zum Hauptinhalt
Heiner Koch ist Erzbischof von Berlin.
© Mike Wolff

Erzbischof Heiner Koch: "Der große Wurf heißt: Freiheit für die Familie"

Berlins Erzbischof Heiner Koch im Interview über die Bedeutung von Familie, kinderfreundliche Politik und Gesprächsverweigerung von Populisten.

Herr Erzbischof, an Weihnachten werden die Kirchen wieder sehr voll sein. Haben Sie eine spezielle Botschaft für die, die nur einmal im Jahr kommen?

Im Wesentlichen sind es zwei Worte, zum einen: Raum, Raum geben. Das ist die Erfahrung der Weihnachtsgeschichte: Gott kam in die Welt und wurde nicht aufgenommen, es gab keinen Raum für ihn, konkret: In der Herberge war kein Platz. Daraus ergibt sich für mich: Gebe ich Gott Raum? Lassen wir Raum, in dem Leben ermöglicht und gefördert wird? Das hat auch politische Implikationen: Gebe ich dem Raum, der als Flüchtling zu uns kommt? Dem, der eine andere Auffassung hat? Auch in der Familie stellt sich die Frage, geben wir einander Raum oder sagen wir: Du musst so sein, wie es uns passt.

Und das zweite Wort?

Mut. Gott hat an Weihnachten etwas ganz Mutiges getan. Er hat sich gefragt: Wie soll ich den Menschen klarmachen, dass ich sie nicht allein lasse und ihr Leben mit mir reich wird? Seine Antwort: Nicht durch Lehre, Befehle, intellektuelle Herausforderungen. Sondern indem ich mit ihnen lebe. Deswegen ist Gott Mensch geworden mit allem Mut zum Risiko, auch wenn er nicht wusste, was wird, und anscheinend gescheitert ist, bis zum Kreuz. Auch die ersten Christen hatten den Mut, Christus nachzufolgen und eine eigene Kirche zu werden mit allen Risiken, die damit verbunden waren. Schließlich braucht es auch in Berlin Mut, sein Christsein zu leben.

Sie kommen aus dem Rheinland mit der Dreifaltigkeit von Kirche, FC Kölle und Karneval. Haben Sie sich den Mut für Berlin neu erarbeiten müssen?

Ich bin immer noch Regimentsbischof der Prinzengarde Köln, die zieht zum Gottesdienst in den Kölner Dom ein und der Regimentsbischof fährt am Rosenmontag beim Zug auf dem Wagen mit. Diese traditionellen Verbindungen zwischen Gesellschaft und Kirche gibt es in Berlin nicht. Gleichzeitig ist die gesellschaftliche Mischung hier viel stärker, und viele Menschen sind oft seit Generationen nicht mit der christlichen Botschaft in Berührung gekommen. Berlin erlebe ich als eine versäulte Gesellschaft, es gibt keine Mehrheit, jeder ist Minderheit, selbst die großen Parteien wählen nur 20 Prozent, auch wir als katholische Kirche sind eine Minderheit. Wenn ich von Mut spreche, meine ich übrigens auch die Politik. Mut braucht es auch bei der Regierungsbildung. Deshalb bin ich enttäuscht über die gescheiterten Sondierungen. Für mich war Jamaika eine große Chance.

Sie sind Jamaika-Fan?

In der Situation, in der wir uns befanden, ja. An sich ist das keine optimale Koalition, aber dieses Mal war es eine Chance, drei ganz unterschiedliche Entwürfe zusammenzubringen

Und die große Koalition?

Hat mehr geleistet, als ihr zunächst zugetraut wurde. Aber noch einmal: Im Moment kann ich nicht den Mut erkennen, die Vision, vielleicht auch die Kraftquelle.

Ist die Kirche kraftvoll genug, um gesellschaftliche Debatten mitzubestimmen? In diesem Jahr gab es Entscheidungen mit großen Auswirkungen wie die Ehe für alle. Das betrifft das Familienbild der Kirchen.

Zunächst: Die Kirche muss sich zu Wort melden, wo Grundwerte und Positionen berührt sind, die mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren sind. Aber sie darf sich nicht anmaßen, in den politischen Fragen Vorreiter zu sein, in denen man verschiedener Meinung sein kann und Christen sehr wohl unterschiedlicher Meinung sind.

Bei der Ehe für alle?

Die Liebe zwischen Mann und Mann oder Frau und Frau und die zwischen Mann und Frau, die Eltern werden wollen, ist zu unterschiedlich, als dass ich dafür denselben Begriff wählen würde. Indem wir denselben Begriff Ehe verwenden, nivellieren wir Unterschiede, die es aber gibt. Bei der Ehe für alle weiß ich, dass für viele die Wertschätzung für gleichgeschlechtliche Liebe das Hauptziel war. Dass dahinter Erfahrungen stehen, diese Wertschätzung nicht erlebt zu haben, tiefe Verletzungen, und dass wir als Kirche da auch Schuld haben, ist unstrittig. Aber Ehe ist und bleibt für mich die Verbindung zwischen Mann und Frau, die Eltern werden wollen.

