Erdogan-Gegner ein Jahr nach dem Putschversuch: Aus der Angst wird Widerstand
Seit einem Jahr dominieren Angst und Repression die Türkei. Doch jetzt finden die Menschen ihre Stimme wieder. Ayca Telgeren ist eine von ihnen. Unser Blendle-Tipp.
Sie saß mit Freunden bei Whisky und einer Käseplatte, als Soldaten am 15. Juli des vergangenen Jahres die Bosporusbrücke besetzten. Ungläubig verfolgte die Runde die ersten Meldungen vom Putschversuch. Als schließlich Kampfjets über sie hinwegrasten und Scheinangriffe auf die Stadt flogen, wurde ihnen der Ernst der Lage bewusst.
Ayca Telgeren schlief in dieser Nacht nicht, und als die Sonne aufging, holte sie ihre Reisetasche heraus und begann zu packen: Raus aus Istanbul, raus aus der Türkei! „Doch dann fiel mir ein, dass mein Reisepass seit zwei Monaten abgelaufen war und dass ich nicht genug Geld hatte, um anderswo neu anzufangen“, erinnert sich die 42-Jährige. „Ich dachte an all die halb fertigen Werke in meinem Atelier – und da wurde mir klar, dass ich bleiben würde.“ Eine ungeheure Verzweiflung habe sie da ergriffen, erzählt Telgeren.
Verzweiflung, die wie die Malerin Telgeren viele in der Türkei empfanden. Oft mündete sie in ein nun bald einjähriges Schweigen, in Angst und Flucht. Aber auch in neu erwachten Tatendrang, ins Aufbrechen aus der Lethargie und in die Wiederentdeckung der eigenen Stimme.
Die „Mauer der Furcht“
Hier, in einem versenkten Garten unterhalb einer verkehrsreichen Straße im Stadtteil Levent, wo Telgeren seit einem Vierteljahr mit anderen Künstlern arbeitet, trifft man auf all dies zusammen.
Hier ist all dem zu begegnen, was auch vor kurzem gut 20 Kilometer entfernt von Levent zu beobachten war, auf der Massenkundgebung im Stadtteil Maltepe. Wohl mehr als eine Million Menschen waren versammelt, der Initiator der Veranstaltung, Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu, kündigte an, Erdogans „Mauer der Furcht“ niederzureißen.
Er sprach davon, dass sein der Kundgebung vorangehender, mehr als 400 Kilometer langer Protestmarsch von Ankara nach Istanbul der Beginn einer neuen Phase in der Türkei sei. Er forderte die Freilassung aller nach dem Putschversuch inhaftierten Politiker und Journalisten, er warf Erdogan vor, den verhängten Ausnahmezustand zu einem „zivilen Putsch“ gegen die Demokratie zu missbrauchen.
Einige der Bilder, die am Tag nach dem Putschversuch noch nicht fertig gewesen sind, hat Telgeren inzwischen zu Ende gemalt, andere hat sie aufgegeben und wieder andere neu begonnen. Das Leben ist weitergegangen, aber es hat sich verändert. Statt in ihrem Atelier im asiatischen Stadtteil Kadiköy über dem Bosporus sitzt sie heute hier in diesem Garten - in einem Kunstwerk ihrer Kollegin Sevgi Aka im Künstlerkollektiv HAH. Mit abgestorbenem Gestrüpp und grellen Plastikpflanzen hat Aka den Garten geschmückt, um den Kunstrasen und die Polyesterfelsen am künstlichen Teich ironisch zu betonen. Die „falschen kleinen Utopien“ will sie damit thematisieren, in die sich Menschen in der Türkei jetzt allenthalben zurückziehen: „Meine Bekannten reden alle nur noch über Tiere und Pflanzen“, sagt Aka.
Die beiden Frauen haben sich zurückgezogen in dieses Kollektiv, das sie zum Jahreswechsel mit vier anderen gegründet haben, um in diesen Zeiten nicht alleine sein zu müssen. Jeden Donnerstag verbringen sie gemeinsam in der Kellerwohnung hinter Akas Garten, wo jeder von ihnen an seiner Kunst arbeitet. In den Pausen sitzen sie - wie jetzt - alle zusammen im Garten der „falschen kleinen Utopie“, trinken selbst gemachte Limonade mit Ingwer und Minze und reden sich die Angst und die Verzweiflung von der Seele.
