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Nicht nur in Italien sterben Coronapatienten, ohne dass ihre Angehörigen bei ihnen sein können.
© Claudio Furlan/LaPresse/AP/dpa

Die Pandemie kann die Gesellschaft besser machen: Trotz Coronavirus – wir müssen uns berühren!

Welche Form des Miteinanders wird in der Coronakrise geboren, das nationalistisch-unnahbare oder das pluralistisch-zugewandte? Ein Essay

Von Geburt an, in der Not oder vor dem Tod ist körperliche Berührung, wenn sie freiwillig und zugewandt geschieht, immer eine existenzielle Gemeinschaftserfahrung. Babys brauchen Körperkontakt, um zu überleben, Menschen in Panik beruhigt es, wenn sie gehalten werden, sterbenden Menschen vermittelt die aufgelegte Hand Geborgenheit.

Denken wir das Somatische und das Soziale am Berühren zusammendenken, können wir sehen, wie resilient eine Gesellschaft ist. Dann führt der Begriff zudem geradewegs hinein in das Dilemma unserer polarisierten Zeit: Werden Gesellschaften nationalistisch-unnahbar oder bleiben sie pluralistisch-zugewandt?

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Die Bedeutung des leiblichen Berührens geht weit über eine erotische Stimulation hinaus. Die Natur hat dem Menschen dazu besondere Nervenzellen geschenkt: Die sogenannten C-taktilen Nervenzellen, die langsamer als andere Nervenzellen Informationen weiterleiten und dabei quasi aus der mechanischen Berührung ein Gefühl machen. Diese Zellen vermitteln soziale Nähe.

Doch jetzt, in Zeiten der Coronakrise, sind viele Menschen wie in Isolationshaft. Ausgerechnet Beziehungsentzug gilt als sozial, körperliche Abgewandheit rettet Leben. Großeltern dürfen ihre Enkel nicht küssen, nicht sehen; erwachsene Kinder stellen Einkaufstüten vor die Türen ihrer Eltern anstatt sie zu umarmen. Auf Intensivstationen sterben Menschen ohne tröstendes Flüstern eines Angehörigen.

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Gerade aufgrund des Verbotes von Körperkontakt - in Indien beispielsweise werden die Menschen bei Missachtung des Verbots von der Polizei verprügelt -, wird uns bewusst, wie wichtig er ist. Das erscheint uns jetzt selbstverständlich, war es aber schon vor der Corona-Pandemie nicht mehr: Die berührungslose, einsame Gesellschaft war in weiten Teilen der Bevölkerung Realität. Sie hat zur Polarisierung der politischen Situation beigetragen.

Berührung ist somatisch wie sozial überlebenswichtig für alle Menschen.
Berührung ist somatisch wie sozial überlebenswichtig für alle Menschen.
© Imago

41 Prozent aller Haushalte werden von Singles bewohnt, in der Pflege von älteren Menschen, in Krankenhäusern oder Kitas herrscht Effizienzdruck und Personalmangel, Gewalt gegen Alte und Kinder, auch häusliche Gewalt ist ein wachsendes Phänomen.

Gleichzeitig können wir uns die Dinge und Kontakte in einem Maße aneignen, sie konsumieren, wie keine Gesellschaft vor uns. Wir kommunizieren über die sozialen Medien mit vielen Menschen gleichzeitig – allerdings ohne tatsächliche Gegenwart.

Und so ist Entfremdung, einhergehend mit dem Gefühl des Nichtgeborgenseins, oft unsere Realität.

Trotz sozialer, politischer und auch psychologischer Unterschiede sind wir letztlich alle in einer Krise der Berührung – die schon vor Corona begonnen hat.

Wir sind in dieser Krise, weil wir die Welt, wie sie sich uns heute darstellt, in unterschiedlicher Form, bewusst oder unbewusst, als Bedrohung wahrnehmen. Die einen fürchten den sozialen Druck oder die Konkurrenz in der Bildung, auf der Arbeit, sie fühlen sich überfordert, weil sie glauben, in ihrer Leistung nicht mithalten zu können. Die anderen fühlen sich bedroht von Arbeitslosigkeit, Einsamkeit in abgehängten Gegenden auf dem Lande oder von einem Nicht-mehr-Gesehenwerden in der analogen Welt. Sie wollen Beziehungen, haben aber verlernt oder nie gelernt, sie zu führen.

Zuletzt hat uns der Soziologe Hartmut Rosa eine Beziehungsstörung gegenüber uns selbst und der Welt attestiert. Wir sind sehr gut in der Lage, unsere individuellen Bedürfnisse und Rechte einzufordern. Wir sind freier denn je. Und doch nehmen Burn-out und Depressionen zu – trotz Work-Life-Balance-Ratgeber, Yoga-Retreats oder dem Versprechen der Wellnessindustrie, dass unsere Körper formbar und schön bleiben.

Solidarität von Balkonien. Musik und Applaus helfen, auf Distanz Nähe zu zeigen.
Solidarität von Balkonien. Musik und Applaus helfen, auf Distanz Nähe zu zeigen.
© Patrick Seeger/dpa

Thomas Fuchs, Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie in Heidelberg, sagt: „Die westliche Kultur kennt keinen Stillstand, keine Handlungshemmung, kein Verweilen.“ Dabei haben wir das dringende Bedürfnis danach, gerade weil unsere Fokussierung auf Wachstum, Wohlstand und Selbstoptimierung uns immer weniger Zeit für Berührung lässt.

