

Der Moment verhält sich zum Leben wie der Punkt zur Linie. Kann ein einzelner Punkt die ganze Linie verändern? Am 19. Dezember 2016 fährt um 20.02 Uhr ein islamistischer Attentäter, dessen Name schon zu oft genannt wurde, mit einem gestohlenen Lkw am Breitscheidplatz auf den Weihnachtsmarkt. Zwölf Menschen sterben, mehr als 60 werden verletzt.

Ein Jahr lang haben seitdem verschiedene Menschen versucht, mit der Sache ins Reine zu kommen. Sie haben versucht, mit der Trauer umzugehen, Verletzte versorgt, Anträge geschrieben und geholfen, Anträge zu schreiben. Sie haben Wut ausgedrückt, sie haben gespendet, gepredigt, geplant, ermittelt und aufgeräumt. Das Jahr hat ihr Leben verändert. Je nachdem versuchen sie Abstand zu gewinnen oder besonders genau hinzusehen. Das erste Jahr gilt als Trauerjahr. Aber im Kern ist dieses Jahr eine Prüfung. Für die Hinterbliebenen, die Verletzten. Für die Behörden und die Stadt Berlin. Es ist eine Probe auf Charakter, Zusammenhalt und Menschlichkeit.

Sie reden vom Montag, Dienstag, Mittwoch, als hätte es danach keine mehr gegeben

Es sind trotz allem, sagt Frederike Herrlich, auch viele gute Dinge passiert. Trotz allem, was auf himmelschreiende Weise schiefgelaufen ist, ist sie bereit, die zu sehen. Nein, sie ist wild entschlossen. Schon um nicht zu verzweifeln. Frederike Herrlich hat 40 Jahre in einer ganzheitlichen Apotheke gearbeitet.

Sie hat sich mit der wohltuenden Wirkung von Farben beschäftigt, sie hat über zehn Jahre mit Jugendlichen gearbeitet und Friedensarbeit gemacht. Es müssen doch Schlüsse zu ziehen sein!

Frederike Herrlich zog im Februar 2016 auch deshalb aus Bremen nach Ueckermünde an der Ostsee, um ihrem Sohn Christoph näher zu sein, der in Berlin lebte. Mit dem Zug drei Stunden von Tür zu Tür. Christoph half beim Umzug. Aber der Sohn lebt nun nicht mehr in Berlin. Er lebt überhaupt nicht mehr. Er ist einer der zwölf Menschen, die am Breitscheidplatz gestorben sind.

Wenn Frederike Herrlich in Ueckermünde aus dem Zug steigt, füllen sich ihre Lungen mit frischer Luft. Wenige Minuten Fußmarsch vom Bahnhof liegt im Schatten des Kirchturms ihre Wohnung. Sie hat, mit dem Abstand von fast einem Jahr zu dem Geschehen, in ihrer Küche einen Ingwer-Orangentee gemacht. Und alles ist präsent wie gestern.

„Am Montag …“, beginnt Frederike Herrlich.

So sprechen sie alle, die in irgendeiner Form betroffen waren. Sie reden vom Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag, als hätte es danach keine mehr gegeben.

Am Montag, am Abend also, schaut sie fern und sieht die Bilder, die nun jeder kennt und keiner mehr sehen kann. Dienstagnachmittag ruft ihr zweiter Sohn aus New York an: keine guten Nachrichten. Christoph war mit Sicherheit auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Ihr zuverlässiger Christoph, der sich jetzt nicht mehr meldet! Da packt sie ihre Koffer und fährt nach Berlin. Ein Freund weiß, wer Ersatzschlüssel für seine Wohnung hat, und dahin trägt sie dann ihre Hoffnung, dass er sich unter Schock zurückgezogen haben möge. Aber nein.

