Proteste gegen Asylverfahren: Das provisorische Leben
Er ist aus dem Iran geflohen. Und hat erfahren, was einen Asylbewerber in Deutschland erwartet. Jetzt ist er in Berlin beim Protestcamp. Weil er nicht will, dass immer andere über ihn entscheiden.
Nur ein winziger Augenblick. In wenigen Minuten fährt der Nachtzug aus Italien an diesem Morgen in den Münchner Hauptbahnhof ein. Houmer Hedayatzadek, 23 Jahre, fast fertiger Elektroingenieur aus Maschhad, Irans zweitgrößter Stadt, steigt aus dem Bett, öffnet die Tür seines Abteils, streckt sich, sieht am Ende des Waggons zwei Polizisten Pässe kontrollieren.
Nur ein winziger Augenblick. Er hätte weglaufen, die Minuten bis München auf der Toilette, im Speisewagen überbrücken können. Doch er blieb. Ein Blick mit der Lupe, dann nahm der Polizist Houmers falschen Ausweis an sich, der andere legte ihm Handschellen an.
Das erzählt Houmer, heute 24, in einem Kreuzberger Café, den Cappuccino rührt er kaum an, die Regenjacke zieht er nicht aus. Gegenüber leuchten die Lichter des Berliner Protestcamps der Flüchtlinge, Houmer ist einer von ihnen.
Denn seit jenem Augenblick im Zug ist Houmer auch einer von etwa 35 000 Asylbewerbern in Deutschland jährlich. Die Zahlen steigen wieder, obwohl sie verglichen mit 400 000 im Jahr 1992 und mit anderen EU-Ländern niedrig sind. Weltweit, so schätzt die Uno, sind 43 Millionen Menschen auf der Flucht.
„In den ersten Monaten konnte ich nur an diesen einen dummen Moment denken. Warum bin ich im Abteil geblieben?“, sagt Houmer und streicht sich mit den dünnen Fingern durch die Haare.
In diesen ersten Monaten, im Sommer 2011 kommt Houmer erst ins Gefängnis Rosenheim, man stellt ihm eine Rechnung dafür, über 300 Euro, genau so viel hat er noch in der Tasche. Dann bringt man ihn in ein Auffanglager für iranische Flüchtlinge, danach in ein weiteres Lager und schließlich an den Ort, dessen Namen er belustigt ausspricht, genau wie die wenigen anderen deutschen Wörter, die er kann.
Cham, Ostbayern, knapp 17 000 Einwohner. Bayern geht besonders streng mit Flüchtlingen um. In seiner Asyldurchführungsverordnung will es „die Bereitschaft zur Rückkehr ins Heimatland“ fördern. Cham, Houmers „Lager“. „Abmelden“, „anmelden“ und „Residenzpflicht“ – diese Wörter kennt Houmer auch.
„Die Residenzpflicht ist ein einzigartiges, deutsches Konstrukt“, sagt Berenice Böhlo, 41. Sie ist Asylanwältin in Neukölln, müde heute nach langen Mandantenbesuchen, dramatischen Schilderungen, einer ihrer Mandanten hat sich gerade aus Protest gegen die Abschiebung die Treppe heruntergeworfen.
Für solche Fälle hat sich Böhlo durch ein Jurastudium gequält, seit ihr Anfang der 90er ein Flugblatt zur Änderung des Ausländergesetzes in die Hände gefallen war. „Das war eine solch brutale, ausgrenzende Sprache“, sagt sie. Auch deshalb klagt sie vor dem Verwaltungsgericht, wenn das Bundesamt für Migration in Nürnberg einen Antrag abgelehnt hat, stellt neue Anträge, wenn sich die Bedingungen in den Heimatländern verändert haben, kämpft für Sozialleistungen, Arbeitserlaubnisse, Duldungen und deutsche Pässe. Meistens ist sie professionell, kann die Schicksale im Kopf zu Akten machen. Manchmal nicht. „Als ich schwanger war und sah, wie tschetschenische Frauen ihren Bauch, ihre Kinder und die Sorgen trugen, wo der Mann ist, wie es weitergeht, hat mir das viel ausgemacht“, sagt sie.
