Ein Jahr nach dem Putschversuch: Angst regiert die Türkei
Ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei ist der längst nicht aufgeklärt – und das Interesse daran erstaunlich gering. Was treibt den Präsidenten Erdogan?
Als sich am Wochenende in Istanbul rund zwei Millionen türkische Regierungsgegner zu einer Kundgebung gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan versammelten, bejubelten Kritiker des Staatschefs schon das Ende einer Ära. „Erdogans Reich der Angst“ sei an diesem Tag zerbröckelt, kommentierte der frühere Oppositionspolitiker Aykan Erdemir. Die Oppositionellen sind nicht die einzigen Türken, die von Angst sprechen. Auch Erdogan selbst wird trotz seiner Macht von Furcht getrieben – und dies prägt die türkische Politik insbesondere seit dem Putschversuch vor einem Jahr.
Worum sorgt sich Erdogan?
Völlig unverständlich ist die Angst des 63-jährigen Staatschefs nicht: Er kommt aus der Schicht des frommen Kleinbürgertums, das über Jahrzehnte das Ziel von Diskriminierungen durch die säkularistischen Eliten der Türkei war. Als Istanbuler Oberbürgermeister wurde Erdogan Ende der 1990er Jahre wegen einer Rede ins Gefängnis gesteckt; seine damalige Partei wurde verboten. Selbst nach dem Regierungsantritt von Erdogans neuer Partei, der AKP, hörten die Angriffe nicht auf. Die Militärs drohten offen mit einem Putsch, die Justiz mit der Auflösung der Partei. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 passte also in das Selbstbild eines Mannes, der sich stets als Verfolgter sieht.
Erdogans Tragik liegt darin, dass er diese Erfahrungen zwar äußerst geschickt zur Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft genutzt, sie aber nie wirklich verwunden hat, sagt der Türkei-Experte Soner Cagaptay vom Washingtoner Institut für Nahost-Politik. Das chronische Misstrauen gegen alle Andersdenkenden macht Erdogan unfähig, auf Gegner zuzugehen und Kompromisse zu suchen.
Der Präsident fühle sich als Vertreter der Unterschicht, der in die Paläste der Macht vorgedrungen sei, sagte Cagaptay dem Tagesspiegel. Aber sicher fühle sich Erdogan deshalb nicht: Noch heute – und insbesondere seit dem Putschversuch – sei der Staatschef überzeugt, dass seine politischen Gegner nur auf eine Gelegenheit warteten, um ihn wieder dorthin zu schicken, wo er hergekommen sei. „Er lebt in ständiger Angst.“ Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge der Türkei unter seiner Regierung könnte Erdogan laut Cagaptay deshalb am Ende als Mann in die Geschichte eingehen, der das Land um Jahrzehnte zurückwarf, statt nach vorne zu bringen.
Was hat sich durch den Putschversuch vom 15. Juli 2916 verändert?
Als die Panzer rollten, die Kampfflugzeuge im Tiefflug über die Dächer Istanbuls donnerten und die Bürger auf die Straßen strömten, um sich den Soldaten entgegenzustellen, schien die Sache klar: Am Abend des 15. Juli 2016 griff eine Junta türkischer Militärs nach der Macht im Land, scheiterte aber am Widerstand viele türkischer Normalbürger und von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der einem Mordkomplott entging.
So sieht es Erdogans Regierung. Sie macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich. Gülen-treue Offiziere in der Armee wollten demnach mit vielen zivilen Komplizen im Staatsapparat die Regierung stürzen. Rund 250 Menschen starben in jener Nacht, in der unter anderem das Gebäude des Parlaments in Ankara beschossen wurde. Putschsoldaten blockierten eine der Bosporus-Brücken in Istanbul, während die Umstürzler im Staatsfernsehen eine Erklärung verlesen ließen, in der sie die Macht für sich beanspruchten.