An diesem Abend sitzt die Politik für den Fernsehgottesdienst in der Kirche am Breitscheidplatz zusammen, Angela Merkel in der ersten Reihe, „da ist Christoph noch vermisst“, sie selbst in Angst. Es ist ihr nicht möglich, quasi rückwirkend zu empfinden, dass dieser Gottesdienst auch ihr gegolten haben soll. Es ist noch immer dieser Dienstag, nach 21 Uhr, als sie, Nähe Südstern, auf die nächste Polizeiwache geht.

Und das, sagt sie, könne sie nur jedem raten. Statt in Telefonschleifen vertröstet zu werden: Menschen ansprechen. Direkt. Dort habe man sich wirklich um sie gekümmert.

Am Mittwoch bittet das LKA um Zugang zur Wohnung, nimmt eine Einlegesohle und eine Zahnbürste mit.

Man muss sich die Hinterbliebenen als Gruppe vorstellen

Die Mutter. Frederike Herrlich verlor bei dem Anschlag ihren Sohn
Die Mutter. Frederike Herrlich verlor bei dem Anschlag ihren Sohn
© Deike Diening

Obwohl Christoph Herrlich wie die meisten der Opfer seinen Personalausweis bei sich trug, hat man die Angehörigen in den Telefonschleifen der Sammelnummern hängen und von Krankenhaus zu Krankenhaus laufen lassen. Sie hätten ihre Toten längst identifizieren können. Aber es wurde eine Informationssperre verhängt und auf einem DNA-Abgleich bestanden.

Es ist inzwischen Donnerstag, und Frederike Herrlich findet das Wort „liebevoll“ für die Frau, die ihr die Todesnachricht persönlich überbringt. Sie kommt ihr nur noch vor wie die amtliche Bestätigung ihres eigenen Gefühls.

„Sind Sie religiös?“, fragt die Beamtin Sommer vom LKA.

„Ja“, sagt Frederike Herrlich.

Anders, sagt die Polizistin, könne sie sich ihre Gefasstheit auch nicht erklären.

Sommer lädt sie ein zum Weihnachtsgottesdienst der Polizisten in der Kirche am Breitscheidplatz. Und, das sollte ihr später am meisten helfen, Frederike Herrlich lernt dort Astrid Passin kennen, die bei dem Attentat ihren Vater verlor.

In jenen ersten Wochen fehlt es vor allem an Ansprechpartnern, die Verständnis haben oder wissen, was zu tun ist. Es gibt keine zentrale Anlaufstelle und keinen Kontakt untereinander. Herrlich und Passin telefonieren lange und freunden sich an.

Im Februar lädt der damalige Bundespräsident Joachim Gauck die Hinterbliebenen ein. Und nicht nur das. Sein Büro hat die Idee, am Abend zuvor ein Treffen anzubieten, damit sie sich schon einmal untereinander kennenlernen können. Der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber ist auch eingeladen. Die Resonanz ist überwältigend. Sie sitzen ab fünf Uhr am Nachmittag zusammen und um Mitternacht gehen sie nur, weil am nächsten Tag der Besuch im Schloss ansteht.

Der Druck ist dann erst mal weg. Beim Bundespräsidenten können sie gleich richtig sprechen. Gauck, heißt es, habe in seiner Menschlichkeit alle unter seine Fittiche genommen. Es fühlt sich an wie eine Umarmung.

Gibt es denn auch, fragt Frederike Herrlich, die neben Gauck zu sitzen kommt, jemanden, der sich in dieser Art um die Verletzten kümmert? Dass sie sich in ihrer Situation noch um das Schicksal der anderen sorgen kann!, sagt Gauck anerkennend. Tatsächlich wird man später im Mai die Verletzten und ihre Angehörigen ins Rote Rathaus laden.

