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Die Fenster der deutschen Kirche in Stockholm mit einer Abbildung von Christi Himmelfahrt.
© Getty Images

Christliche Kirchen in der Krise: Den Glauben verloren – immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus

Die Evangelischen Kirchen in Deutschland lassen die Gründe für die vermehrten Kirchenaustritte wissenschaftlich untersuchen. Lässt sich der Niedergang stoppen?

Die großen Kirchen verlieren Mitglieder, seit Langem und neuerdings sprunghaft.

Die Diskussion darüber, wie sich der Niedergang stoppen lässt, gibt es schon eine ganze Weile, doch so notwendig wie jetzt war sie vielleicht noch nie.

Die Evangelischen Kirche in Deutschland lässt die Gründe für die Misere nun wissenschaftlich untersuchen.

Wie steht es um die Bindekraft der christlichen Kirchen?

Ganz ehrlich? Schlecht. Oder: immer schlechter. Seit Jahren. Nehmen wir die Evangelische Kirche als Beispiel, die, nebenbei gesagt, in Berlin die stärkere der beiden ist. Erst einmal bundesweit: Da hat sie im vergangenen Jahr rund zwei Prozent ihrer Mitglieder verloren. Ende 2019 gehörten insgesamt 20,7 Millionen Menschen einer der 20 Gliedkirchen der EKD (Kürzel für Evangelische Kirche in Deutschland) an.

Georg Bätzing (rechts), Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz mit seinem Vorgänger Kardinal Reinhard Marx.
Georg Bätzing (rechts), Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz mit seinem Vorgänger Kardinal Reinhard Marx.
© Andreas Arnold/dpa

Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von rund 25 Prozent. Im Vorjahr waren es noch 21,14 Millionen Protestanten. Und zurückzuführen ist der Rückgang nicht zuletzt auf – Austritte: 270.000 Menschen, rund 22 Prozent mehr als im Vorjahr.

Kein Wunder, dass der Ratsvorsitzende, der Münchner Bischof Heinrich Bedford-Strohm, jetzt dringend die Gründe in einer Studie erforschen will. Die wird vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD vorgenommen werden und sich, eben wegen der hohen Steigerung, mit den vergangenen zwei Jahren befassen.

Sieht es bei den den Katholiken ähnlich aus?

Das kann man wohl sagen. Die Zahl der Austritte ist dort hoch wie nie zuvor. Insgesamt traten im vergangenen Jahr 272.771 Menschen aus. Die Anzahl der Katholiken betrug 2019 noch 22 600 371; der Katholikenanteil an der Bevölkerung ging von 27,7 Prozent auf 27,2 Prozent zurück.

Heinrich Bedford-Strohm, evangelischer Landesbischof in Bayern und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland bei einem Kirchweihgottesdienst.
Heinrich Bedford-Strohm, evangelischer Landesbischof in Bayern und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland bei einem Kirchweihgottesdienst.
© Daniel Karmann/dpa

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing aus Limburg, zeigte sich denn auch betroffen davon, dass die „Entfremdung zwischen Kirchenmitgliedern und einem Glaubensleben in der kirchlichen Gemeinschaft noch stärker geworden“ sei.

Kurz und schlecht: Damit haben die beiden großen Kirchen in Deutschland im vergangenen Jahr erstmals insgesamt mehr als 500.000 Mitglieder durch Austritt verloren. Zusammen gehören 52,1 Prozent oder 43,3 Millionen der 83,1 Millionen Bundesbürger einer der beiden großen Kirchen an.

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Zählt man Orthodoxe (letzte Angabe: 1,5 Millionen) und Mitglieder anderer christlicher Gemeinschaften (rund 900.000) dazu, liegt der Anteil der Christen bei 55 Prozent. Noch. Die jüngste Projektion sagt: Bis 2060 kann sich die Zahl der Gläubigen beider Kirchen halbieren!

Und wie ist es in Berlin?

Die Zahl der Kirchenaustritte in Berlin ist, logisch, 2019 auch deutlich gestiegen. In der Hauptstadt traten 20.556 Menschen aus einer Kirche aus, gegenüber 2018 ein Anstieg um 20,63 Prozent. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) musste 11.632 Austritte hinnehmen, das katholische Erzbistum Berlin 8719.

Die EKBO hatte Ende vergangenen Jahres in Berlin noch 534.036 Mitglieder, das Erzbistum Berlin liegt bei etwa 320.000. Gemessen an der Einwohnerzahl von Berlin von 3,77 Millionen gehört nur noch weniger als ein Viertel einer der beiden großen Kirchen an.

