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EU-Kommissionsvize Timmermans hält es für an der Zeit, dass die Älteren in der Klimapolitik Solidarität mit der Jugend zeigen.
© Olivier Matthys/REUTERS

EU-Kommissionsvize Timmermans: „Bei der Bestellung der Impfstoffe wurden Fehler gemacht“

EU-Kommissionsvize Timmermans räumt Fehler in Brüssel bei der Impfstoff-Bestellung ein. Einer politischen Aufarbeitung will er sich nicht verweigern.

Frans Timmermans ist als Vizechef der EU-Kommission zuständig für den „Green Deal“ der EU. Damit verbindet sich das Ziel der EU, bis 2050 alle Treibhausgase zu vermeiden oder zu speichern. Timmermans geht schon einmal mit gutem Beispiel voran: Als Dienstwagen fährt der Niederländer ein deutsches E-Auto. Zum Interview per WebEx, in dem es um den Klimawandel, die Corona-Krise und das Impfen in der EU geht, schaltet sich der 59-Jährige aus seinem Arbeitszimmer auf dem heimischen Dachboden zu. Das Interview führte Albrecht Meier gemeinsam mit den "Salzburger Nachrichten".

Herr Timmermans, können Sie uns sagen, wie oft Sie während der Pandemie von zu Hause aus arbeiten?
Im Durchschnitt bin ich zwei Tage pro Woche in meinem Büro im Kommissionsgebäude und die übrigen Tage zu Hause. Ich bin jetzt auch gerade auf dem Dachboden bei uns zu Hause. Ich zeige Ihnen mal, wie das aussieht (vergrößert den Bildausschnitt). Von hier aus habe ich heute schon mit dem Großteil des finnischen Kabinetts gesprochen.

Aber das Shirt des italienischen Fußballspielers Francesco Totti, das man im vergrößerten Bildausschnitt bei Ihnen im Hintergrund sieht, haben Sie den Kolleginnen und Kollegen aus Helsinki nicht gezeigt?
Stimmt. Ich bin Ehrenmitglied von AS Rom, und ihr Kapitän Francesco Totti ist über die Jahre hinweg ein Freund geworden.

Solche privaten Einblicke sind ja inzwischen Teil der neuen Homeoffice-Kultur, die mit der Pandemie entstanden ist. Mehr Homeoffice und weniger Pendelfahrten zur Arbeit – wird das auch in Post-Corona-Zeiten das Modell für die Zukunft sein?
Teilweise schon. Das hängt natürlich davon ab, welche Arbeit man macht. Im zurückliegenden Corona-Jahr haben wir uns ganz wesentlich auf viele Menschen gestützt, die nicht das Glück haben, zu Hause arbeiten zu können. Und es ist auch nicht förderlich, ausschließlich von zu Hause aus tätig zu sein. Ich würde verrückt werden, wenn ich permanent hinter dem Bildschirm sitzen müsste. Dennoch sage ich: Wir werden unsere Arbeit in Zukunft anders organisieren.

Für die Sitzung mit der finnischen Regierung heute morgen wäre ich normalerweise nach Helsinki gefahren. Als virtuelles Meeting hat es aber auch wunderbar funktioniert. Diese Woche habe ich in Brüssel den US-Klimabeauftragten John Kerry getroffen – und zwar physisch. Physische Treffen sind wichtig, gerade wenn es um Verhandlungssituationen und schwierige Themen geht. Und davon wird es vor der UN-Klimakonferenz im November in Glasgow einige geben.

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Viele Europäer träumen derzeit nach Monaten des Lockdowns nicht von einer Geschäftsreise, sondern vom Urlaub. Sollen sie sich dafür lieber in den Zug statt ins Flugzeug setzen?
Es wäre schon eine gute Leistung fürs Klima, wenn nur die Langstrecken – also unter heutigen Umständen Distanzen von mehr als 600 bis 800 Kilometern - für Flugreisen vorbehalten wären. Mit Schnellzügen wird die Distanz, die gut mit dem Zug zurückgelegt werden kann, natürlich größer. Das wäre auch im Interesse der Fluggesellschaften, für die Kurzstrecken wirtschaftlich nicht übermäßig interessant sind. Andererseits muss gewährleistet sein, dass Zugfahren erschwinglich sind.

