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Zerstörtes Land. Einige Regionen in Idlib gleichen einem Trümmerfeld.
© Omar Haj Kadour/AFP

Schlacht um das syrische Idlib: Assads Aufmarschgebiet

Syriens Armee macht mit einer Taktik der verbrannten Erde gegen die letzte Bastion der Opposition mobil. Zehntausende Zivilisten fliehen vor der Offensive.

Die Menschen in Idlib hatten schon lange mit dem Schlimmsten gerechnet – jetzt hat die entscheidende Schlacht um die letzte Bastion der Aufständischen in Syrien begonnen. Die Städte und Dörfer in der Region an der türkischen Grenze liegen seit Tagen unter schwerem Beschuss.

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte zählte vor Kurzem in dem Gebiet rund 600 Angriffe innerhalb von nur 24 Stunden. Das US-Außenministerium sprach jüngst sogar vom Verdacht eines neuen Giftgaseinsatzes. Es scheint, dass das Regime von Baschar al Assad alles daran setzt, Idlib der Kontrolle seiner Gegner zu entreißen – mit vermutlich verheerenden Folgen vor allem für Zivilisten.

Die Schlacht

Schon seit mehreren Wochen greifen die syrische Armee und ihre russischen Verbündeten die Hochburg der bewaffneten Opposition verstärkt an. Sie begründen dies mit dem Kampf gegen islamistische Extremisten, die immer wieder syrische Stellungen und russische Militäranlagen attackieren. Offiziell ist immer noch eine Feuerpause in Kraft, die im Herbst 2018 vereinbart wurde.

Doch die Abmachung steht nur noch auf dem Papier. Ebenso, dass Idlib zu vier „Deeskalationszonen“ gehört, in denen ohnehin die Waffen schweigen sollen. Nur hält sich keiner daran. Die Islamisten lehnen den Abzug aus einer im September vereinbarten Pufferzone ab. Und Assad will Idlib ebenso wie alle anderen Teile Syriens nach mehr als acht Jahren Krieg endlich seinem Herrschaftsgebiet einverleiben.

Machthaber Baschar al Assad will die Provinz mit allen Mitteln wieder unter seine Kontrolle bringen.
Machthaber Baschar al Assad will die Provinz mit allen Mitteln wieder unter seine Kontrolle bringen.
© Marko Djurica/Reuters

Die Gegner

Den syrischen Regierungssoldaten und ihren russischen Mitstreitern stellen sich in Idlib nicht nur 10.000 militante Kämpfer der dschihadistischen Miliz Hayat Tahrir al Scham (HTS) entgegen, die Verbindungen zum Terroristennetzwerk Al Qaida hat und weite Teile der Provinz mit harter Hand beherrscht. Auch Milizen, die von der Türkei unterstützt werden, werfen Truppen in die Schlacht. In den vergangenen Tagen erhielten ihre Verbände massive Verstärkung durch Einheiten mit gepanzerten Fahrzeugen.

Die Türkei selbst hat Soldaten in zwölf Beobachtungsposten in Idlib stationiert, die bereits mehrmals Ziel von Angriffen geworden sind. Einen Rückzug aus Idlib schloss Verteidigungsminister Hulusi Akar dennoch aus. Für Ankara sind die neuen Gefechte ein Alarmzeichen: Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin im September den Waffenstillstand für Idlib ausgehandelt.

Ankara befürchtet, eine Großoffensive des Regimes in Damaskus könnte mehrere Millionen neue Flüchtlinge in die Türkei treiben. Aber das Land gewährt bereits mehr als drei Millionen Syrern Schutz. Trotz seiner Vereinbarung mit Erdogan deutete Putin kürzlich an, dass ein Großangriff in Idlib möglich sei. Der Kremlchef und sein Partner Assad scheinen nun ernstzumachen.

Die Mittel des Kampfes

Der US-Regierung zufolge gibt es „Anzeichen“, dass Assads Armee erneut Chemiewaffen eingesetzt habe. Bei Kämpfen am vergangenen Sonntag in Idlib soll Chlorgas zum Einsatz gekommen sein. „Zahlreiche Quellen“ hätten davon berichtet, teilte das Außenministerium in Washington mit.