Wie könnte die Zukunft der EKD aussehen?

Sie – und nicht nur sie – arbeitet daran. Es gibt Thesenpapiere, wie das aus dem „Z-Team“ (Z wie Zukunft) der Evanglischen Kirche, die sich durchaus selbstkritisch lesen.

Weniger reden – weniger salbungsvoll auch –, viel machen, und das auch viel deutlicher in Zusammenhang mit dem Evangelium stellen, so lautet eine aus dem Kirchendeutsch übersetzte These. „Je weniger die Kenntnis christlicher Narrative vorausgesetzt werden kann, desto deutlicher muss auch der Rückbezug auf das Evangelium ausfallen. Die Kirche wird umso glaubwürdiger, je mehr bei ihr Reden rückgebunden bleibt an ihr eigenes zeichenhaftes und exemplarisches Handeln.“

Zu kompliziert? Eigentlich ziemlich einfach: authentische Frömmigkeit, diakonische Arbeit, Bildungsarbeit, Einsatz für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung – alles das lässt sich im Glauben an Jesus Christus begründen. Man muss aber darüber reden, und zwar so, dass die Menschen es verstehen.

Was muss sich ändern?

Oh Gott. Viel. Das Wort „Dialogfähigkeit“ muss dringend neu buchstabiert werden, erst recht in und nach den Corona-Zeiten. Auch das Digitale ist ja ein Missionsraum. Und entsprechend muss das missionarische Handeln gefördert werden, am besten über die Vernetzung lokaler und regionaler Angebote.

„Einwegkommunikation“ ist nicht nur nicht smart in den Augen der jungen Menschen – sie führt außerdem sowieso in die Irre. Oder anders: in die Sackgasse, aus der ein Entkommen schwierig wird. Sonst wird sich die Zahl der Gläubigen wirklich bis 2060 halbieren.

Die Menschen sind doch nicht mehr bloß Empfänger, Hörer, teilnahmslose noch dazu. Wirklich „Teilnehmer“ kann nur sein, wer einen Raum dazu erhält. Im übertragenen Sinn. Darum geht es: Streiten, ringen, diskutieren zu können – und zu kooperieren mit anderen zivilgesellschaftlichen Partnern.

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Um dahin zu kommen, wo die Schwachen, Ausgegrenzten, Verletzten, Bedrohten sind. Nicht um alle deren Probleme zu lösen, sondern eben, wie schon gesagt, zeichenhaft, exemplarisch zu zeigen, wie Problemlösung gemeinschaftlich gelingen kann.

Übrigens: gemeinschaftlich durchaus offensiv im ökumenischen Sinn. Die katholische Kirche ist ja, sagen wir mal, hier Schwester im Geiste auf der Suche nach einer guten Zukunft. Die muss bei beiden weniger „versäult“ sein, weniger hierarchisch, weniger bürokratisch. Hemmschwellen abbauen, offener sein für Experimente, beispielsweise auch für charismatische Elemente, für alles das, was Nicht-Kirchenmitglieder anziehen kann – will heißen: neue Formen von Gemeinde und von Gemeindeleben.

Brauchen wir die Kirchen überhaupt noch?

Aber sicher. Für die Zweifler: Wer kann mit Sicherheit sagen, dass es Gott nicht gibt? Nur mal so, um eine andere Form des Zweifels zu säen: Diese Winzigkeit eines Teils einer Sekunde, die die Wissenschaft nicht erklären kann – die kann für den Schöpfer die Zeit sein, in der er alles erschaffen hat, eine Ewigkeit.

Und dann, weil die Kirchen für die Menschen da sind, weil sie soziale Dienste leisten, weil sie dem Menschen als soziales und auf Sozialität angewiesenes Wesen dienen.

Die Diakonie und die Caritas sind da, gottesfürchtig gemeint, auch Werkzeuge. Sind Zeugen seines Wollens. (Da sind übrigens die Kirchensteuergelder gut angelegt!) Ein  Letztes: Trost suchen, Sinn suchen – beides ist Teil eines Weges, der zum Glauben führen kann. Man kann es ja mal versuchen. Wieder für die Zweifler: Rückversicherungen schaden nicht.

Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff engagiert sich seit Langem in der Evangelischen Kirche – unter anderem als Kreiskirchenrat in Teltow-Zehlendorf sowie als Domherr des Brandenburger Domstifts.

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