Was ist mit dem dritten Geschlecht? Das Bundesverfassungsgericht hat angeregt, das Geschlecht ganz aus dem Personenstandsregister zu streichen.

Warum soll man Vielfalt nicht darstellen? Eine Differenzierung nach Geschlecht gibt es, sie zu streichen, wäre meines Erachtens unliberal.

Sie sind Familienbischof der katholischen Kirche, was heißt das eigentlich konkret?

Ich bin so etwas wie der Familienminister der Bischofskonferenz und leite die Kommission Ehe und Familie, die sich dieser Fragen annimmt und das Thema sowohl innergesellschaftlich als auch innerkirchlich wie international bearbeitet.

Sind Sie je auf Vorbehalte gestoßen, weil Sie selbst keine Ehefrau und Kinder haben?

Nein. Ich habe eine Schwester, Neffen, ich bin Tauf- und Firmpate, ich lebe in einer Familie. Meine Familie hat mich geprägt und ich bin durch eine Familie groß geworden. Zölibatär zu leben heißt nicht, unfamiliär zu leben. Als Priester und Bischof versuche ich zu leben, dass auch hier meine Familie ist. Aber manchmal ist Distanz wichtig. Und Zurückhaltung. Ich würde nie aufstehen und sagen, wie Familie zu leben ist. Das überlasse ich den Fachleuten, Ehepaaren, Eltern.

Es gibt eine große Bewegung, die das Zölibat abschaffen möchte. Würden Sie den Befürwortern Hoffnung machen?

Das Zölibat kann natürlich aufgehoben werden, ohne dass das kirchliche Selbstverständnis verloren ginge. Aber es wäre schon gravierend. Als ich Studentenpfarrer war, habe ich Weihnachten immer mit Studentinnen und Studenten gefeiert, die nicht nach Hause fahren konnten. Es ist etwas anderes, ob ich bei ihnen bleibe oder irgendwann sage, ich gehe jetzt und feiere mit meiner Familie weiter. Oder wenn ich bei Menschen mit schwerstem Handicap bin und sage, ich bleibe, ich habe auch kein Zuhause. Ehelos zu leben ist aber auch ein Glaubenszeugnis für mich.

Und zwar wie?

Gott ist für mich kein abstraktes Wesen, sondern eine ganz persönliche Liebesbeziehung. Das drückt sich in dieser Lebensform aus. Ich wäre auch gerne Familienvater geworden, wenn ich eine Frau gefunden hätte. Ehelos zu leben bedeutet für mich: Wir sind auf einem Weg, Gott wird die Erfüllung bringen, nichts auf dieser Erde. Auf diesem Weg trägt jeder seinen Mangel, seine enttäuschten Lebensperspektiven mit sich. Das verkörpere ich in dieser Lebensform.

"Weihnachten ist kein Fest der Idylle"

Heiner Koch ist Erzbischof von Berlin.
Heiner Koch ist Erzbischof von Berlin.
© Mike Wolff

Weihnachten gilt als Familienfest. Welchen Stellenwert hat denn Familie noch?

Familie ist keine Erfindung: Wir wurden alle in eine Familie hineingeboren, die Botschaft, dass Gott in einer Familie geboren, ein Familienkind wurde, ist sehr wichtig. Als Mensch bin ich ein Familienmensch, das Kind einer Familie. Das wird an Weihnachten besonders deutlich.

Im Wahlkampf überboten sich die Parteien mit Versprechen, was sie für Familien tun wollen. Hat Sie das überzeugt?

Die Familie muss in der Familienpolitik als eigener Wert behandelt werden. Es ist unerträglich, dass sie als ökonomische Größe gesehen wird, die ihren Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten soll. Viele familienpolitische Forderungen sollen erreichen, dass beide Elternteile möglichst schnell nach der Geburt der Kinder wieder voll arbeiten. Richtig wäre es aber zu überlegen, was der Familie nutzt, den Kindern und Eltern.

Was ist das Ihrer Meinung nach?

Die Schlüsse daraus werden nicht mehr einheitlich sein. Wenn einer länger aus dem Berufsleben aussteigen und zu Hause bleiben möchte, muss der Staat auch das fördern – und nicht nur gerade so ermöglichen. Das Leben kinderreicher Familien müsste deutlich stärker unterstützt werden. Das ist doch ein Drama: Der statistische Rückgang der Kinderzahl ist wesentlich auf einen Rückgang der kinderreichen Familien zurückzuführen.

Wäre dann ein Familiengeld eine gute Idee, wie es Manuela Schwesig als Familienministerin vorgeschlagen hatte?

Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Es geht auch nicht nur um Geld, es geht um Zeit, daran mangelt es Eltern und Kindern am meisten. Das Wort Herdprämie verunglimpft solche Wünsche.

Aber nicht immer halten Ehen ein Leben lang, und wer jahrelang aus seinem Beruf heraus ist, ist nach einer Scheidung häufig benachteiligt.

