Sahra Wagenknecht zum Tag der Arbeit: „Der Sozialstaat wurde zerstört“
Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht fordert mehr Solidarität und Schutz für Bürger, den Umbau der Wirtschaft und das Ende der Renditelogik. Ein Interview.
Frau Wagenknecht, der wirtschaftliche Lockdown soll auch Leben retten - verbieten sich deshalb radikale Forderungen zum Tag der Arbeit?
Gerade die aktuelle Krise lehrt uns, dass wir nicht weitermachen dürfen wie zuvor. Es gab so viele Fehlentwicklungen, die sich jetzt rächen.
Welche konkret?
Das auf Rendite getrimmte Gesundheitswesen etwa. In den Krankenhäusern ist der Personalnotstand seit Jahren Alltag. Oder mangelnde Risikovorsorge. Wie kann es sein, dass die Bundesregierung bis heute nicht in der Lage ist, ausreichend Masken und Schutzkleidung zur Verfügung zu stellen.
Ist es richtig, dass nirgendwo wie sonst üblich groß protestiert werden darf?
Ich finde es nachvollziehbar, dass große Kundgebungen derzeit nicht möglich sind. Aber die klassischen Forderungen zum „Tag der Arbeit“ sind aktuell wie nie.
Was ist aus Ihrer Sicht die dringlichste Forderung zum 1. Mai?
Solidarität! Es ist schon erstaunlich, welche verbale Begeisterung für den Wert der Solidarität in der Bundesregierung seit kurzem ausgebrochen ist. Genau diese Parteien waren es doch, die im Verbund mit FDP und Grünen die Systeme der institutionalisierten Solidarität in unserem Land abgebaut und zerstört haben.
Was genau wurde zerstört?
Der Sozialstaat, das Schutzversprechen der Solidargemeinschaft, den Lebensstandard im Alter oder bei Krankheit und Arbeitslosigkeit abzusichern. Die gesetzliche Rente bietet bloß noch eine Minimalversorgung, die Arbeitslosenversicherung trägt nur noch ein Jahr, wer krank wird, dem wird über Zuzahlungen in die Tasche gegriffen. Und die „solidaritätsbegeisterte“ Regierung macht keine Anstalten, den Sozialstaat wiederaufzubauen.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]
Zahlen wir jetzt die tödliche Zeche für Globalisierung und Klimawandel?
Wir zahlen vor allem die Zeche dafür, dass trotz allem an der Irrlehre von der Omnipotenz des Marktes festgehalten wurde. Inzwischen sollte wirklich jeder begreifen, dass sich hinter der Anbetung effizienter Märkte, die angeblich alles besser regeln als der Staat, knallharte Interessenpolitik verbirgt: zugunsten einer schwerreichen Minderheit, die die neuen Freiheiten zur Vervielfachung ihres Privatvermögen genutzt hat.
Für die Mehrheit dagegen ist die bisherige Art der Globalisierung ein schlechtes Geschäft. Wenn profitträchtige Konzerne wie Bayer die Forschung für Impfstoffe und Infektionskrankheiten einstellen oder die Produktion lebenswichtiger Medikamente ans andere Ende der Welt verlegen, wenn sie dadurch Umwelt- und Sicherheitsstandards unterlaufen und Lohnkosten und Steuern drücken, dann schadet das uns allen.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat gefordert, dass das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft neu justiert werden müsste. Wenn Sie ihn beim Wort nehmen, was müsste das konkret heißen?
Die Krise hat gezeigt, wie wichtig ein handlungsfähiger Staat ist. Aber ein Staat, der sein Personal ausdünnt, verliert Handlungsfähigkeit. Mit den Privatisierungen ist die Renditelogik in Bereiche eingedrungen, wo sie extremen Schaden anrichtet. Wohnungen, Krankenhäuser und Pflegeheime gehören nicht in die Hände von Renditejägern.
Viele Experten, von der Lepoldina, dem IfW bis zu verschiedenen Sachverständigenvertretern der Bundesregierung kritisieren jetzt diese betriebswirtschaftliche Durchoptimierung unserer Gesellschaft.
Es besteht die Gefahr, dass daraus genauso wenig Konsequenzen gezogen werden wie vor zehn Jahren aus der Finanzkrise. Wer wirklich will, dass große Firmen sich an anderen Prioritäten orientieren, wer verhindern will, dass weiter Lieferketten optimiert und Betriebe verlagert werden, dass nur noch auf Aktienkurs und Dividende geschaut wird, der muss die Gesetze verändern, die das alles ermöglichen.
Zum Beispiel?
Warum gibt es denn diesen Druck? Weil Investoren in den Unternehmen das Sagen haben, denen es nur darum geht, aus Geld schnell mehr Geld zu machen. Vielfach sind es Hedgefonds oder große Kapitalsammelstellen wie Blackrock. Aber auch alte Erbendynastien sehen in Unternehmen oft nur noch Melkkühe für leistungslose Einkommen. Das ist der fundamentale Unterschied zum inhabergeführten Mittel- oder Kleinbetrieb, in dem der Eigentümer oft am härtesten arbeitet.
Sie sprechen gerne davon, dass die Wirtschaft wieder eine dienende Rolle einnehmen müsse. Was heißt das genau?