Erdogan handelte entschlossen und ließ wenige Tage nach dem 15. Juli den Ausnahmezustand über das Land verhängen, der bis heute in Kraft ist und gerade ein viertes Mal verlängert werden soll. Schon bald wurde deutlich, dass die Behörden bei der Verfolgung der Putschisten auf alle möglichen Regierungsgegner zielten: Mehrere hundert Zeitungen und Fernsehsender wurden verboten, mehr als ein Dutzend Universitäten und über tausend Privatschulen wurden geschlossen. Die Regierung zog die Pässe von mehreren zehntausend Menschen ein. Rund 150.000 Beamte, Polizisten, Soldaten, Richter, Staatsanwälte, Lehrer und Universitätsdozenten sind bis heute entlassen worden. Mehr als 50.000 Menschen sitzen in Haft, darunter fast 200 Journalisten. Gerade erst wurden weitere 42 Akademiker und Regierungsbeamte festgenommen. Fast tausend Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von fast 20 Milliarden Dollar, deren Inhaber als Gülen-Anhänger galten, wurden verstaatlicht. Die Regierung rechtfertigt die Entlassungen und Festnahmen damit, dass die einst mit Erdogan verbündete Gülen-Bewegung völlig zerschlagen werden müsse, wenn ein neuer Putschversuch verhindert werden solle. Die Opposition spricht von einem anti-demokratischen Gegen-Putsch.
Der Opposition hat Erdogan ungewollt viel Zulauf beschert, wie sich bei der Massenkundgebung vom Wochenende zeigte. Dies wiederum dürfte seine Befürchtungen verstärken, dass seine Gegner hinter ihm her sind – und eine unerbittliche Verfolgung aller mutmaßlichen Sympathisanten der Umstürzler nötig.
Wie wirkt sich diese Einschätzung auf die türkische Außenpolitik aus?
Auch die Ausfälle des türkischen Staatschefs gegen die Europäer gehen zumindest zum Teil auf seine Ur-Ängste zurück. Wenn er über die angebliche Arroganz westeuropäischer „Kreuzzügler“ spricht, deutet Erdogan den Verdacht an, der christliche Westen wolle die muslimische Türkei unterdrücken. Die Vorstellung, dass Europa und die USA den Aufstieg der Türkei mit allen Mitteln verhindern wollen, ist für ihn und viele seiner Anhänger längst belegte Realität.
Wie sehr die Angst das Handeln Erdogans bestimmt, zeigte sich auch beim G-20-Gipfel in Hamburg: Dort wurde er nach der Festnahme einer Gruppe von Menschenrechtlern gefragt, die auf einer Insel bei Istanbul zu einem Workshop über digitale Sicherheit und Informationsmanagement zusammengekommen waren. Das Treffen habe der Vorbereitung eines neuen Putschversuches gedient, antwortete Erdogan. Beweise dafür legte er nicht vor. Aber auch nach dem Umsturzversuch des vergangenen Jahres hatte eine regierungsnahe Zeitung gemeldet, der Putsch sei von türkischen und ausländischen Verschwörern bei einer Konferenz auf derselben Insel organisiert worden.
Der Putschversuch passte Erdogan also gut ins Konzept?
Verbürgt ist jedenfalls, dass Erdogan den Staatsstreich noch in der Putschnacht selbst als „große Güte Gottes“ bezeichnete. Bald schon waren Zweifel an der offiziellen Darstellung der Ereignisse und der Hintergründe laut geworden. In Medienberichten war von Verhaftungslisten die Rede, die längst vor dem Putschversuch fertig in den Schubladen lagen.
Manche Kritiker stellen die Frage, wie es die Stadtverwaltungen etwa in Istanbul schaffen konnten, in kürzester Zeit hunderte Busse zu organisieren, mit Demonstranten zu füllen und zu den Brennpunkten des Umsturzversuches zu transportieren. In den ersten Prozessen gegen mutmaßliche Putschisten tauchten weitere Fragen auf: Angeklagte Offiziere sagten aus, die Armee habe den Putschversuch fingiert. Wer in der Putschnacht geschossen hat, ist ebenfalls umstritten: Viele der von den Umstürzlern aufgebotenen Soldaten sollen Rekruten ohne scharfe Munition gewesen sein. Unklar ist auch, warum einer der mutmaßlichen Putschführer, Adil Öksüz, kurz nach seiner Festnahme wieder freigelassen wurde – seitdem ist er untergetaucht.