Fortan muss man sich die Hinterbliebenen als Gruppe vorstellen, als WhatsApp- Gruppe. Die Hinterbliebenen von Lukasz Urban, Sebastian Berlin, Klaus Jacob, Dorit Krebs, Angelika Klösters, Dalia Elyakim, Fabrizia Di Lorenzo, Dr. Christoph Herrlich, Nad’a Miwmár, Peter Völker und Anna und Georgiy Bagratuni teilen eine existenzielle Erfahrung. Sie kommen aus Italien, Deutschland, Israel, Polen, der Tschechischen Republik und der Ukraine und haben nur die Tatsache gemein, dass sie einen Menschen verloren haben. Es ist auch deshalb im Kern eine Selbsthilfegruppe, weil ihnen sonst so wenig geholfen wird. Kaum jemand kommt auf sie zu. Sie schicken einander Zeitungsartikel, Ermittlungsergebnisse, Hinweise für Anträge und die Namen von Hilfsorganisationen, die einspringen, solange vom Staat nichts kommt. Es gibt ja keine zentrale Anlaufstelle für Informationen.

Der Chat, den sie im Februar beginnen, wird nicht abreißen. Im Rückblick sagt Frederike Herrlich: Wahrscheinlich war dieser Zusammenschluss in der Gruppe die größte Hilfe für alle. Von da an hatten sie wenigstens einander.

Frederike Herrlich hat den anderen die Opferhilfe „Weißer Ring“ empfohlen. Immer wieder kommen Formulare. Ein Polizistenehepaar aus Ueckermünde unterstützt sie mit den Anträgen. Die Verkehrsopferhilfe verlangt präzise Angaben, damit „Abschläge“ auf Kosten gezahlt werden können. Herrlich schnaubt. Wenn sie schon das Wort „Abschläge“ hört. Abschläge sind auch Schläge. Für eine Beerdigung gibt es 1700 Euro pauschal.

Als Frederike Herrlich feststellen muss, dass sie nicht mehr in der Lage ist, das Gemüse im Kühlschrank zu einem Essen zu kombinieren, ist sie sehr dankbar für die Hilfe ihrer Monika, die ihr von einer ambulanten Traumahilfe geschickt wird. Vier Monate lang, anfangs dreimal, später zweimal die Woche sieht sie nach ihr. Sie ist auch dankbar für die örtlichen Rotarier, die ihr helfen. Gerade fand sie eine Spende des Deutschen Roten Kreuzes auf ihrem Konto. Aber die Hilfen wirken erratisch, abhängig vom Zufall. Informationen muss sich jeder selbst suchen.

Es ist zwar der erste große islamistische Anschlag in Deutschland, aber sofort steht er im Vergleich. Vor allem zu dem Anschlag auf der Promenade in Nizza, bei dem 86 Menschen ebenfalls mit einem Lkw getötet wurden.

Nizza ist jetzt der Vergleich

Astrid Passin, die auf dem Breitscheidplatz ihren Vater verliert und inzwischen so etwas wie die Sprecherin der Hinterbliebenen ist, fährt im Juli nach Nizza, um sich dort das Gedenken ein Jahr danach anzusehen. Sie erfährt eine perfekte Organisation am französischen Nationalfeiertag, Emmanuel Macron ist da, Flugzeuge malen mit ihren Kondensstreifen die Farben Blau-Weiß-Rot in den Himmel. Es ist überwältigend. Eine Feier Frankreichs und seiner Werte. Am Ende nimmt jeder ein Kunststoffquadrat mit heim, auf dem aus einem fortlaufenden Namensband der Opfer ein Herz geformt ist. Sie schickt Tatjana Kaube in der Berliner Senatskanzlei, die den Kontakt zu den Angehörigen und Hinterbliebenen hält, Fotos: So kann Gedenken auch gehen.

Das ist jetzt der Vergleich. Und gleichzeitig in seinem Pomp in Deutschland undenkbar.

Tatjana Kaube, Referentin Kultur und Sport, erkennt mit ihrer zugewandten Ernsthaftigkeit das Bedürfnis, sich auszutauschen. Angehörige senden Fotos von Gedenkorten in Israel. Die Betreuung der Gruppe nimmt einen viel größeren Teil ihrer Arbeit ein als geplant. Gleichzeitig ist sie froh darüber, denn jeder Kontakt ist eine Möglichkeit, wenigstens an einer Stelle Vertrauen wiederherzustellen.