Residenzpflicht: „Ein irrsinniges, deutsches Konstrukt“
„Ein irrsinniges, deutsches Konstrukt, die Residenzpflicht“, wiederholt sie dann mit tiefer, ruhiger Stimme. Danach dürfen Asylbewerber ihren zugeteilten Landkreis nicht verlassen. „Wer es dennoch tut, begeht eine Ordnungswidrigkeit, wer es – das zeigt die Praxis – mehrmals tut, bekommt eine Strafanzeige“, sagt Böhlo. Die Polizei verfolge diese Fälle streng, zur Abschreckung. „Man will Deutschland nicht noch attraktiver machen.“ Deshalb dürfen Asylbewerber in den meisten Bundesländern auch keine eigenen Wohnungen beziehen.
Houmer hat sich in den letzten Wochen mehrmals strafbar gemacht, als er mit anderen Flüchtlingen und Unterstützern 568 Kilometer, von Würzburg nach Berlin, marschiert ist. Cham, sagt er jetzt wieder und lächelt seine Zahnspange frei. Cham, wo er mit zwei Jungs auf dem Zimmer war, die er sich zuallerletzt ausgesucht hätte. Wenn er die Wahl gehabt hätte. Cham, wo es an der Volkshochschule nur einen Deutschkurs für Fortgeschrittene gibt. Wo Houmer montags seine Einkaufsliste für zwei Wochen im Voraus schreiben musste und die Pakete in Empfang nahm. Wo er mit seinen 40 Euro Taschengeld nicht weit kam, sich Geld schicken ließ von seinen Eltern für einen Laptop. „Mein bester Freund.“
Houmer lächelt jetzt nicht mehr. Cham, wo er nachts nicht schlafen konnte und morgens nicht berührt werden wollte, wo es ihm zu laut, zu leise, zu kalt, zu warm war. Wo er nie wusste, ob er morgen abgeschoben würde. Wo er alles tat, einen Putzjob im Freizeitbad annahm für einen Euro die Stunde, nur, um gebraucht zu werden. Wo sein Hirn leerlief. Wo er in den Bussen häufiger nach dem Fahrschein gefragt wurde als andere. Und wo er irgendwann vergaß, nach den Gründen für die vielen Verbote zu fragen, weil er keine Wut mehr empfinden konnte, nichts mehr empfinden konnte. „Ich war mein Schatten“, sagt er.
„Ich will kein Fünf-Sterne-Hotel als Lager. Ich will nicht, dass die Regierung kommt und die Wände anders streicht. Ich will nur selbst wählen, wo und wie ich lebe.“ Vielleicht, sagt er, hätte er dann sogar genau Cham gewählt. Aber er hätte entschieden. „Entscheiden, das ist doch der Unterschied zwischen Menschen und Maschinen?“
Der Anwältin Böhlo ist es kalt geworden, sie zieht eine Strickjacke über die Schultern. In den letzten Jahren, sagt sie, hätten Flüchtlinge rein formal mehr Rechte bekommen. Es gibt jetzt mehr Gründe, beispielsweise geschlechtsspezifische Verfolgung, die beim Asylersuchen anerkannt werden. Faktisch würden aber immer noch menschenunwürdige Bedingungen herrschen. Faktisch, das sagt sie gern. In einem Asylverfahren muss der Flüchtling beweisen, dass ihm in seinem Heimatland Gefahr droht. Er braucht Gutachten, die den Ansprüchen der Behörden genügen. „Wie die Leute das faktisch organisieren, interessiert niemanden“, sagt sie. Wie die Leute, die wie Houmer in Cham, in einem kleinen Ort sitzen, in Prenzlau, in Eisenhüttenstadt, in Nosdorf-Horst, an den Traumaspezialisten kommen. Wie sie sich eine Stelle suchen, wenn sie nur nachrangig arbeitsberechtigt sind – ein Deutscher oder ein Ausländer mit besserem Status ist immer