zum Hauptinhalt
Die Coronakrise bedeutet auch eine Gefahr für die psychische Gesundheit.
© imago images/Bernd Friedel

Die Gesellschaft kann aus der Pandemie lernen: „Wir alle sind in einem riesigen psychologischen Experiment“

Steinzeitreflexe oder gestärktes Sozialgefüge? Die Coronakrise verändert das Verhalten. Warum auch jetzt Erkenntnisse der Psychologie wichtig sind, erklärt der Experte Arno Deister im Interview.

Herr Arno Deister, die Corona-Pandemie ist nicht das erste Ereignis, das ganze Gesellschaften traumatisieren könnte. Gibt es nicht doch Vergleichbares, das uns hilft?
Wir haben Analogien, aber sie beziehen sich nicht auf das Gleiche. Nehmen wir die Spanische Grippe, von der jetzt viele reden. Im kollektiven Unterbewusstsein ist sie als Seuchenerfahrung gewiss vorhanden, womöglich auch als traumatische Erfahrung. Aber der unterschiedliche Kontext der Erfahrungen bestimmt das unterschiedliche Verhalten.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Die Coronakrise ist geprägt von einem massiven Kontrollverlust bei gleichzeitig rasanter Informations- und Wissensweitergabe. Alles wissen müssen, aber als Bürger nichts tun können, ist schon einzigartig. Wir befinden uns deshalb mitten in einem riesigen psychologischen Experiment.

Hat man nicht auch im Krieg einen enormen Kontrollverlust und daraus resultierende Ängste?
Wir können nur begreifen, was wir fassen oder anfassen können. Im Krieg gibt es immer einen Feind, es gibt deshalb zumindest das Gefühl, handeln zu können. Eine ganze Gruppe wird angegriffen oder greift an, das bedeutet, emotional mehr Kontrolle über eigene Ängste. Jetzt besteht der Kampf im Nichtstun, und darin besteht der große Kontrollverlust, wir können nicht aktiv handeln.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]

Kann ich aktiv im Nichtstun bleiben?
Tun durch Nichtstun geht nur über Bewusstmachung. Ich helfe, handele, indem ich zu Hause bleibe. Es ist auch nicht für alle die gleiche Situation: Krankenhäuser funktionieren jetzt im Prinzip perfekt, weil dort getan wird, wofür man ausgebildet wurde: Helfen, schützen, Wissen abrufen und anwenden, das hat einen enormen Solidarisierungseffekt. Die Tafeln wiederum sind auch auf Helfer angewiesen, die jetzt aber nicht kommen können und damit auch nicht handeln können.

Arno Deister ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Arno Deister ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
© Claudia Burger/DGPPN/dpa

Gibt es überhaupt so etwas wie gesellschaftliche Prägungen durch Krisen oder bleiben die Folgen immer individuell?
Nein. Der Einzelne wie die Gruppe sind betroffen, wenn auch unterschiedlich. In Krisen, das kennen wir, werden Gruppen, Gesellschaften, Nationen auch missbraucht. Kriege beispielsweise dienen dazu, um den Druck von außen für Solidarität nach innen zu benutzen. Man baut Feindbilder auf, um die Menschen hinter sich zu bringen. Autoritär veranlagte Politiker machen das auch in anderen Situationen so.

Zum Beispiel?
Donald Trump hat zuerst vom China-Virus gesprochen, um die Gefahr und die mögliche Schuld anderen zuzuschieben, er hat versucht, die Krise für sich zu instrumentalisieren. In Ungarn wird das Virus als Bedrohung aufgebaut, um politische Maßnahmen durchzusetzen, die sonst womöglich nicht durchsetzbar wären. Auch Putin oder Erdogan nutzen diese Art der erzwungenen Loyalität durch Druck.

Das würde aber ja bedeuten, dass die die national-abschottend handeln im Vorteil zu den liberal-offenen sind?
Auf den ersten Blick vielleicht. Denn Menschen sind es gewohnt, sich hinter denen zu versammeln, die handeln. Hinter den Mächtigen, hinter denen, die Lösungen sichtbar machen können.

Zeichen der Solidarität. Bekleidung am Spendenzaun an der Zionskirche in Berlin.
Zeichen der Solidarität. Bekleidung am Spendenzaun an der Zionskirche in Berlin.
© imago images/epd/Christian Ditsch

Autoritäre Führerschaft führt meist ins Unglück, haben wir das nicht auch gelernt?
Zunächst ist es ein tief in uns Menschen angelegter Mechanismus, der vor allem etwas mit dem Schutzbedürfnis zu tun hat. Der Wunsch nach Abschottung ist immer auch eine Schutzfunktion – aus Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten, Unsichtbaren. 