Zugleich kommen immer neue Ermittlungspannen ans Licht – und der Versuch, sie zu vertuschen. Ein Untersuchungsausschuss nimmt die Arbeit auf. Während der Berliner Sonderermittler Bruno Jost versucht, Klarheit in die Vorgeschichte zu bringen, nagt an den Hinterbliebenen der Zweifel: Womöglich haben sie gar nicht den unvermeidbaren „Preis der Freiheit“ gezahlt, sondern den vermeidbaren Preis für Behördenversagen?

Ihre Trauer wird in das Amalgam der Stadt eingehen

Die Vorarbeiten. Damit alles zum Jahrestag fertig wird, macht das Betonwerk für die Treppenstufen Überstunden.
Die Vorarbeiten. Damit alles zum Jahrestag fertig wird, macht das Betonwerk für die Treppenstufen Überstunden.
© dpa

Im Sommer liegen in den Krankenhäusern noch immer Verletzte. Kümmert sich Pfarrer Martin Germer von der Kirche am Breitscheidplatz um Gesten der Versöhnung. Bearbeiten die Behörden Anträge. Die Senatskanzlei lädt zu einem Wettbewerb für eine Gedenkstelle, die am Jahrestag eröffnet werden soll, und Architekten suchen nach einem ästhetischen Symbol.

Jörg Nöthe, der Gärtner, erlebt am Breitscheidplatz den ganz normalen touristischen Wahnsinn. Das Pokalendspiel mit den Dortmund-Fans. Den Kirchentag. Allen liegt daran, ihre Anteilnahme auszudrücken. Kränze werden niedergelegt und Blumen. Als Kritzeleien auf den weißen Holzkreuzen auftauchen, überpinselt er sie schnell. Und weil ab August zwei Buchsbaumkugeln die Kerzen flankieren, muss er von nun an auch gießen.

Am 12. September fährt Frederike Herrlich zu Astrid Passin nach Berlin. Die beiden sitzen als Vertreter der Hinterbliebenen beim Preisgericht als Berater ohne Stimmrecht: Sieben Entwürfe für die Gedenkstelle stehen zur Auswahl. Und dann geschieht ein kleines Wunder: Allen Beteiligten erscheint eine Lösung sofort als die richtige, bei dem Entwurf kommen ihnen die Tränen. Mit all seiner Zurückhaltung entwickelt er die größte emotionale Wucht. Eindeutig, sagen sie.

Das Werk ist ein mit Bronze verfüllter Riss, der auf 17 Metern Länge den Boden durchläuft und golden schimmert. Besonders gefällt ihnen aber, dass die Namen der Opfer nicht sortiert auf einer Liste stehen, sondern weit verteilt in die Trittstufen zur Kirche hinauf eingefügt werden. So kann man vor jeder Person einzeln stehen bleiben wie vor einem persönlichen Grab.

Asche zu Asche, Kupfer zu Gold. Der Kunstschmied Michael Hammers, der auch das Kreuz an der Golgatha-Kirche in Jerusalem entworfen hat, wird am Jahrestag, dem 19. 12. 2017, einen portablen Schmelzofen dabeihaben, in dem er für das letzte Stück des Risses die Kupfer-Zinn-Legierung auf 1100 Grad erhitzt. Sie, die Hinterbliebenen, werden in die flüssige Bronze einen symbolischen Anteil von 22-karätigem Gold hineinrieseln lassen und damit das Werk vollenden. Das ist jetzt keine abstrakte Wiedergutmachung mehr. Ihre Trauer wird damit in das Amalgam der Stadt eingehen.

Am 17. Oktober werden im Roten Rathaus die Entwürfe Journalisten vorgestellt. Es ist, sagt Pablo von Frankenberg, der Abgesandte des Architekturbüros merzmerz+, mit dem Terroranschlag ein Riss durch die Gesellschaft gegangen. „Diesen Riss heilen wir.“

Heilung. Das ist ein erstaunliches Wort und eine erstaunliche Aufgabe für einen Gedenkort. Wurde dieses Wort jemals in so einem Zusammenhang gebraucht?