Ich habe mit meiner Frau schon seit längerem eine Reise nach Wien geplant. Normalerweise würden wir mit dem Auto fahren. Aber nun gibt es eine Verbindung mit dem Nachtzug, und den wollen wir nehmen – das ist auch romantisch. Wenn es um eine enge Verknüpfung von Bahn- und Flugangeboten geht, ist die Österreichische Bundesbahn ohnehin ein Vorbild für Bahnunternehmen in Deutschland oder in meinem Heimatland, den Niederlanden.

Damit klimaschonende Reisen in der EU möglich sind, müsste das grenzüberschreitende Bahnnetz weiter ausgebaut werden. Könnte dies nicht aus dem Corona-Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro finanziert werden, auf den sich die EU-Staaten im vergangenen Jahr verständigt haben?
Das ist durchaus denkbar. Im grenzüberschreitenden Bahnverkehr ist noch vieles verbesserungsbedürftig. So gibt es zum Teil noch verschiedene Stromfrequenzen oder unterschiedliche Sicherheitsvorschriften. Dies sollten wir eigentlich in den nächsten Jahren lösen. Das würde auch dazu beitragen, dass Bahnfahren über die Ländergrenzen hinweg günstiger wird.

Der Hilfsfonds soll die Mitgliedstaaten beim Umbau für klimagerechteres Wirtschaften unterstützen. Wie stellen Sie sicher, dass das Geld auf nationaler Ebene tatsächlich auch für Europas „Green Deal“ ausgegeben wird?
Mindestens 20 Prozent der Gelder müssen für die Digitalisierung ausgegeben werden, mindestens 37 Prozent für den Klimaschutz. Derzeit reden wir mit den Mitgliedstaaten über deren Pläne, wie sie die Mittel verwenden können. Wir sind in ständigem Austausch mit den Mitgliedstaaten, um sie in ihren Plänen zu unterstützen und sie darauf aufmerksam zu machen, wie diese noch verbessert werden können.

Alle Regierungen tun ihr Bestes, damit die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds möglichst schnell fließen können. Aber für gerade kleinere Mitgliedstaaten ist das schwieriger, weil manchmal Erfahrung und die nötige Zuarbeit in den Behörden fehlen. Aber die Kommission leistet da gerne Hilfestellung.

Trotzdem werden die Gelder wohl nicht vor dem kommenden Sommer fließen. Ist das nicht – mehr als ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie – zu spät?
Nein. Verglichen mit anderen EU-Entscheidungen sind wir jetzt sehr schnell. Wenn die Zustimmung zum Wiederaufbaufonds bis Anfang Mai in den nationalen Parlamenten endgültig erfolgt ist, dann können wir schnellstens loslegen. Die EU-Kommission steht bereit, die Mitgliedstaaten machen gerade ihre Hausaufgaben – und demnächst kann die Wirtschaft in der Gemeinschaft vom neuen Milliardenfonds profitieren. Denken Sie allein schon an den Mittelstand, für den eine klimafreundliche Gebäudesanierung eine erhebliche Bedeutung hat.

Der erzwungene Corona-Stillstand war gut fürs Klima. Wie groß ist Ihre Sorge, dass nach dem Ende der Pandemie wieder mehr Treibhausgase ausgestoßen werden?
In China und anderen asiatischen Ländern steigen die Emissionen bereits wieder. Aber genau jetzt ist der Zeitpunkt für einen klimapolitischen Umbau gekommen. Das lässt sich auch mit der Pandemie gut begründen: Während der Corona-Krise ist es gerade die jüngere Generation, die Solidarität mit den Älteren zeigt. Wäre es deshalb nicht an der Zeit, dass wir uns jetzt beim Klimaschutz solidarisch mit unseren Kindern und Enkelkindern zeigen? Wir haben keine Zeit zu verlieren.

