Asylpolitik: Der lange Marsch der Flüchtlinge
Sie haben sich längst strafbar gemacht. Aber sie haben sich auch befreit. Eine Gruppe Asylbewerber aus Bayern läuft nach Berlin. Ihr Marsch ist ein Protest gegen ihre Lebensumstände.
Sie haben diesen Moment extra gefilmt, so wichtig war er ihnen. Als sie mitten im Nirgendwo standen, im Wald zwischen Bayern und Thüringen, kurz vor dem Örtchen Henneberg, da wo einst eine Grenze die Bundesrepublik Deutschland von der DDR trennte. Sie kramen nach ihren Ausweispapieren, halten sie in die Kamera. Deutlich ist zu lesen, was darauf geschrieben steht: „Aufenthaltsgestattung“ und „Staatliche Gemeinschaftsunterkunft“. Dann zerreißen sie die Dokumente, einer nach dem anderen, und stecken die Schnipsel in Briefkuverts. Adressat: Bundesamt für Migration, Nürnberg.
Seit vier Tagen waren sie da schon unterwegs gewesen, 15 Leute, 20, manchmal mehr. Vier Tage zu Fuß, in denen sie einige Grenzen überschritten hatten. Die erste, als sie gerade losgelaufen waren, raus aus dem bayerischen Würzburg und raus aus dem Landkreis, was sie gar nicht durften.
Denn sie sind Asylbewerber und unterliegen der gesetzlichen Residenzpflicht, was bedeutet, dass sie zu bleiben haben, wo man sie hingesetzt hat: in ihrer Unterkunft und deren Umkreis, so wie es die zuständige Ausländerbehörde erlaubt. Anfang September hatten sie genug und machten sich auf den Weg Richtung Berlin, ins Zentrum der Regierung, deren Asylpolitik sie kritisieren. Es sind über 568 Straßenkilometer, die sie laufen. „Refugee Protest March“ nennen sie die Aktion – Protestmarsch der Flüchtlinge.
Es ist ein Marsch, mit dem andauernd deutsches Recht gebrochen wird, ganz bewusst und absichtlich. Wer gegen die Residenzpflicht verstößt, begeht eine Ordnungswidrigkeit und im Wiederholungsfall eine Straftat. Im Asylverfahrensgesetz steht: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer wiederholt einer Aufenthaltsbeschränkung zuwiderhandelt.“
Sie haben sich längst strafbar gemacht. Aber sie haben sich auch befreit.
„Wir machen jetzt diese Grenze für uns kaputt, und wir machen andere Grenzen kaputt“, sagt einer in der Gruppe.
Angekommen im Freistaat Thüringen, marschieren sie weiter. Einige deutsche Unterstützer begleiten den Tross mit Autos, fahren vor, kümmern sich um Essen und Übernachtung, nehmen Gepäck und Schlafsäcke mit. Sie informieren auf einer Homepage über den aktuellen Stand, setzen sich mit den Behörden auseinander. Um was es den Flüchtlingen geht, das skandieren sie auf der Strecke immer wieder lautstark: „Kein Mensch ist illegal – Bleiberecht überall.“
Die Polizei in Thüringen empfängt sie freundlich, sichert einen Kilometer des Marsches auf einer vielbefahrenen Landstraße ab, bevor es wieder in den Wald geht. Der Iraner Keyvan Shafiee sagt: „Ich kann jetzt besser atmen.“
Die Wanderung der Asylbewerber ist nicht nur ein wortwörtlicher Aufbruch. Es ist ein neues Gefühl, das sie dem erzwungenen Nichtstun, dem Eingesperrtsein, dem monate- und jahrelangen zermürbenden Warten auf einen Asylentscheid entgegensetzen.