Natürlich wissen wir, wohin es führen kann, wenn Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt wird. Der erste große Schub für den Nationalsozialismus war die Weltwirtschaftskrise. Hitler hat mit vielen Feindbildern gespielt und sie gezielt eingesetzt, und sie haben verfangen.

Wir haben aber doch längst gelernt, dass Frieden am besten durch konstruktiven Multilateralismus zu sichern ist und Krisen am besten gemeinsam, kompetenzübergreifend, gelöst werden?
Ja, haben wir. In Westeuropa ist eine solche Haltung auch noch mehrheitsfähig, aber woanders? Dann kommt hinzu, dass der Abwehrreflex wie gesagt eine natürliche Verhaltensweise ist – der Steinzeitmensch ist eben schnell in die Höhle gelaufen, wenn da ein großes, wildes Tier vorbeikam.

Wann kommt die gute Nachricht?
Sie haben es schon gesagt: Dass wir auch als Gruppe lernfähig sind. Verhalten ist ja mehr als Handeln, es setzt sich auch zusammen aus der Frage, wie nehme ich etwas wahr: Mit welchen Gefühlen zum Beispiel. Je besser ich beides kann, als Gruppe wie als Einzelperson, also handeln und gleichzeitig nachspüren, wie geht es mir dabei und wer könnte mir helfen, umso besser komme ich durch Krisen. 

In der Coronakrise üben wie das wieder neu ein, eine große Aufgabe. Ich denke, die Menschen begreifen, dass die liberal-offene Variante langfristig mehr hilft, weil sie mehr Empathie, Solidarität und demokratisches Miteinander kennt.

Schutzmasken kannte die Welt schon vor 100 Jahren - wegen der Spanischen Grippe.
Schutzmasken kannte die Welt schon vor 100 Jahren - wegen der Spanischen Grippe.
© dpa

Fehlen uns sozialpsychologische Kenntnisse, um solche Ereignisse und die Ängste, die daraus entstehen, erklärbar zu machen?
Ja, wir sind jetzt alle vor allem Virologen geworden. Das ist auch okay. Die machen ihren Job hervorragend. Doch der zweite Schritt fehlt, die Frage, wie fühle ich und was mache ich daraus? Psychologische Erkenntnisse sollten wichtiger werden, der Expertenrat zu Daten, Zahlen, Maßnahmen sollte ebenso wertgeschätzt werden wie die Expertise zu körperlichen und seelischen Notwendigkeiten. Wir unterschätzen sehr, wie groß die Gefahr auch für unsere psychische Gesundheit ist.

[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]

Was wären denn Grundkenntnisse, die wir uns unbedingt aneignen sollten?
Ein ganz praktisches Beispiel sind Kenntnisse über die Wichtigkeit von Struktur für uns Menschen. Wir haben jetzt schnell gelernt, dass es hilft, auch im Homeoffice eine Tagesstruktur zu haben und auch Zuhause und mit der Familie zu unterscheiden zwischen Arbeit und Privatem. Wer das nicht hinbekommt, und es ist wirklich sehr schwer, hat schnell Probleme. Es gibt also möglicherweise Streit. Im schlimmsten Fall Gewalt.

Gibt es andere Beispiele?
Wie gehen wir mit Informationen um? Wir brauchen sie, aber sie ängstigen vielleicht auch. Wir sollten nicht jede Push-Nachricht wahrnehmen, sondern uns regelmäßig, aber zeitlich begrenzt informieren. Dann ertrinken wir nicht in der Informationsflut.

Autokratisch veranlagt: US-Präsident Donald Trump.
Autokratisch veranlagt: US-Präsident Donald Trump.
© imago images/MediaPunch

Kommunikation ist ein Schlüssel auch für psychologisches Verstehen. Wie redet man während einer Pandemie öffentlich, wie Macron oder wie Merkel?
Macron hat mit dem Kriegsbegriff sehr auf Struktur gesetzt: Ihr müsst das tun, weil ich es sage. Merkel wiederum hat für Verständnis geworben, beides hat eine emotionale Seite. Die Lösung liegt wohl wie immer in der Mitte. Denn wir müssen schon auch anerkennen, dass die Menschen sich ängstigen, egal, wie berechtigt auch die Angst sein mag.