Die Angst hängt in der Luft in diesen Tagen, vielleicht mehr noch als in jener Nacht vor einem Jahr. Der Schock vom Putschversuch sitzt allen noch in den Knochen - wie nach einem Erdbeben, dasselbe Gefühl, dass auf den Boden unter der Türkei kein Verlass ist, dass alles augenblicklich ins Wanken geraten kann. Dazu kommt der Terror der Bombenanschläge, die Istanbul regelmäßig erschüttert haben - auf den Flughafen, die Fußgängerzone, das Fußballstadion, auf eine Diskothek. Einmal sei sie in Panik aus der U-Bahn gesprungen, sagt eine aus der Runde, die 32-jährige Defne Tesal. Sie habe einen Mann mit Rucksack gesehen und sich dann furchtbar geschämt, weil sie die anderen Passagiere nicht gewarnt habe. „Das ist es, was die Angst mit uns macht“, antwortet die Performance-Künstlerin Gizem Kakaras: „Entsolidarisierung, Vereinzelung, Vereinsamung.“
Das Kollektiv will dagegenhalten. Zusammensein, Solidarität, Austausch - das sei derzeit das Wichtigste. Damit seien die sechs Freunde nicht allein, erzählt Kakaras: Überall würden derzeit Künstlerkollektive gegründet, „das ist ein richtiger Trend geworden“.
Aus der Not geboren ist dieser Trend, denn die Spielräume nach außen werden immer enger, seit nach dem Putschversuch der Ausnahmezustand verhängt wurde. Telgeren erzählt von einem Bekannten, der gerade freigelassen worden ist. Er hatte in einem Copyshop einen kritischen Artikel über Recep Tayyip Erdogan kopiert, wurde von einem Angestellten des Ladens bei der Polizei denunziert und saß 27 Tage hinter Gittern, bevor die Staatsanwaltschaft die Sache fallen ließ. „Unter dem Ausnahmezustand kannst du jederzeit festgenommen werden, ohne Grund“, sagt Kakaras.
Fast jeder kann solche Geschichten erzählen, von Verwandten oder Bekannten oder von sich selbst. Telgeren hat auch schon eine Nacht in Polizeihaft verbracht, weil sie mit einem Slogan auf dem T-Shirt gegen die Abholzung eines Waldstücks in ihrem Stadtteil protestierte. Das war noch bevor der Ausnahmezustand verhängt wurde und damit illegal - der Staatsgewalt aber gleichgültig. „Sie wollen dich wissen lassen, dass sie es dennoch können“, sagt Telgeren. Die Botschaft kam an: Es war das Ende ihrer kurzen Laufbahn als politisch engagierte Bürgerin.
Begonnen hatte Telgerens politisches Engagement bei den Demonstrationen gegen die Zerstörung des Gezi-Parks im Sommer 2013 - ein politisches Erwachen für eine ganze Generation von Türken. „Bis Gezi sah ich die Politik als einen Bildschirmschoner, hinter dem unbekannte Programme laufen“, erzählt Telgeren. „Aber bei den Gezi-Protesten habe ich verstanden, dass wir selbst aktiv werden müssen.“ Sie trat der neu gegründeten Gezi-Partei bei und stürzte sich in die Basisarbeit. „Zwei Jahre lang“, erzählt sie. Als nach den Wahlen vom Sommer 2015 die Repressionen einsetzten, brach die junge Partei rasch ein. Nominell ist Telgeren noch immer Vorsitzende eines Gezi-Ortsvereins, aber aktiv ist die Partei nicht mehr. „Wir haben sie nur nicht offiziell auflösen wollen“, sagt Telgeren, „denn das würde bedeuten, die Hoffnung aufzugeben.“
Nicht nur politisch werden die Spielräume enger, auch beruflich schrumpft die Welt für die Künstler. Ausländische Sammler, Mäzene und Galeristen bleiben aus, viele Galerien in Istanbul haben schließen müssen.
Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht, darüber sind sich die Freunde einig. „Jetzt, wo kein Geld mehr damit zu verdienen ist, wird bessere Kunst gemacht“, sagt Kakaras. „Die Künstler sind nun frei, zu schaffen, was sie wollen.“ Tesal zum Beispiel, die sonst mit Textilien arbeitet, hat eine Video-Installation geschaffen. Auch die anderen Mitglieder des Kollektivs wagen sich an Themen und Techniken, die sie früher keiner Galerie angeboten hätten.