Die Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt. Wenn nur noch eine Minderheit vom wirtschaftlichen Fortschritt profitiert, während die Mittelschicht schmaler wird und viele von ihren Einkommen nicht mehr gut leben können, muss die Wirtschaftsordnung auf den Prüfstand.
Eine seit Gründung der Zeiss-Stiftung im 19. Jahrhundert erfolgreiche Alternative zur Kapitalgesellschaft ist das Stiftungseigentum. Bei 100-prozentigem Stiftungseigentum gibt es keine Fremdeigentümer, die willkürlich Geld aus einem Unternehmen herausziehen können, eine solche Firma kann auch nicht mehr aufgekauft und filetiert werden. Dass Übernahmen schädlich sind, bei denen es nur ums schnelle Geld oder den Zugang zu Knowhow und Markenrechten geht, hat inzwischen sogar die Bundesregierung begriffen. Sie will solche Übernahmen künftig durch Teilverstaatlichungen verhindern. Das ist sinnvoll, aber besser wäre eine veränderte Rechtsform, die feindliche Übernahmen ausschließt.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]
Funktioniert das auch bei digitalen Unternehmen?
Die digitalen Plattformen und Netze sind die wichtigste Infrastruktur des 21. Jahrhunderts. Wenn wir nicht weiterhin von Anbietern abhängig sein wollen, die entweder mit den US-Geheimdiensten oder dem chinesischen Staat kooperieren, müssen wir eine eigene digitale Infrastruktur in Europa aufbauen. Aber bitte eine, die den Datenschutz achtet und ihre Monopolmacht nicht missbraucht, die Anbieter sollten also gemeinwohlorientiert und unter öffentlicher Kontrolle arbeiten.
Ist ein solche Eigentumsidee Utopie oder realistisch?
Überall dort, wo wir Monopole oder zumindest extrem hohe Marktanteile haben, gibt es keinen echten Wettbewerb. Privates Kapitaleigentum wird damit zum Recht auf Abzocke. Wenn wir nicht in all diesen Bereichen Staatseigentum wollen, brauchen wir neue Eigentumsformen, die sich an der Stiftungslösung orientieren sollten. Übrigens hat der Staat trotzdem eine wichtige Rolle: Echte technologische Umbrüche sind oft nur durch massive staatliche Investitionen möglich. Das galt für das Silicon Valley. Das gilt heute für China. Die EU dagegen glaubt an den Markt und verliert mehr und mehr den Anschluss.
In der aktuellen Krise arbeitet die Politik eng mit der Wissenschaft, Wirtschaft und der Zivilgesellschaft zusammen – wäre das nicht auch ein Modell für einen neuen Gesellschaftsvertrag?
Wir sollten nur nicht das US-Modell kopieren, dass der Staat erst die Forschung finanziert und dann private Unternehmen Patente anmelden und allein ihre Aktionäre reich machen.
In Industrie und Handwerk ist für Arbeitnehmer das Risiko am höchsten, von Maschinen ersetzt zu werden. Wie verteidigt eine Linke die Digitalisierung?
Gestiegene Produktivität ist die Grundlage dafür, dass es uns heute so viel besser geht als unseren Ahnen. Die Schlüsselfrage ist, wem die Produktivitätsgewinne zugutekommen. Wenn eine neue Technologie mit der halben Arbeitszeit den gleichen Nutzen bringt und der Arbeitnehmer würde dann bei gleichem Gehalt nur noch halb so lang arbeiten, hätte er vermutlich nichts einzuwenden. Mit neuen Technologien entstehen immer auch neue Jobs. Nur bedeutet die mit der Digitalisierung wachsende Wissensökonomie eben noch lange nicht, dass die wegrationalisierte Verkäuferin eine Perspektive hat.
Wie verhindern Sie das?
Gehen Jobs verloren, muss der Staat umschulen und qualifizieren. In vielen Bereichen wird mehr Personal benötigt, darunter viele Berufe, für die man kein Studium braucht. Was wir verändern müssen, ist die Bezahlung dieser Berufe. Früher gab es viele Jobs, in denen man auch ohne Hochschulabschluss ordentlich verdienen konnte. Der Niedriglohnsektor wurde mit der Agenda 2010 geschaffen, er kann und muss wieder abgeschafft werden.
Die Union ist derzeit in Umfragen so stark wie nie. Muss die Linke 2021 einen Grünen zum Kanzler wählen, um endlich mit SPD und Grünen zu regieren?
Angst und Unsicherheit machen konservativ, das kann in zwei Monaten schon wieder anders sein. Die Grünen allerdings waren meist bei Umfragen stärker als bei Wahlen.
Bleibt die SPD
Es ist bedauerlich, dass die SPD nicht zu einer überzeugenden neuen Politik findet, immerhin war das erkennbar der Auftrag des Mitgliedervotums zur Parteispitze. Es wäre gut, wenn es wieder eine starke Sozialdemokratie gäbe und damit die Chance auf eine Regierung des sozialen Zusammenhalts.
Sahra Wagenknecht, 50 Jahre alt, war von 2015 bis November 2019 Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag. Dann legte sie das Amt aus gesundheitlichen Gründen nieder, sie hatte unter anderem einen Burnout, behielt aber das Bundestagsmandat. Sie will sich auch weiterhin in ihrer Partei und der Politik engagieren.