Natürlich, daher müssen die Alleinerziehenden stärker unterstützt werden. Genauso wie sozial schwache Familien.

Sollte der Staat die gemeinsame Familienzeit in den Vordergrund rücken?

Das ist meine Hauptforderung, ja. Vor allem in einer bestimmten Lebensphase. Wenn wir in Zukunft länger arbeiten müssen, brauchen wir mehr Variationen.

Was heißt das konkret?

Wann brauchen junge Eltern Geld? Am Anfang. Wann verdienen sie am meisten? Am Ende. Das ist paradox. Eigentlich müssten wir mehr in junge Familien investieren. Sind die Kinder aus dem Haus, brauchen Familien nicht mehr so viel.

Die Soziologin Jutta Allmendinger rät, dass beide Elternteile 80 Prozent arbeiten.

Der große Wurf heißt für mich: Freiheit der Familie. Das geht in die Richtung. Aber oft profitieren bei solchen Modellen einkommensstärkere Familien mehr als einkommensschwächere. Das muss berücksichtigt werden, zum Beispiel bei der Bildungsunterstützung.

Wir haben viel über den Wert von Familie gesprochen. Gerade an Weihnachten…

Noch einmal: Weihnachten ist kein Fest der Idylle!

Das passt zur Frage: Wie stehen Sie zum Familiennachzug von Flüchtlingen?

Ich halte das für unbedingt notwendig. Natürlich kann es Missbrauch geben, wenn ein Kind alleine losgeschickt wird, damit die Familie nachkommen kann. Aber Integration ohne Familie wird nicht gelingen. Erst recht bei der Bedeutung, die Familie in den Herkunftsländern der Menschen hat – häufig eine viel höhere als bei uns. Auch angesichts der Zahlen finde ich, ist das ein sehr kleiner Streit.

Die Debatte ist aber extrem aufgeladen.

Die Zahl der Flüchtlinge, die kommen, ist durch unterschiedliche Maßnahmen stark zurückgegangen, wir können mit diesen Fragen wieder gelassener umgehen.

Spüren Sie denn noch die viel gerühmte Willkommenskultur?

Unbedingt, die Mehrheit verhält sich auch so. Es ist unerträglich, dass, wer sich ablehnend äußert, in bestimmten Bereichen die Meinungsführerschaft haben soll. Das entspricht nicht meinen Erfahrungen. Aber es wird schwieriger mit der Willkommenskultur, da Integration viel länger dauert, als man gedacht hat, und viel teurer wird. Das ist keine Sache von ein oder zwei Jahren. Darüber müssen wir uns verständigen.

Sie haben in Dresden als Bischof die Pegida-Bewegung erlebt. Ist mit diesen Menschen denn Verständigung möglich?

Meine Erfahrungen in Dresden, gerade in der letzten Phase, waren sehr ernüchternd. Ich erwarte in einer Diskussion immer, dass der andere zumindest offen ist für meine Argumente, meine Sicht der Dinge und auch bereit ist zu lernen, sich zu verändern. Das gilt auch für mich.

Und da sind Sie enttäuscht worden?

Ja, diese Bereitschaft habe ich nicht mehr erlebt. Das Problem war die Gesprächsverweigerung. Und dennoch: Es gibt keinen anderen Weg. Wichtig ist aber auch, dass wir denen nicht zu viel Aufmerksamkeit zugestehen.

Der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel hat gerade gefordert, seine Partei müsse mehr über Begriffe wie Heimat oder Leitkultur sprechen. Auch eine Reaktion auf die Rechtspopulisten. Hat er recht?

Heimat ist ein ganz wertvoller Begriff, von Verantwortung, von Freiheit, von Mitgestaltung. Ich lasse mir diesen Begriff nicht rauben – gerade in Zeiten der Verunsicherung.

Und was ist mit der Leitkultur? Muss da das Christentum mit rein?
Nicht jeder hierzulande muss meinen Glauben teilen, aber Offenheit für Glauben kann ich schon erwarten. Der Begriff Leitkultur ist schwer fassbar, und darüber muss immer wieder nachgedacht werden. Aber die Freiheit, Christ zu sein, gehört auf jeden Fall zu unserer Leitkultur.

ZUR PERSON

Heiner Koch wurde in Düsseldorf geboren und wuchs dort auch auf. An seinem 26. Geburtstag wurde er im Kölner Dom zum Priester geweiht. Anschließend arbeitete der promovierte Theologe unter anderem in der Jugendseelsorge. Als Generalsekretär leitete er zwischen 2002 und 2005 die Vorbereitung und Durchführung des Weltjugendtags in Köln. Zum Bischof wurde Koch 2006 geweiht. Sechs Jahre war er als Beauftragter der Bischofskonferenz für die Auslandsseelsorge zuständig. 2013 wurde er Bischof von Dresden-Meißen. Im September 2015 übernahm er das Erzbistum Berlin von Kardinal Rainer Maria Woelki.

Zur Startseite