Dieses Prickeln ist überall in der Kunstwelt von Istanbul zu spüren. „Noch vor ein paar Jahren drehte sich die Szene ganz um Vernissagen, Champagner und Kanapees, und alle redeten darüber, wie viel Geld zu verdienen sei“, erzählt der Kunstkritiker Kaya Genc bei einem Kaffee im Szeneviertel Beyoglu, wo neuerdings viele der bunt besprühten Rollläden geschlossen bleiben. „Es gab zu viel Geld und zu viel satte und behagliche Kunst.“ Man habe vielen Werken ansehen können, „dass sie nicht aus echter, gelebter Erfahrung entstanden“.
"Wir kanalisieren unsere Angst, weil man sonst nicht damit leben kann"
Die Erfahrungen sind nun da. „Jetzt leben die Leute mitten in der Gefahr und in schweren Zeiten, und wir sehen deshalb kritischere, lebendigere, unmittelbarere Kunst.“
Das gilt auch für das türkische Theater, das seine größte Blüte seit Jahrzehnten erlebt. Allein in den vergangenen zwölf Monaten sind in Istanbul 165 neue Produktionen auf die Bühnen gekommen, zusammen mit jenen, die bereits auf den Spielplänen standen, waren es um die 200 Theaterstücke, die in der Stadt zu sehen waren. „Praktisch jeden Tag gibt es hier Premieren“, sagt Leman Yilmaz von der Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur, die das renommierte Istanbuler Theaterfestival ausrichtet. Weil die Fülle an Inszenierungen nicht mehr in das bisher alle zwei Jahre stattfindende Festival hineinpasste, soll es ab sofort jährlich ausgerichtet werden. Das sei schließlich der Zweck der Kunst, sagt Yilmaz: „In Zeiten von Repressionen, Kriegen und Konflikten verspüren wir vermehrt das Bedürfnis, uns mitzuteilen und unsere Gefühle durch die Kunst auszudrücken. Insofern sind dies gute Zeiten für das Theater in der Türkei.“
Gute Zeiten in mancher Hinsicht auch für das Künstlerkollektiv in der Kellerwohnung: In ihre Limonadenrunde im Garten schneit unerwartet eine Ausstellungsmacherin hinein, begleitet von der Leiterin der Istanbuler Kunst-Biennale. Leidenschaftlich diskutieren Künstler und Kuratoren anschließend die Werke, die Szene und die Rolle der Kunst in dieser Zeit. „Wir kanalisieren unsere Angst in unser künstlerisches Schaffen, weil man sonst einfach nicht damit leben kann“, sagt Aka. Ihre Arbeit am Garten, der ironischen kleinen Utopie, sieht sie als ihr politisches Statement, ihren Beitrag zu dem Land, das sie sich wünscht: „Wenn wir unsere Welt verändern wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen.“
Bis zum Sommer wird die Hälfte ihres Freundeskreises die Türkei verlassen haben
Doch wie es weitergehen soll, das können die Freunde nicht absehen. Der Boden schwankt nicht nur, er wird regelrecht unter ihnen fortgerissen. Erst vor drei Monaten hat das Kollektiv aus seinem ersten Atelier am asiatischen Ufer ausziehen müssen, weil das Haus abgerissen wird - ein Dominostein in den gigantischen Stadterneuerungsprojekten von Istanbul, mit denen die Regierungspartei die Stadt nach ihren Vorstellungen umbaut. Nun soll auch dieses Haus hier demoliert werden. Die meisten Bewohner sind schon ausgezogen.
Zwei der Kollektivmitglieder werden in die Niederlande ziehen. Aka geht voraussichtlich nach Frankfurt, um ihre Doktorarbeit abzuschließen. Freunde und Familie drängen sie, sich in Sicherheit zu bringen. „Das ist jetzt überall so“, seufzt Kakaras. Zwei jüdische Kollegen, mit denen sie in einer Galerie arbeitet, haben sich spanische Pässe besorgt, ein wohlhabender Bekannter hat sich die portugiesische Staatsbürgerschaft erkauft. Bis der Sommer vorbei ist, wird die Hälfte ihres Freundeskreises die Türkei verlassen haben.
„Die Leute glauben nicht mehr an eine Zukunft hier“, sagt Telgeren. Sie selbst sieht das nicht anders, denn was morgen sein wird in der Türkei, das kann niemand absehen: „Ich habe keine Zukunft mehr, wie meine Eltern sie noch hatten.“ Für sich selbst hat sie deshalb nach dem Putschversuch beschlossen, nur noch für den Tag zu leben. Jeden Morgen sagt sie sich beim Aufwachen, dass sie das Beste daraus machen will - es könnte schließlich ihr letzter sein. „Das hat bisher funktioniert“, sagt sie. „Wir leben noch.“