Tag acht des Marsches, Waltershausen in der thüringischen Provinz, nicht weit entfernt von Gotha. Am Morgen um halb zehn greift Mohammed Kalali das Megafon. Laut und durchdringend ruft der schmale Mann die Menschen zusammen, während er hin und her läuft. Der Verstärker lässt seine Sätze scheppern, sie erinnern an den Weckruf eines Muezzin. „Guten Morgen, bitte alle bereitmachen, in 15 Minuten gehen wir los.“ Drei, vier Mal wiederholt der 32-Jährige das, und innerhalb kurzer Zeit kommen alle aus einem großen roten Backsteinhaus, einer nach dem anderen, die Rucksäcke in den Händen, die Wanderschuhe geschnürt. Diese Nacht haben sie nicht im Zelt verbracht, sondern in diesem teilweise sanierten Jahrhundertwendebau, ein multikultureller Treff, der von einem Verein namens „Kommune“ betrieben wird.
Keyvan Shafiee trinkt noch einen Schluck Instantkaffee aus dem Plastikbecher. Pflaster für die Füße werden herumgereicht. Das nächste Ziel ist Cobstädt, 370 Einwohner. Bis zur thüringischen Landeshauptstadt Erfurt ist es nicht mehr sehr weit. Die Strecke nach Berlin haben sie sich in 25 Etappen aufgeteilt. Wo immer sie einen Platz zum Zelten, oder, wie in Waltershausen, sogar Zimmer bekommen, übernachten sie.
Wieder nahm sich einer das Leben - da begann ihr Protest
„Ich habe mich wie ein Gefangener gefühlt“, erzählt Shafiee über die Zeit, als er in einer Sammelunterkunft für Asylbewerber in Nürnberg lebte. „Man hält es dort nicht aus, es ist zu laut, zu eng.“ In Gorgan im Nordiran hatte der 24-Jährige mit der hellen Haut und den rötlichen Haaren Bauingenieurswesen studiert, bevor er nach Deutschland floh. Nach den Protesten gegen den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad vor drei Jahren wurden er und weitere Studenten verfolgt. „Die Polizei hat viele abgeholt, sie sind seitdem verschwunden.“ Nun ist er zwar in Sicherheit in Deutschland, doch frei bewegen kann er sich nicht. „Hier kann ich nicht an die Uni, kann nicht einmal einen Sprachkurs besuchen“, klagt er. Seit elf Monaten wartet Shafiee auf seinen Asylbescheid.
Nicht jeder hält die Warterei, die Enge des Asylbewerberheims aus, viele werden depressiv, immer wieder nimmt sich jemand das Leben. Als dies in Würzburg zuletzt geschah, als sich ein 29-jähriger Iraner erhängte, beschlossen sie zu handeln. Sie demonstrierten in der Würzburger Innenstadt, traten in Hungerstreik. Und als all dies nichts brachte, brachen sie auf.
Der Marsch auf die Hauptstadt bedeutet der kleinen Gruppe sehr viel. Nicht nur, weil sie hoffen, dass sie damit tatsächlich auf die Lebensbedingungen von Asylbewerbern in Deutschland aufmerksam machen können. Sie glauben auch, dass ein Marsch Symbolkraft hat. Vielleicht ähnlich wie damals, 1963, beim „March on Washington“ in den USA, der berühmten Demonstration gegen Rassendiskriminierung, als Hunderttausende kamen und Martin Luther King sagen hörten: „I have a dream.“ Es ist kein Vergleich, natürlich. Sie sind nur so wenige. Leicht festzunehmen, leicht zu bestrafen.