bevorrechtigt. „Faktisches Arbeitsverbot“, sagt Böhlo. Wie sie zu ihrem Anwalt fahren, wie sie den bezahlen. Böhlo arbeitet für kleine Vorschüsse, 100, 200, 300 Euro, für Ratenzahlungen von 30 Euro, sie arbeitet viel, weil sie nicht gut ist im Neinsagen. Faktisch breche Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention, wenn es 16-Jährige vor dem Strafrecht als Erwachsene behandle, ihnen faktisch Schulbildung verwehre, faktisch bekommen Asylberechtigte weniger Sozialleistungen als Deutsche. Faktisch könnten sie sich schwer integrieren, wenn ihnen immer gesagt würde, ihr Zustand sei nur vorübergehend, wenn sie nicht mal selbst einkaufen dürften in vielen Heimen. „Sie werden als soziale Wesen völlig zurückgedrängt.“
„Das Gesetz ist so ausgelegt, dass diese Warteschleife nur ein paar Monate dauert, faktisch dauert sie aber Jahre, manchmal Jahrzehnte.“ Das mache die Menschen kaputt, körperlich sichtbar, erzählt Böhlo. Und dann kämen Richter und lehnten einen Asylantrag ab – 84 Prozent sind negativ –, weil eine Verfolgungsgeschichte nach „allgemeiner Lebenswahrscheinlichkeit“ so nicht stimmen könne. „Es gibt aber kein allgemein“, sagt Böhlo.
Und so geht Houmers Verfolgungsgeschichte: Es war auch damals nur ein winziger Augenblick, der alles veränderte. Dezember 2009, der blutigste Tag der grünen Revolution. Der Student Houmer, seit Jahren leise oppositionell aktiv, steigt aus dem Auto, läuft zu den Demonstrierenden. „Eine unglaubliche Energie“, sagt er. In dem Kreuzberger Café tritt auf Houmers Stirn eine Ader hervor. Gänsehaut habe er gehabt, geweint, andere umarmen wollen, erzählt er, weil auf einmal alles möglich war: Reden, Spruchbänder gegen Ahmadinedschad, gegen Chamenei. „Nieder mit dem Diktator“, schreien die Demonstranten und auch, dass sie bereit sind zu sterben.
Was droht ihm, sollte er in den Iran zurück müssen. Gefängnis? Hinrichtung?
Dann fahren plötzlich Lieferwagen in die Menge, Scharfschützen feuern, Houmer flüchtet sich in Gassen, tritt auf den Boulevard, sieht einem Polizisten direkt in die Augen. Es folgten Gitterwagen, zwei Wochen im Militärgefängnis, Tritte, Beschimpfungen, seine Familie wusste nicht, wo er war, die Mutter erlitt einen Herzinfarkt, ein Richter ließ Houmers Haare abrasieren, um ihn zu demütigen, Houmer flog von der Universität, versprach der Mutter, nicht mehr zu demonstrieren, tat es dennoch. Ein Freund verriet ihn, Vorladung, erneute Vorladung, Durchsuchungsbefehl, Urteil in Abwesenheit. Houmer wurde festgenommen, bekam eine Leberentzündung, Freigang fürs Krankenhaus, traf sich schnell mit den Eltern, nahm ein wenig Geld, ein Notizbuch, ein paar Klamotten, ein paar Umarmungen, und dann war Houmer Hedayatzadek auf der Flucht.
1500 Euro zahlte er den Schleppern, die ihm halfen, die iranischen Berge hinter sich zu lassen. Mit im Preis: schnelle Wäsche in einem türkischen Dorf, Busfahrt, zwei Wochen in einem Istanbuler Keller, Fahrt über den Bosporus, Empfang durch die griechische Polizei, Haft in einer Halle, Verhör, bei dem er sich als Afghane ausgab, Freiheit, drei Versuche, mit einem falschen Pass aus Athen abzufliegen. Dann der Zug nach München.