Der US-Klimabeauftragte John Kerry und ich haben das diese Woche auch besprochen: Wenn wir die Trendwende nicht in den kommenden Jahren hinbekommen, dann schaffen wir es nicht mehr, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Und dann werden unsere Kinder wegen der Knappheit von Wasser oder Nahrung Kriege führen.

Sehr eilig scheinen es aber auch die EU-Institutionen bei dem Thema nicht zu haben. Schon vor einem Jahr hat die Kommission ein Klimagesetz vorgeschlagen. Aber es fehlt immer noch eine Einigung über das Ziel bis zum Jahr 2030. Wer bremst da?
Das Europaparlament will eine Minderung um 60 Prozent, die Mitgliedstaaten möchten 55 Prozent. Ich hoffe, dass wir in den kommenden Monaten einen Kompromiss finden. Wir brauchen das Klimagesetz unbedingt vor dem Sommer. Es ist möglich, obwohl die Positionen derzeit noch relativ weit voneinander entfernt sind.

Sind die Mitgliedstaaten die Blockierer?
Man kann nicht alle Länder über einen Kamm scheren. Es gibt verschiedene Startpositionen, und der Umbau ist für manche Länder besonders schwierig. Das gilt beispielsweise für Polen, dessen Energieversorgung bis zu 80 Prozent an der Kohle hängt. Aber wir müssen so schnell wie möglich raus aus der Kohle. Damit das auch in Ländern wie Polen gelingt, muss die EU Solidarität zeigen, und das tut sie auch: Polen erhält einen erheblichen Anteil seines Bruttonationalproduktes in der Form von Unterstützung aus den anderen Mitgliedstaaten.

Zu den Besonderheiten einzelner EU-Länder gehört die starke Stellung der Automobilindustrie in Deutschland. Der VW-Konzern könnte vor 2035 aus dem Verbrennungsmotor aussteigen. Wünschen Sie sich noch mehr Tempo?
Es stimmt schon, dass die Automobilindustrie in Europa bei der Elektromobilität langsamer gewesen ist als Unternehmen in anderen Teilen der Welt. Aber trotzdem hat die Pkw-Branche in Europa das Zeug dazu, zügig die flächendeckende Einführung von E-Autos zu schaffen. Viele Bürgerinnen und Bürger wollen auch auf E-Autos umsteigen, auch wenn viele es sich heute noch nicht leisten können.

Für die Automobilindustrie wird der Übergang schwierig sein, aber ich habe Vertrauen, dass wir das schaffen können. Es wird auch in Zukunft in der Branche viele Jobs geben, aber es werden andere Jobs sein. Wir müssen mit den nationalen Behörden zusammenarbeiten, um den Umstieg abzufedern und Umschulungsmöglichkeiten anzubieten.

Die Kommission will mit strengeren CO2-Normen den Ausstoß der Pkws erheblich senken. Woran denken Sie im Detail?
Bis zum Sommer müssen wir einen Vorschlag zu den neuen CO2-Grenzwerten und anderen Maßnahmen machen. Das wollen wir im Einklang mit der Industrie hinbekommen. Ich weiß, dass es da viele Widerstände in der Automobilindustrie gibt. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen: In der Vergangenheit hieß es aus der Branche regelmäßig, dass neue Vorgaben für Grenzwerte unmöglich zu schaffen seien. Und dennoch haben wir gerade in diesem letzten Jahr gesehen, dass die Automobilindustrie es dann doch geschafft hat.