Doch kein Raunen im Saal. „Der Riss“, im Durchschnitt drei Zentimeter tief und drei Zentimeter breit, würde verfüllt mit einer Bronzelegierung, 88 Prozent Kupfer, zwölf Prozent Zinn. Er verläuft fast von der Straße die Stufen hoch Richtung Kirche.

Der Gedenkort ist in Kunstwerk mit großer Aufgabe: Es soll Wunden heilen.
Der Gedenkort ist in Kunstwerk mit großer Aufgabe: Es soll Wunden heilen.
© dpa

Würdig sollte es sein, das war der Arbeitsauftrag. Würdiger als die unnötig lange, quälende Identifizierung. Würdiger als die noch eilig vor Weihnachten an die Angehörigen herausgeschickten Rechnungen der Gerichtsmedizin mit der Androhung eines Inkassounternehmens. Würdiger als das späte Kondolenzschreiben Michael Müllers nach zwei Monaten. Würdiger als das komplett fehlende Kondolenzschreiben der Bundeskanzlerin. Inzwischen haben die Hinterbliebenen einen offenen Brief an Angela Merkel geschrieben, der alle diese Versäumnisse auflistet.

Kann man alldem etwas entgegensetzen?

Der Senat will nun nichts mehr falsch machen

Es ist, als hätte die Senatskanzlei beschlossen, an diesem Gedenkort nichts mehr falsch zu machen, als habe sie die Stelle gefunden, an der zumindest teilweise wieder gerichtet werden kann, was zuvor schieflief. Hier sollen die Opfer im Mittelpunkt stehen. Details der Zeremonie dürfen die Hinterblieben mitbestimmen.

Beim Architekturbüro heißt es, alle Beteiligten ziehen auf bemerkenswerte Weise an einem Strang. Die Kirche kooperiert, der Senat, und im Betonwerk, das die Stufen mit den Namen der Todesopfer herstellt, schieben sie Überstunden.

Die Architekten haben sich für ihren „Riss“ an der japanischen Kintsugi-Technik orientiert. Dabei wird gebrochene Keramik mit Gold wieder zusammengefügt. Beschädigungen, heißt das, werden nicht geleugnet oder verdrängt, sondern mit kostbarem Material besonders sichtbar gemacht. Es ist auch eine Metapher für den Umgang mit Verwundbarkeit.

Im November liegt ein Steinmetz in einem kleinen Bauzelt vier Tage auf den Knien und fräst den „Riss“ in den Berliner Boden. Geplante Heilung mit Mitteln der Kunst. Zugleich ersteht ringsherum der Weihnachtsmarkt wieder auf.

Als Peter Müller, Schausteller vierter Generation,  die erste Fuhre für seine Verkaufsbude auf den Platz lenkt, da will er gleich wieder umkehren. Obwohl, das ist ja Quatsch. Er weiß, dass der Anschlag nichts mit ihm, nichts mit dem Breitscheidplatz, nicht einmal mit dem Genre „Weihnachtsmarkt“ zu tun hat. „Sie tun es überall.“ Attentäter fahren in Menschenmengen, auf einer Brücke in London und einer Promenade in Nizza. Müller will sich nicht so einem irrationalen Impuls ausliefern. Aber Müller hat auch nicht gefallen, was in dem Jahr nach dem Anschlag kam.

Deutschland gilt als Behördenmonster. Wegen eines rechtsgeschichtlichen Zufalls sind die Terroropfer, denen mit einem Lastwagen als Waffe Gewalt angetan wird, von den Leistungen des Opferentschädigungsgesetzes ausgenommen. Für sie greift die Verkehrsopferhilfe, eingerichtet schon in den 60er Jahren, als die frühen Opfer von Fahrerflucht Hilfe brauchten. Erst danach entstand das Opferentschädigungsgesetz, das Schäden durch Fahrzeuge ausnimmt, weil für die ja schon gesorgt war.

