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Kemal Kilicdaroglu wird auf den letzten Metern seines Marsches für Gerechtigkeit von seinen Anhängern gefeiert.
© Reuters

"Marsch der Gerechtigkeit" in Istanbul: Die türkische Opposition fasst neuen Mut

Erdogan-Widersacher Kemal Kilicdaroglu inspiriert die Gegner des Präsidenten – das zeigt auch die Abschlusskundgebung vor über einer Million Türken.

Mehr als eine Million begeisterte Menschen mit Fahnen, Plakaten und Transparenten – Massenkundgebungen wie die im Istanbuler Stadtteil Maltepe am Sonntag waren in der Türkei bisher ein Markenzeichen der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Diesmal aber versammelten sich die Gegner des Präsidenten und machten damit Druck auf den Mann an der Spitze des Staates. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu kündigte an, Erdogans „Mauer der Furcht“ niederzureißen. Regierungsgegner sprechen von einer historischen Wegmarke und schöpfen neue Hoffnung. Der machtgewohnte Erdogan sieht sich der größten regierungskritischen Massenbewegung seit den Gezi-Protesten vor vier Jahren gegenüber.

Unter dem Motto „Gerechtigkeit“ war Kilicdaroglu in den vergangenen Wochen von der Hauptstadt Ankara nach Istanbul marschiert. Der in seiner eigenen säkularistischen Partei CHP umstrittene 68-jährige erwarb sich mit der Aktion nicht nur den Respekt interner Kritiker, sondern auch die Unterstützung vieler Türken über die Parteigrenzen hinweg.

Anlass für Kilicdaroglus 420-Kilometer-Marsch war die Inhaftierung des CHP-Parlamentsabgeordneten Enis Berberoglu, der in einem Gefängnis in Maltepe einsitzt. Doch der „Marsch für Gerechtigkeit“ mutierte mit jedem zurückgelegten Kilometer zu einem universellen Ausdruck des Widerstandes gegen Erdogan. Nach der Entlassung von 150.000 Beamten und der Inhaftierung von mehr als 50.000 Menschen seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres spricht Kilicdaroglu mit seinem Ruf nach Gerechtigkeit vielen Türken aus der Seele.

Der Oppositionschef hielt seine Rede bei der Abschlusskundgebung in Maltepe auf einer Bühne, auf der das Wort „Adalet“ – Gerechtigkeit – prangte. Er sprach vor einer gewaltigen Menschenmenge; Schätzungen gingen von 1,5 Millionen bis zwei Millionen Teilnehmern aus.

Die Mammut-Versammlung blieb friedlich und wurde von einer Aufbruchstimmung geprägt, die neu ist für die türkische Opposition. Die Demonstranten trugen türkische Fahnen, Transparente mit dem Bild des säkularistischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und weiße T-Shirts mit der Aufschrift „Adalet“. CHP-Anhänger vergleichen Kilicdaroglus Aktion mit dem gewaltlosen Widerstand von Mahatma Gandhi gegen die britische Kolonialmacht.

Kilicdaroglu fordert Freilassung von Politikern und Journalisten

In seiner Rede machte Kilicdaroglu deutlich, dass er seinen Protestmarsch als Beginn einer neuen Phase in der Türkei sieht. Er forderte die Freilassung aller nach dem Putschversuch inhaftierten Politiker und Journalisten und warf Erdogan vor, den nach dem Umsturzversuch verhängten Ausnahmezustand zu einem „zivilen Putsch“ gegen die Demokratie zu missbrauchen: Heute sei die Türkei eine „Diktatur“. Zudem wolle die Regierung die tatsächlichen Ereignisse beim Putschversuch vom 15. Juli 2016 verschleiern. Manche Erdogan-Kritiker sprechen von einem fingierten Putsch, der als Anlass für eine ohnehin geplante Hexenjagd auf Andersdenkende benutzt worden sei.

Bei aller Kritik an der Regierung distanzierte sich Kilicdaroglu entschieden von den Umstürzlern. In einem Zehn-Punkte-Katalog verlangte er jedoch die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Rehabilitierung zu Unrecht verfolgter Staatsdiener und Akademiker sowie die Bestrafung der „wirklichen Putschisten“. Damit deutete er den Verdacht an, dass Mitglieder von Erdogans AKP verwickelt gewesen sein könnten.

Der Präsident und seine Anhänger sind ganz offenbar verunsichert. Einige regierungsnahe Medien ignorierten das Großereignis in Maltepe oder bezeichneten es als „Provokation“, andere beschimpften die Teilnehmer des Protestmarsches als Terroristenhelfer, wie Erdogan selbst dies vor einigen Tagen getan hatte. Manche Erdogan-Anhänger riefen den Präsidenten auf, seinerseits eine Großdemonstration zu organisieren, um dem Land zu zeigen, dass er mehr Menschen mobilisieren könne als Kilicdaroglu.

Doch damit wäre das Problem für Erdogan nicht gelöst. Die Angst vor immer neuen Verhaftungswellen und das Gefühl, dass die Justiz vollends zu einem Instrument der Regierung geworden ist, reicht bis in die Stammwählerschaft des Präsidenten hinein.

Der Journalist Fehmi Koru, ein langjähriger Erdogan-Anhänger, der sich vom Präsidenten abgewandt hat, rät der AKP, die Forderung nach einer gerechten Gesellschaftsordnung ernst zu nehmen. Bisher gibt sich Erdogan unversöhnlich und lässt nicht erkennen, dass er aus der Machtdemonstration seiner Gegner Lehren für die Zukunft ziehen will. Doch spätestens seit Sonntag weiß Erdogan, dass seine Politik von vielen türkischen Normalbürgern abgelehnt wird, nicht nur von einem Haufen radikaler Landesverräter.

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