Mohammed Kalali hat keine Angst vor Strafen. Er lächelt und sagt: „Nein. Wenn man einmal im iranischen Gefängnis saß, hat man vor nichts mehr Angst.“ In einer Mitteilung schreiben die Asylbewerber: „Wir werden keine Gesetze respektieren, die uns nicht als Menschen respektieren.“ Und der Kurde Hassan Siami sagt: „Ich bin ein Mensch, ich bin frei.“
Siami hustet und zieht doch an der dünnen selbstgedrehten Zigarette. Früher hat er im Textilhandel gearbeitet – „finanziell stand ich gut da, ich will hier in Deutschland nicht auf Kosten des Staates leben“. Hassan findet es erniedrigend, dass er von den Behörden Essenspakete vorgesetzt bekommt und seine Nahrung nicht selbst wählen darf: „Das ist wie bei den Tieren im Stall. Wie lange soll man so leben?“
Nun, auf ihrem Marsch, machen die Flüchtlinge eine neue Erfahrung: Es gibt in Deutschland Menschen, denen ihr Schicksal nicht egal ist. Etwa den Bürgermeister des Örtchens Henneberg, der ihnen zum Campieren eine Wiese neben dem Sportplatz zur Verfügung stellte. Bei der Abreise erhielten sie noch ein gemeindeamtliches Empfehlungsschreiben: Man könne diese Menschen bedenkenlos unterstützen, heißt es darin. Oder jenen älteren Mann im fränkischen Münnerstadt, der ihnen die erste Etage seines Hauses zur Verfügung stellte und sagte: „Ihr könnt hier machen, was ihr wollt.“
Doch es gibt auch die anderen. Die NPD hat die mutmaßliche Route der Flüchtlinge an ihre Orts- und Kreisverbände weitergeleitet. „Asyl ist kein Selbstbedienungsladen“, sagen sie. Die Neonazis an der Basis werden zu „vielfältigen Aktionen“ und „kreativem Protest“ gegen den Flüchtlingszug aufgefordert.
Am 4. Oktober wollen sie in Berlin ankommen
In Waltershausen steht die ganze Nacht lang eine Polizeistreife in der Nähe des alten Backsteinhauses, in dem die Asylbewerber übernachteten. Sie schützt die Demonstranten auch, als sie im örtlichen Asylbewerberheim vorbeischauen, um zu hören, ob sich vielleicht jemand ihrem Protestzug anschließen will. Vor der Unterkunft, einem Plattenbau in einem trostlosen Gewerbegebiet, steht ein kleiner, grauhaariger Wachmann, schwarze Kappe auf dem Kopf, einen hellbraunen Holzknüppel in der Hand. „Security“ prangt auf der Uniform. „Einlass verboten“, ruft er. Es kommt zum Gerangel, die Flüchtlinge schieben ihn beiseite. Das Haus wird nicht vom Landkreis verwaltet, diese Tätigkeit ist hier outgesourct. Verantwortlich ist eine in Dresden ansässige Firma für Gebäudeverwaltung und Tourismus. Privatisierte Asylbewerberversorgung.
Die Menschen laufen aus dem Haus in den Hof. Albaner, Syrer, Afghanen. Der Vater einer Roma-Familie aus Serbien sagt: „Wir haben jeden Tag Angst, dass die Polizei kommt und uns abholt.“ Kinder springen umher, Babys werden getragen. Der Sicherheitsmann alarmiert die Polizei, sie rückt mit mehreren Wagen an.
Doch der diensthabende Beamte schickt zuerst den Wachmann weg und sagt, dass hier jeder jeden besuchen dürfe. Er vereinbart mit der Gruppe, dass sie eine halbe Stunde bleiben und dass es nicht zu Ausschreitungen kommt. „Wir sind hier für die Menschen und ihre Sicherheit verantwortlich.“
Muss die Polizei nicht einschreiten, wenn doch ständig gegen die Residenzpflicht verstoßen wird? „Nein, wir haben dafür keine Order“, sagt der Einsatzleiter. Warum die Politik dies alles duldet, dazu gibt es keine offiziellen Stellungnahmen. Bayern dürfte es vielleicht ganz recht sein, dass die Leute jetzt erst einmal aus dem Freistaat verschwunden sind. Und die anderen Landkreise und Bundesländer halten die Flüchtlinge nicht auf.
Am 4. Oktober, in knapp zwei Wochen, will der kleine Tross schließlich in der Hauptstadt ankommen, Quartier aufschlagen und Forderungen stellen. Wo sie campieren wollen, ist noch unklar. An wen genau sie sich wenden wollen, ebenso. Den Bundesinnenminister? Die Kanzlerin? „Wir wissen es noch nicht“, sagt Mohammed Kalali. Die Gruppe will das erst kurz vor Berlin entscheiden. Hassan Siami sagt: „Ich gehe nicht mit leeren Händen zurück“ Sie stellen sich darauf ein, notfalls in Berlin zu überwintern.