Das Behördenmonster hob sein Haupt. Sie waren doch keine Verkehrsopfer!

Die Kategorien der Versicherungswirtschaft schienen die Kategorien des Menschlichen zu verspotten. Seine Bude, stellte man nach Art der Versicherungen fest, sei doch schon neun Jahre alt, da würde Peter Müller jetzt nur die Hälfte des Wertes ersetzt kriegen. 50 Prozent! Müller strengte eine Klage an.

Man darf Rechtsgeschichte natürlich nicht persönlich nehmen. Aber ihm war, als würde er von einem Formular verhöhnt. Müller ist ein freundlicher Mensch, aber nun ist er empört. Darüber, dass er wie alle Schausteller am Breitscheidplatz in diesem Jahr 20 Prozent höhere Standgebühren zahlen muss. Wegen der Sicherheit. Der Staat kann doch den Schutz vor Terror, der dem Staat gilt, nicht an private Bürger delegieren, die gebrannte Mandeln verkaufen!

Anfangs hat sich Roland Weber sehr gewundert, warum sich die Wut in diesem Fall so sehr gegen den Staat richtet. Im Laufe des Jahres wird ihm das klar.

„Am Montag“ – auch er spricht, als gäbe es nur diesen – hört Berlins ehrenamtlicher Opferbeauftragte abends in einem Paderborner

Hotel von dem Anschlag. Er fährt nach Berlin, „in dem Glauben, dass am nächsten Tag das Telefon klingeln würde. Aber: nichts.“ Es sind die ersten Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. „Die Opfer wussten nichts.“ Die Informationskette war irgendwo abgerissen, zwischen LKA, BKA und ihm.

„Herr Behrendt“, fragt er den neuen Justizsenator. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich aktiv auf die Opfer zugehe?“

So etwas war bislang nicht vorgesehen.

Machen Sie das, natürlich, sagte Behrendt, aber mit Daten helfen könne er nicht. Es stellt sich heraus, dass es kein Programm gibt, mit dem Opfer und Angehörige zentral erfasst werden. „Ja, wie machen Sie denn das?“, fragt Weber das LKA. „Wir schicken Funkwagen von Krankenhaus zu Krankenhaus, die nehmen handschriftlich die Daten auf.“

Es ist alles ziemlich unglaublich. Erst ab Anfang Januar sitzen dann fast alle irgendwann einmal in diesem Besprechungszimmer im ersten Stock von Webers Kanzlei in der Zimmerstraße. Der Rechtsanwalt ist seit 15 Jahren auf Gewaltopfer spezialisiert und seit 2012 Opferbeauftragter der Stadt. Er ist ein analytischer Mensch, der mit der Klarheit eines Juristen blitzschnell die Dinge ins Verhältnis setzen kann. Seine Stärke ist es, durch die Summe seiner Fälle strukturelle Defizite in der Hilfe zu entdecken. Auf die macht er den Senat aufmerksam. Aber um Dinge zu ändern, die schon geschehen sind, ist auch das zu langsam.

Weber erlebt das Jahr als eine steile Lernkurve. Er hat von seinen Anliegen 2017 so viele durchsetzen können wie nie zuvor.

„Im Februar war klar: Wir müssen einen Opferbeauftragten beim Bund beantragen: Das sind ja Stellvertreteropfer!“

Weber, der ja nur ehrenamtlich arbeitet, genießt es, dass er mit Kurt Beck Unterstützung bekommt. Im Sommer beschließt Berlin, was Weber schon lange angemahnt hatte: Es solle eine zentrale Stelle für Gewaltopfer bei der Senatsverwaltung für Justiz geben. Dafür werden nun Stellen ausgeschrieben, vier Leute, die die Koordination übernehmen, sollte eintreten, was sie eine „Großschadenslage“ nennen. Damit die Versehrten nicht wieder anonym in Krankenhäusern und der Gerichtsmedizin verschwinden. „Polizisten sollten nicht mit dem Blöckchen von Klinik zu Klinik fahren müssen.“