Eine lebenswahrscheinliche Geschichte? 90 Prozent aller illegalen Einwanderer kommen über Griechenland in die EU. Aber es wird immer schwieriger, weil die Grenzen dichter werden, durch Radarkontrollen, Patrouillenflüge, Zäune. „Zugespitzt: Bald kann jeder zwischen fünf Therapieformen wählen, aber es kommt niemand mehr“, sagt Böhlo.
Wenn man sie fragt, wie sie sich die Welt vorstellt, lacht sie kurz. Weil man das, was jetzt kommt, für eine Utopie halten könnte. Aber eigentlich sei es eine Vision. „Visafreie Einreise für alle. Kommen, gehen, wiederkommen. Und wer beweist mir, dass nicht alle ein Stück vom Kuchen haben können?“ Andernfalls würden noch mehr Menschen sterben, in ihren Heimatländern oder auf der Flucht, auf den Meeren ertrinken, in Lastwagen ersticken, in Flüssen erfrieren. „Entweder kommt jemand aus elementarer Not, dann müssen wir ihm helfen, oder jemand kommt mit einem Migrationsplan. Dann wird er hier nicht von Hartz IV leben wollen.“ Wer es ernst meine, dass alle Menschen mit gleichen Rechten geboren seien, müsse das so sehen.
Houmer sieht das so und protestiert weiter, jetzt in Berlin. Die vergangenen Monate waren ein einziger Rausch. Er verlässt Cham, die Lebensmittelpakete, die Zimmergenossen, das Nichtstun. Er tritt in Würzburg in den Hungerstreik, nachdem sich ein Iraner im Flüchtlingsheim das Leben genommen hat. „Schmerzen“, sagt er über den Streik, „aber nur im Körper.“ Er trifft sich mit anderen Flüchtlingen, plant den Protestmarsch. „Mein neues Leben ist auf der Straße, in Zelten, aber ich habe es selbst entschieden.“ Seit drei Monaten hat er seinen Anwalt nicht angerufen, seine Eltern nicht gesprochen, in Cham, in der Kammer des Hausmeisters wartet vielleicht ein Brief der Polizei auf ihn, er weiß es nicht. Viele der marschierenden Flüchtlinge haben solche Briefe in den letzten Tagen bekommen. Ein Strafverfahren kann ein Ausweisungsgrund sein.
Houmer weiß auch nicht, was ihm droht, sollte er in den Iran zurück müssen. Gefängnis? Hinrichtung? Er weiß überhaupt nicht, wie es weitergeht. Er hat das Planen verlernt.
In den Iran würde er wahrscheinlich nicht abgeschoben. Seit der sogenannten Dublin-II-Verordnung werden Flüchtlinge in das EU-Land zurückgeschickt, das sie zuerst betreten haben. „Deutschland, das Land ohne EU-Außengrenzen, war einer der Motoren bei Dublin II und delegiert damit seine menschenrechtliche Verantwortung an andere EU-Staaten, die dann überlastet sind“, sagt Böhlo.
Deutschland könnte Houmer also in ein Flugzeug zurück nach Griechenland setzen. Aber weil die Haftbedingungen dort menschenrechtlichen Standards nicht genügen, wird das nicht geschehen. Offiziell sollen in der EU die gleichen Standards gelten, die Richtlinien und Verordnungen lassen aber großen Spielraum. „Es macht eben einen Unterschied, wo ich Asyl beantrage. Manche schieben nicht in bestimmte Länder ab, dann bleibt der Flüchtling so lange geduldet. Bei anderen ist die Anerkennungsquote hoch, bei wieder anderen kommt der Bewerber schnell in Haft“, sagt Böhlo.
Houmer hat in den letzten Wochen ein bisschen mehr Deutsch gelernt. „Mensch sein“, „Menschlichkeit“ skandiert er. Aber welcher Monat nach Oktober kommt, im christlichen Kalender, das weiß Houmer immer noch nicht.
Julia Prosinger