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Touristen, Investoren und Migranten aus dem Nahen Osten kommen nach Istanbul - aber immer weniger westliche Touristen.
© Murad Sezer/rtr

Ein Jahr nach dem Putschversuch: Zeitenwende am Bosporus

Seit Jahrhunderten war die türkische Metropole Istanbul weltoffen - und westlich orientiert. Doch nun hat sich das Leben geändert: Der Blick geht gen Nahost und auf die muslimische Welt.

Die Menschenmengen schieben sich so dicht wie eh und je über den Istiklal-Boulevard, die prächtige Fußgängerzone im Herzen von Istanbul - und doch ist hier etwas ganz anders in diesem Sommer. Wo früher westliche Touristen in Turnschuhen und T-Shirts dominierten, tragen viele Passantinnen heute lange Gewänder und Schleier; und wo sich vor zwei, drei Jahren noch deutsche, englische und italienische Gesprächsfetzen vermischten, ist heute außer Türkisch fast nur noch Arabisch zu hören. Touristen aus Saudi-Arabien und Kuwait, Emigranten aus Libyen, Investoren aus Katar, Einwanderer aus dem Irak und Flüchtlinge aus Syrien - sie alle strömen in das neue „Paris des Nahen Ostens“, dem die westlichen Touristen heute fernbleiben, und verändern dauerhaft das Gesicht der uralten Stadt.

Seit Jahrhunderten blickt Istanbul nach Westen und musste nicht zuletzt deshalb im 20. Jahrhundert den Status der türkischen Hauptstadt an das anatolische Ankara abgeben. Das Streben der Türkei nach Beitritt in die Europäische Union verhalf der westlich ausgerichteten Stadt in den vergangenen Jahrzehnten zu neuer Blüte und großer Popularität im Westen. Doch mit der Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik auf den Nahen Osten und die muslimische Welt haben sich auch die kulturellen Akzente verschoben und den Alltag in der Stadt am Bosporus verändert.

Wer kein Arabisch kann, hat inzwischen schlechte Chancen

Noch sind viele Rollläden am Istiklal-Boulevard geschlossen, wo Geschäfte aufgeben mussten, als die westlichen Besucher wegblieben. Doch andere Läden haben sich bereits auf die neue Klientel umgestellt und machen wieder Umsatz. Auf Arabisch wirbt ein Transparent vor einem geschlossenen Lokal in der Fußgängerzone für eine Neueröffnung als libanesisches Restaurant. In einem Lederwarengeschäft daneben spricht ein libyscher Verkäufer die Kunden auf Arabisch an. Viele Geschäfte in der historischen Altstadt und in Einkaufszentren haben ihr Personal ausgewechselt, um die neue Kundschaft bedienen zu können. Wer kein Arabisch kann, hat inzwischen schlechte Chancen in der Branche, klagen entlassene Mitarbeiter.

Im Stadtviertel Talimhane hinter dem Taksim-Platz ist die Infrastruktur bereits vollständig auf die arabische Klientel eingestellt, mit arabischen Reiseagenturen und Falafel-Buden mit arabischsprachigen Menüs. Andere Stadtteile sind im strukturellen Wandel begriffen: Während Teppichgeschäfte auf dem Großen Basar in der Altstadt pleitegehen, weil die US-Kundschaft ausbleibt, erfreuen sich die Edelboutiquen im Stadtteil Nisantasi eines Ansturms modebewusster Araberinnen auf Markenhandtaschen und Designermode. In der U-Bahn informieren die Leuchttafeln neuerdings auch auf Arabisch über die nächsten Züge.

Terroranschläge, Streit mit Europa und willkürliche Verhaftungen haben den westlichen Tourismus in die Türkei und insbesondere nach Istanbul einbrechen lassen. Schon im vergangenen Jahr stürzte die Zahl der westeuropäischen Urlauber in der Türkei um ein Drittel ab, im ersten Quartal dieses Jahres kamen noch einmal ein Viertel weniger. An den Mittelmeerstränden von Antalya wird dieser Einbruch zumindest teilweise von einer steigenden Zahl russischer Urlauber abgefangen, die während der Eiszeit zwischen Ankara und Moskau ausgeblieben waren und nun zurückkehren. Anders ergeht es der Metropole Istanbul, deren Tourismussektor bisher auf kulturell interessierte Besucher aus dem Westen angewiesen war.

40 Prozent aus Usbekistan

Während die Zahl der westlichen Besucher weiter sinkt, steigt die Zahl der Einreisen aus dem arabischen und muslimischen Raum im Osten beständig an. Einen Zuwachs von 35 Prozent aus Irak, 37 Prozent aus Kuwait, 23 Prozent aus Bahrain, 22 Prozent aus Saudi-Arabien, 40 Prozent aus Usbekistan, 60 Prozent aus Palästina und mehr als 105 Prozent aus Indonesien verzeichnete das Amt im ersten Trimester dieses Jahres, seiner neuesten veröffentlichten Statistik.

Hunderttausende sind es, die einreisen - und nicht alle reisen wieder aus. Araber führen inzwischen die Liste ausländischer Immobilienkäufer an. Im Mai waren Saudis auf dem ersten und Iraker auf dem zweiten Platz, auch Kuwaitis und Afghanen landeten mit Russland unter den ersten fünf. Der Emir von Katar hat sich eine Villa am Bosporus für 100 Millionen Euro gekauft. Türkische Tourismusmanager berichten von arabischen Großfamilien, die mit 30 Mitgliedern zum Urlaub in Istanbul anrücken und 80 000 Euro für den Aufenthalt ausgeben. Im bürgerlichen Stadtteil Sisli sind nach Angaben von Anwohnern ganze Straßenzüge von Wohnungen an mehr oder weniger wohlhabende libysche Familien verkauft oder vermietet, die vor dem Chaos in ihrem Land geflüchtet sind und sich in Istanbul niederlassen. Und dann sind da die Syrer, nach amtlichen Angaben eine halbe Million in Istanbul , die vor allem in den westlichen Stadtteilen leben.

Tourismussektors beklagt den Verlust der Arbeitsplätze

Gegen solch einen rasanten Wandel bleibt der Einspruch der alteingesessenen Bewohner natürlich nicht aus. Hotelangestellte klagen über die saudische Luxus-Klientel, die rücksichtslos in ihren Zimmern hause. Geschäftsfrauen in Sisli entsetzen sich über Pistazienschalen, die ihnen vor die Füße geworfen würden. Deutsch- und englischsprachige Angestellte des Tourismussektors beklagen den Verlust ihrer Arbeitsplätze an arabischsprachige Einwanderer. Künstler und Yuppies fürchten die kulturelle Majorisierung im eigenen Land durch fromme Zuwanderer und islamisches Geld.

Und alle schimpfen über die Araber an den Stränden der Stadt - die saudischen Frauen, die am Luxusstrand von Kilyos in Ganzkörperschleiern im Wasser stehen, und die tausenden Syrer, die an den städtischen Stränden von Yesilköy und Büyükcekmece lagern und in der Unterhose schwimmen gehen. Videos von Szenen an den überfüllten und zugemüllten Stränden von Istanbul verbreiteten sich in der vergangenen Woche in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer mit dem Hashtag: „Die Syrer sollen heimgehen“. Istanbul hat sich durch den Zustrom der Araber verändert - verdaut hat die Stadt ihn noch lange nicht.

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