Über Kreuz liegen Sie mit Deutschland auch, wenn es um das russische Erdgasprojekt Nord Stream 2 geht. Ist die Pipeline aus energiepolitischer Sicht sinnvoll?
Wir brauchen Nord Stream 2 nicht. Die Kommission hat immer gesagt, dass aus unserer Sicht das Projekt für die Energieversorgung der EU nicht nötig ist. Aber Nord Stream 2 existiert. Dennoch muss die EU-Kommission darauf achten, dass Nord Stream 2 in Einklang mit den EU-Regeln genutzt wird. Das mag Russland zwar nicht. Aber das sind die EU-Vorschriften.

Kommen wir zur Impfstrategie der EU - einem Thema, das seit Wochen in Brüssel für heftige Diskussionen sorgt. Der Impfstoff wird in der EU nur recht langsam verteilt. Wäre es im Rückblick nicht sinnvoller gewesen, statt der EU-Kommission eine nationale Impf-Allianz mit der Bestellung der Impfstoffe zu beauftragen?
Nein. Ich verstehe den Anspruch der Bürgerinnen und Bürger, dass wir den Impfstoff schnellstens liefern müssen. Aber man muss sich vor Augen führen, was für eine Tragödie es ausgelöst hätte, wenn sich einige Mitgliedstaaten die Vakzine hätten leisten können und andere nicht. Wenn wir als Europäische Union nicht auf der Basis unserer gemeinsamen Werte operieren, und nur die reichsten sich den Impfstoff leisten können, wäre das für alle ein Problem gewesen, nicht nur für die ärmeren Länder. Das haben auch Staaten wie Deutschland und die Niederlande, die anfangs in der Impf-Allianz zusammengeschlossen waren, begriffen. Sie haben eingesehen, dass ein europäisches Vorgehen besser ist. Es stimmt, dass bei der Bestellung der Impfstoffe sowohl in Brüssel als auch in den Mitgliedstaaten Fehler gemacht wurden. Aber ich stehe dazu: Ein europäisches Vorgehen bei der Impfstoff-Bestellung war auch im Interesse der reicheren Staaten.

Ist es nicht ein Armutszeugnis für die EU, dass ausgerechnet die Briten beim Impfen schneller sind?
Schauen wir einmal, wo wir Ende April stehen werden. Ich bin bereit, am Ende der Pandemie eine Bilanz zu ziehen. Dann können wir ja sehen, was wir falsch und was wir richtig gemacht haben. In der jetzigen Situation geht es aber darum, dass ganz Europa Impfstoff bekommt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir wieder unser normales Leben zurückbekommen. Für mich heißt das beispielsweise, dass ich wieder meine Eltern besuchen und meinen Enkelsohn in den Arm nehmen kann. So geht es Millionen von Europäern.

Soll Großbritannien die eigenen Impfstoff-Exporte Richtung EU und in andere Regionen offenlegen?
Zunächst einmal: Die EU exportiert Impfstoffe – und zwar mehr als andere Kontinente. Aber ich halte nichts davon, von anderen Staaten die Offenlegung ihrer Exporte zu verlangen. Was haben unsere Bürgerinnen und Bürger davon? Sie müssen zunächst einmal in großen Mengen mit Vakzinen versorgt werden.

Was ist für Sie die wichtigste Lehre aus diesem Corona-Jahr?
Meine Lehre lautet: Alleine stehen wir schlecht da, aber zusammen können wir alles schaffen. Damit meine ich nicht nur die Europäische Union und die einzelnen Nationalstaaten. Ich meine damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ich bin so stolz auf die Millenials und Generation Z – die Generation, die jetzt kommt. Diese jungen Menschen haben sich unglaublich aufgeopfert im vergangenen Jahr. Auch wenn wir ein schreckliches Jahr hinter uns haben, gibt diese Erfahrung doch Hoffnung für die Menschheit. Und jetzt müssen wir beim Klimaschutz diesen jungen Leuten etwas zurückgeben.

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