Auch die offizielle Darstellung, wonach eine Kommandoeinheit der Aufrührer in der Putschnacht per Hubschrauber in den Urlaubsort Marmaris flog, um Erdogan festzunehmen, provozierte Nachfragen: Die Behörden hätten den Hubschrauber merkwürdigerweise fliegen lassen, obwohl zu dieser Zeit längst ein Flugverbot bestand, merkt Michael Rubin vom Thinktank AEI in Washington an. Bis heute ungeklärt ist auch die Rolle des Geheimdienstes MIT: Behördenchef Hakan Fidan soll frühzeitig über die Pläne der Putschisten informiert worden sein – doch ist unbekannt, warum er den Umsturzversuch nicht verhinderte. Eine von Erdogans AKP dominierte Untersuchungskommission des Parlaments untersuchte diese Frage nicht weiter.
Wie beurteilen Erdogans Gegner die Entwicklung?
Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu spricht von einem „kontrollierten Putsch“ und wirft der Regierung vor, die eigene Verwicklung verschleiern zu wollen. Zu den diskutierten Szenarien gehört, dass sich eine Gruppe türkischer Militärs – darunter auch Gülen-Anhänger – zu einem Staatsstreich entschloss, dass der Regierung dieser Plan vorzeitig bekannt wurde – und sie ihn als Gelegenheit nutzte, um gegen Erdogan-Gegner jedweder Couleur vorzugehen.
Vertreter der Gülen-Bewegung wie auch Gülen selbst, der in den USA lebt, stellen in Abrede, sie hätten etwas mit dem Putsch zu tun. Bildung und sozialer Aufstieg seien das primäre Ziel der Bewegung, erklärt Özcan Keles, der in London die Dialog-Gesellschaft leitet, die sich als von Gülens Ideen inspirierter Verein zur Förderung des Austauschs verschiedener gesellschaftlicher Gruppen präsentiert. Von türkischen Regierungsmedien wird er als „rechter Arm“ Gülens etikettiert.
Eine Unterwanderung des türkischen Staats oder gar der Armee habe es nicht gegeben, sagt Keles. Aber die Gülen-Bewegung habe die 1.000 besten Schulen in der Türkei betrieben: „Wohin werden die Leute also gehen? Sie werden natürlich Richter, Doktoren, Beamte.“ Die Präsenz von Gülen-Anhängern in der Gesellschaft sei deshalb statistisch unvermeidbar und eine Frage der „sozialen Mobilität“: Gebildete und ambitionierte Leute networken eben; viele dieser Netzwerke seien informell, manche auch formell.
Es gebe aber keine koordinierte Struktur in der Gülen-Bewegung oder gar eine geheime pyramidale Führungsstruktur mit verschiedenen Ebenen. „Wenn jemand Parallelaktionen verfolgt, dann ist es ein Problem. Wir unterstützen Rechtsverfahren gegen Leute, die Cliquen geschaffen haben“, stellt er zu Hinweisen auf Gülen-Anhänger unter den Putschisten klar. „Das geschieht aber gegenwärtig nicht in der Türkei“, sagt er mit Blick auf die Massenentlassungen per Dekret aus dem Staatsdienst.
Welche Perspektiven hat die Opposition?
Der Vorsitzende des Putsch-Untersuchungsausschusses im Parlament hat der größten Oppositionspartei, den Sozialdemokraten der CHP eine Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen. Historisch ist das nicht haltbar – doch der Vorwurf könnte auf kommende Gerichtsverfahren gegen Politiker der Kemalisten- Partei deuten. Denn CHP-Chef Kemal Kiliçdaroglu hat nach seinem viel beachteten Fußmarsch und der enorm großen Abschlusskundgebung in Istanbul innenpolitisch an Gewicht gewonnen. Unter dem Banner der „Gerechtigkeit“ und der Wiederherstellung des Rechtsstaats könnte er die Linke, die liberale Mitte und einen Teil der Nationalisten sammeln. Neuwahlen für das Amt des Präsidenten und für das Parlament sind spätestens im Herbst 2019.