Wir beklagen jetzt das Verbot von Berührung und sozialen Kontakten, waren wir nicht schon vor Corona eine in weiten Teilen einsame Gesellschaft?
Das stimmt. Aber das Gefühl von Einsamkeit und allein sein sind zwei Dinge. Wir können jetzt auch allein sein, aber Einsamkeit reduzieren. 

Einsamkeit funktioniert immer als Gefühl, darin liegt jetzt die Chance: Die die allein sind, ältere Menschen etwa, Singles, müssen nicht einsam sein, weil man sich um sie kümmert, telefoniert, skypt, schreibt, etwas vorbeibringt.

Aber was ist mit den Menschen, die vorher bereits Depressionen oder Angststörungen hatten. Was raten Sie denen?
Auf der einen Seite sind diese Patientinnen und Patienten schon deutlich gefährdet, dass die Symptomatik zunimmt – und sie stellen somit auch eine Risikogruppe dar. Auf der anderen Seite haben viele von ihnen in der bisherigen Therapie ja schon hilfreiche Verhaltensmuster gelernt, die sie jetzt anwenden können und sollen. 

Die jetzige Situation stellt gerade für diese Gruppe von Menschen und für die Therapeuten eine große Herausforderung dar. Therapeutische Maßnahmen müssen deshalb in vielen Fällen intensiviert werden. Ich hoffe sehr, dass das auch geschehen kann.

Bleiben wir nochmal vor der Zeit der Pandemie. Was genau hat denn so viele Menschen in Depressionen, Burnout oder das Gefühl von Entfremdung geführt, wo wir doch so frei waren und so individuell sein durften wie niemand vor uns?
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir definieren uns über unsere sozialen Verhaltensweisen. Sie machen uns quasi sichtbar. Vereinfacht ausgedrückt haben wir vor Corona vernachlässigt, was soziale Aspekte sind, die uns schützen. 

Jetzt lernen wir vielleicht, dass eben auch soziale Aspekte zu einem Schutz führen können. Und das eröffnet uns wiederum ein zusätzliches Instrument, das uns hilft zu definieren, was für eine Gesellschaft wir sein wollen.

Wann werden Großeltern ihren Enkeln wieder vorlesen dürfen?
Wann werden Großeltern ihren Enkeln wieder vorlesen dürfen?
© Imago

Das ist auch ein biologisches Lernen?
Ja, das ist es wohl. Über unsere Spiegelneuronen etwa. Ich beobachte andere und aktiviere dadurch gleichzeitig über diese Neuronen Gefühle, dadurch lerne ich wiederum. Bestimmte Dinge lerne ich nur in der Interaktion mit anderen. Wir können also die Emotionen des anderen spiegeln, vereinfacht ausgedrückt schweißen uns solche Interaktionen als Gruppe zusammen.

Was lernen wir gerade?
Zunächst lernen wir alle rasant schnell. Das ist auch eine tolle Nachricht, vor allem, dass wir gemeinsam lernen können. Wir müssen die Dinge zusammenführen, die Ängste und die Notwendigkeiten, aus denen heraus wir uns abschotten und unsere Sehnsucht, im sozialen Kontakt zu bleiben. 

Wir lernen also gerade, unsere Normen und Werte zu verändern, anzupassen, und wir bemerken dabei, dass bestimmte Dinge, die wir tun, gar nicht selbstverständlich sind, sondern uns verloren gegangen waren: nämlich analoger, sozialer Kontakt, gute Beziehungen, der Austausch von Mensch zu Mensch, über den wir uns selbst letztlich erst wahrnehmen können.

Warum ist Nähe so wichtig?
Nähe bestimmt das Verhalten, wir unterscheiden räumliche, funktionale und emotionale Nähe. Wir sind es gewohnt, Nähe über räumliche Nähe zu definieren. Jetzt müssen wir aber über die Funktion von Nähe reden, damit am Ende emotionale Nähe auch auf Distanz möglich bleibt. 

Dazu müssen wir definieren, das tun wir ja schon, was uns als gemeinsames Ziel wichtig ist, beispielsweise Solidarität über Räume und Distanzen hinweg. Wenn wir das Gleiche wollen, bringt uns das zusammen.

Könnte die Pandemie eine soziale Revolution auslösen?
Revolution ist mir ein bisschen zu groß als Begriff. Psychologie läuft nicht über Revolution, sondern über Evolution. Aber die Krise kann ein Anfangspunkt einer Entwicklung zu mehr Solidarität sein.

Arno Deister, 63 Jahre, ist Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin der Klinik Itzehoe in Schleswig-Holstein. Er ist zudem Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. 

Zur Startseite