Weber hat es sonst vor allem mit Kriminalitätsopfern zu tun. Hier aber war ja keines der Opfer einzeln gemeint, jedes hatte es zufällig erwischt. Weber kann nicht sagen, ob für die Angehörigen ein Verlust schlimmer oder weniger schlimm ist, wenn der Mensch persönlich gemeint gewesen ist. Aber er kann sagen, dass sich bei seinen anderen Opfern die Wut nie gegen den Staat richtet, sondern immer auf den Täter. Nun wird über die unzureichenden Entschädigungen diskutiert. Weber glaubt, dass die Opferhilfen erhöht werden müssten. Dann aber für alle Gewaltopfer.

Denn wie ließe sich sonst rechtfertigen, dass ein Terroropfer eine höhere Entschädigung erhält als derjenige, der in einen Banküberfall hineingerät? Mit welcher Begründung wäre der eine Tod „mehr wert“ als der andere?

„Weil wir Stellvertreter sind“, hört er seit einem Jahr von den Hinterbliebenen. Weil der Attentäter den Staat, die Politik und Lebensweise dieses freiheitlichen Landes angreifen wollte. Wenn der Staat diesen Kampf aber in mindestens zwölf Fällen verloren hat, dann muss er auch entschädigen. Indem der Staat erklärt, das eigentliche Ziel gewesen zu sein, sei er in der Pflicht.

Da sitzt das Scharnier. Aus dieser Logik erwächst die Erwartungshaltung, erwachsen Ansprüche – und die Wut. Weber sagt es nicht so, aber nach dieser Lesart wären die Opfer vom Breitscheidplatz Tote und Veteranen eines neuen, dezentralen Krieges, gefallen an einer Front, an der wir alle stehen. Mit unserer Lebensweise, unserem Staatswesen, unserer Freiheit.

Christoph Herrlich hatte mit seiner Freiheit in diesem Staat etwas anzufangen gewusst. Am Wohnzimmerschrank seiner Mutter in Ueckermünde hängt exakt auf Augenhöhe ein Bild von ihrem Sohn. Es war bloß ein Bewerbungsfoto, aber Christoph strahlt. Sie hat ihr Bügelbrett davorgestellt, damit sie ihn beim Wäschemachen immer vor Augen hat. Oder ist es so, dass sie seinem offenen, direkten Blick besser standhalten kann, wenn sie dabei bügelt?

Christoph. Im letzten Jahr war er vor Weihnachten noch zur Aufführung ihres Kirchenchors nach Ueckermünde gekommen. Er hatte nach dem Konzert ihre Chorkollegen kennengelernt, und Frederike Herrlich freute sich, dass diese sofort merkten: Christoph macht keinen Smalltalk. Er interessiert sich wirklich. Er ist der promovierte Jurist und erfolgreiche Start-up-Unternehmer aus Berlin, 40 Jahre alt. Aber er kann genauso gut mit allen reden.

Am 19. Dezember will er mit einer jungen Kollegin noch abends auf den Weihnachtsmarkt, einen Glühwein trinken. „Er sah den Lkw kommen. Dann hat er noch die Kollegin zur Seite geschubst.“ Als sie mit verletzten Beinen aus dem Bretterstapel befreit ist, über den wohl auch der Laster fuhr, ist Christoph verschwunden.

Das Negative soll in ihrem Leben nicht die Überhand gewinnen

Der Gärtner. Jörg Nöthe pflegt die improvisierte Gedenkstelle
Der Gärtner. Jörg Nöthe pflegt die improvisierte Gedenkstelle
© Deike Diening

Die Buden stehen wieder. Um kurz vor sieben am Morgen gehören die Busspuren noch dem Lieferverkehr. Das regelmäßig schrappende Geräusch auf dem menschenleeren, noch verrammelten Weihnachtsmarkt rührt von Jörg Nöthes unermüdlichem Besen, der das letzte Laub zusammenfegt, das um die inoffizielle Gedenkstelle gefallen ist. Die Kerzeninseln sehen so gepflegt aus, wie es nur geht, wenn man Buchsbäume, Blumen und Tannen, ein paar Kerzen, handgeschriebene Schilder und weiße Holzkreuze kombiniert.