In den vergangenen Jahren hatten die Amerikaner nach Giftgaseinsätzen zwei Mal Einrichtungen der syrischen Streitkräfte bombardiert. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte erklärte allerdings, es gebe keine Hinweise auf einen neuen Chlorgaseinsatz. Moskau wiederum wirft Oppositionsgruppen vor, selbst Giftgas einsetzen zu wollen, um Militärschläge der USA gegen Assad zu provozieren.

Doch für die meisten Chemiewaffenattacken ist nach Auffassung der Vereinten Nationen die Assad-Regierung verantwortlich. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt das Berliner Institut Global Public Policy. Die Denkfabrik zählt in einer Untersuchung mehr als 330 Giftgaseinsätze – fast alle gingen auf das Konto des Regimes.

Die Not der Verzweifelten. Drei Millionen Menschen leben in Idlib, die meisten sind auf Hilfe angewiesen. Und die Offensive macht viele wieder zu Flüchtlingen.
Die Not der Verzweifelten. Drei Millionen Menschen leben in Idlib, die meisten sind auf Hilfe angewiesen. Und die Offensive macht viele wieder zu Flüchtlingen.
© Omar Haj Kadour/AFP

Dabei hatte Assad 2013 zugesichert, seine Chemiewaffen zu zerstören. Doch bis heute ist unklar, ob der Machthaber tatsächlich alle Bestände vernichtete. Zudem ist es untersagt, Chlorgas für militärische Zwecke zu nutzen.

Selbst ohne Giftgas sind die Kämpfe extrem brutal. Raketen, Fassbomben, Panzer und Sprengfallen kommen zum Einsatz. Die Islamisten – in die Enge getrieben und nicht bereit aufzugeben – lassen Selbstmordattentäter mit bombenbeladenen Fahrzeugen in die Stellungen ihrer Gegner fahren.

Auf Zivilisten nimmt keine der beiden Seiten Rücksicht. So griffen Kampfflugzeuge des Regimes unter anderem die Stadt Dschisr al Schugur in Idlib an, die nur zehn Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt. Die „Weißhelme“, eine Art syrischer Zivilschutz, berichten von gezielten Luftangriffen der Syrer und Russen auf Kornfelder. Mit dieser Taktik der verbrannten Erde soll die Grundlage der Lebensmittelversorgung für die Menschen zerstört werden.

Auch Schulen und Krankenhäuser werden immer wieder gezielt bombardiert. Und das, obwohl die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen den Kriegsparteien die Koordinaten von Kliniken geben, um den Beschuss zu verhindern.

Vor Kurzem fragte der UN-Nothilfekoordinator Mark Lowrock im Weltsicherheitsrat denn auch: Werden diese Koordinaten nicht zum Schutz, sondern als Zielkoordinaten missbraucht? Er verwies zudem darauf, dass für derartige Attacken eine moderne Luftwaffe und Präzisionswaffen erforderlich seien – ein kaum kaschierter Vorwurf Richtung Syriens Regime.

Das Leid der Zivilisten

An der geschlossenen Grenze zwischen Idlib und der Türkei campieren mehrere Hunderttausend Menschen, die vor den Gefechten in anderen Teilen der Provinz dorthin geflohen sind. Mehr als 40.000 weitere Menschen suchen nach Einschätzung von Hilfsorganisationen Schutz in der Provinzhauptstadt Idlib.

Etwa 40 Kilometer weiter südlich drängen sich 50.000 Flüchtlinge in der Kleinstadt Marat al Numan. Dort tötete ein Luftangriff diese Woche zwölf Menschen. Der Angriff begann nach dem abendlichen Fastenbrechen im Ramadan, als besonders viele Menschen auf den Straßen waren.

In Idlib leben etwa drei Millionen Menschen, darunter eine Million Kinder. Die Hälfte der Bewohner ist bereits aus anderen Teilen des Landes vertrieben worden und hat sich in der Provinz niedergelassen. Viele von ihnen hausen in erbärmlichen Unterkünften. Die wenigen Flüchtlingslager sind völlig überfüllt. Fast alle Kinder, Frauen und Männer sind dringend auf Hilfe angewiesen.

Ihre Lage wird allerdings immer prekärer. Die Großoffensive macht sie nun wieder zu Flüchtlingen.

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