Corona hat uns radikal aus der Beschleunigung herausgeholt

Die Zeit, erklärt Fuchs, erscheine uns wie ein Pfeil, der rasant vorwärtsstrebt. Unsere Bio-Zeit dagegen, der Schlaf-Wach-Rhythmus etwa oder der Stoffwechsel, kommt dem Pfeil nicht hinterher. Wir leben schon lange in einem System, das auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Beschleunigung basiert – und die leibliche Gegenwart reduziert. Mit sozialen Folgen: In den USA haben Langzeitstudien ergeben, dass College-Studenten seit 2000, seit dem Siegeszug des Smartphones, weniger empathiefähig, weniger beziehungsfähig sind.

Jetzt sind wir „radikal aus der Beschleunigung herausgefallen“, wie Fuchs konstatiert. Und im Hinblick auf Berührung leiden wir wie der Süchtige auf Entzug. Zwar haben alle Menschen, das liegt in unserer Natur, offene oder unterdrückte Sehnsüchte nach Berührungen, handeln konträr.

Die Sehnsucht nach Berührbarkeit ist in uns verankert

Manche suchen den Kontakt, wollen helfen, sie spielen für andere Musik in den sozialen Netzwerken, applaudieren von Balkonen oder machen trotz der Gefahr für die eigene Gesundheit Überstunden als Pfleger oder Ärzte. Es ist ein empathisches, berührendes Verhalten, das wir erleben. Andere jedoch igeln sich ein oder leugnen, geben der Regierung oder China die Schuld und schotten sich vor ihren eigenen Ängsten ab. Auch das menschlich verständlich.

Sehnsucht und Bedürfnis nach Berührbarkeit sind in uns allen verankert. Mit oder ohne Corona. Unsere Elternbeziehung von klein auf, unsere sozialen Kontakte und gesellschaftlichen Prägungen haben einen Einfluss auf das Maß unserer aktuellen Bedürfnisse und unseres individuellen Leidensdrucks. Vereinfacht gesagt gibt es nur zwei Varianten, wie wir in persönlichen wie gesellschaftlichen Krisen handeln: Aktivität oder Rückzug. Helfen oder abschotten. Das gilt übrigens für Regierte wie Regierende.

Er denkt, er kann alles alleine lösen, mit Befehl und Gehorsam: US-Präsident Donald Trump.
Er denkt, er kann alles alleine lösen, mit Befehl und Gehorsam: US-Präsident Donald Trump.
© imago images/MediaPunch

Persönliche Prägungen können einhergehen mit politischen Überzeugungen. Klimaleugner ebenso wie die Neue Rechte, zu der Teile der AfD gehören, haben verhaltenspsychologisch ähnliche Reflexe und Strategien. Abschottung, Rückzug und den Wunsch nach Wehrhaftigkeit. Je pathologischer Angst und Sehnsucht nach Berührung sind, desto heftiger können auch die eigenen Ansichten ausfallen. Beim Retten (Klima), wie beim Verteufeln (Geflüchtete). In neurechten und rassistischen Zirkeln ist beispielsweise die Sehnsucht nach Wehrhaftigkeit durch Gewalt groß.

Der amerikanische Neurechte und Rassist Jack Donovan sieht in der Gewalt das „vorherrschende Prinzip von Männlichkeit“. Jedes neue Zeitalter der Menschheit sei durch „schöpferische Gewalt“ bestimmt.

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Krisen, die uns berühren und/oder Angst machen, erhöhen die Abschottungsreaktionen und die Erwartungen an „die da oben“. Björn Höcke twitterte gerade, es zeige sich nun, „dass der Nationalstaat die letzte Schutzmacht für seine Bürger ist“.

Doch wie wir jetzt in der Coronakrise spüren und sehen, liegt der Schutz nicht in erster Linie im Autoritären, wie Höcke glauben machen will, sondern mindestens ebenso in Differenziertheit, Anteilnahme, Teamwork. Die Fähigkeit der Berührung meint nicht nur die somatische, sondern auch die Kompetenz, Krisen konstruktiv und miteinander zu lösen. Das hat auch US-Präsident Donald Trump lange nicht verstanden. Er ist soziologisch gesehen Dezisionist, begründet also keine Entscheidungen; Angela Merkel wäre dagegen differenzversiert, sie versucht, Macht auszutarieren und über Beziehungen und Diskurse Kompromisse zu finden.

Abstand halten - unsere Gesellschaft wird mit Corona neu ausgemessen.
Abstand halten - unsere Gesellschaft wird mit Corona neu ausgemessen.
© Dan Pelle/The Spokesman-Review/AP/dpa

Thomas Fuchs, auch Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, meint, dass Deutschland diesen Krisenspagat aus Handeln und Beziehungspflege (zum eigenen Volk) bisher ganz gut hinbekommen habe. Es seien nicht wie in China von oben herab autoritär Befehle erteilt, sondern mit den Worten der Kanzlerin Dringlichkeit und Empathie zugleich vermittelt worden. Die deutsche Politik habe verständnisvoll und mit Hilfe von Experten, Virologen, Ärzten, Psychologen, also im Team, die Dinge mühsam und geduldig erklärt. „Das hat die Politik glaubwürdig gemacht“, sagt Fuchs.

Bliebe die Mehrheitsgesellschaft gerade durch das Bedürfnis nach Berührung solidarisch - könnte diese Krise eine große Chance sein. Lassen wir nach Corona dauerhaft wieder mehr Nähe im Alltag zu? Gute Gesellschaften entstehen durch gute Beziehungen, in denen wir einander berühren und voneinander berührt werden. Dann sind sie, sagt Fuchs, „die größte Friedensdividende“. 

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