Nöthe kommt früh, weil er jetzt mit seinem blauen Lieferwagen noch am Rand des Platzes parken kann. Vier Jahreszeiten – und kein einziger Tag, an dem keine Flamme brannte! Ein Jahr lang war da immer wer. Viele standen einfach vor den Kerzen und schwiegen.

Vor einem Strauß frischer Papageientulpen steht aufrecht ein gerahmtes Bild des getöteten Lastwagenfahrers Lukasz Urban. Um Urban, sagt Nöthe, hat sich das ganze Jahr regelmäßig jemand gekümmert, „das muss die Familie sein“. Wellt sich das Papier, wird das Foto ausgetauscht. „In Barcelona ist schon gar nichts mehr zu sehen“, sagt Nöthe, das hat ihm seine Tochter berichtet, die neulich dort war.

Am 19. Dezember, exakt ein Jahr nach dem Anschlag, läuft Nöthes Auftrag aus. Dann geht die Zuständigkeit für die Pflege des dann offiziellen Gedenkortes an den Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf über.

Aus Frederike Herrlichs Wohnzimmer führt der Blick auf eine Terrasse, wo im November das Laub erst noch zu kehren ist. Alle diese Fehler der Ermittler und Behörden … Sie begreift nicht, warum nicht wenigstens für eine dieser Ungeheuerlichkeiten mal einer Verantwortung übernimmt. Dass die Konsequenzen nur von den Opfern zu schultern sind. Sie hätte sich auch über ein Wort von Angela Merkel gefreut.

Sie hat den offenen Brief an sie mitunterzeichnet, wie alle Familien der Hinterbliebenen. Aber bei der Frustration darüber stehen zu bleiben, führt für sie nirgendwo hin. Sie will nicht darüber nachdenken, warum die frühen Warnungen eines Syrers vor dem späteren Attentäter nicht durchdrangen. Warum die Kommunikation zwischen den Behörden in Nordrhein-Westfalen und Berlin nicht klappte, warum die Überwachung des Gefährders nur tagsüber stattfand oder warum plötzlich in den Akten aus dem Drogendealer, den man hätte abschieben können, ein Kleinkrimineller gemacht wurde.

Natürlich muss man da hingucken, schon damit so etwas nicht noch einmal passiert, aber das Negative soll in ihrem Leben nicht die Überhand gewinnen.

Frederike Herrlich ist jemand, die auf Reisen an Autobahnkirchen anhält und eine höhere Instanz um Rat fragt. Im Februar wird sie an einer Tagung für Friedenspädagogik teilnehmen. Sie hat schon immer für Versöhnung gestritten und möchte nun dazu beitragen, „dass Jugendliche nicht in die Fänge von Extremisten geraten“. Es müssen doch Schlüsse zu ziehen sein!

Zurzeit kommt aus ihrem Handy noch das Feintuning von Senatskanzlei und Kirche für die Gedenkfeier. Fragen an die Gruppe: Ob die Banderolen für die Kerzen in ihrem Sinne seien? Ein Licht aus Bethlehem? 

Sie weiß noch gar nicht, ob sie es schaffen wird, am Jahrestag dorthin zu gehen. Aber ja, ein Friedenslicht aus Bethlehem, sagt sie erschöpft. „Das ist doch schön.“

In Zukunft werden die Stahlbürsten der BSR zwei Mal am Tag über den Bronzeriss schrappen. Gerade dieses ständige Polieren führt zu einer Bronze, die sich verändert, immer goldener wird. Ganz so wie Heiligenfiguren an den Stellen, an denen sie oft geküsst werden.

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