Vielleicht ihr letzter Auftritt auf der G20-Bühne: Angela Merkel setzt auf Gemeinschaft – trotz allem
Kann die Kanzlerin bei einem G20-Gipfel noch etwas erreichen, trotz der Spalter Putin und Trump? Zumindest kämpfte Merkel, und war ein wenig erfolgreich.
Nichts manifestiert den zunehmenden Nationalismus und Autoritarismus in der Welt mehr als das Familienfoto des G-20-Gipfels von Osaka. Angela Merkel steht ganz rechts am Rand wie eine Außenseiterin oder jemand, der sich maximal distanziert; in der Mitte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan, Donald Trump und Mohammed bin Salman, daneben Gastgeber Shinzo Abe, Argentiniens Mauricio Macri, Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping – von Merkel als verlässlicher Partner gelobt.
Es ist ein Bild, das dazu passt, was hier in Japan in den vergangenen Tagen geschehen ist. Es wurde viel geredet und viel inszeniert. Aber ein Wir-Gefühl gibt es in dieser Gruppe nicht mehr. Es dominieren Ichlinge wie US-Präsident Donald Trump.
So ist auch das Abschlusskommuniqué vor allem ein Dokument der Zerrissenheit. Auch wenn das Pariser Klimaabkommen von der großen Mehrheit offiziell weiter als bindend anerkannt wird. Mit Ausnahme der USA bekennen sich 18 Staaten und die EU zu dem Vertrag. „Der Prozess ist unumkehrbar“, sagt eine sichtlich erschöpfte Kanzlerin kurz vor ihrem Rückflug nach Berlin. Mit zügigen Schritten eilt sie in den Tagen zuvor von Termin zu Termin. Es ist eine Art persönlicher Gesundheits-Stresstest, nachdem sie noch wenige Stunden vor der Hinreise zitternd im Schloss Bellevue gestanden hatte.
Von der „New York Times“ bis zur britischen „Financial Times“ berichtet auch die internationale Presse über Merkels „shaking bout“, den zweiten Zitteranfall binnen acht Tagen. Das ist auch Gesprächsstoff für den G-20-Gipfel. Immer wieder beruhigt Regierungssprecher Steffen Seibert: „Der Bundeskanzlerin geht es gut.“ Gezittert hat sie nicht, in Osaka. Dabei war die Reise nicht nur ein Kraftakt, sie hatte auch abenteuerlich begonnen.
Einer der ersten Termine: Donald Trump
Gerade überfliegt die Regierungsmaschine „Theodor Heuss“ Russland, da ruckelt es. Und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) erinnert an den unglückseligen Flug Ende November 2018. „Es ist dringend“, mit diesen Worten bat eine Stewardess bei der letzten gemeinsamen Anreise zu einem G-20-Gipfel die Kanzlerin aus einem Gespräch.
Es gebe ein größeres Problem und man müsse in Köln landen. Angela Merkel verpasste daraufhin den halben Gipfel in Buenos Aires. Nun ist sie mit Scholz auf dem Weg zum G-20-Gipfel nach Japan. Eine zweite Maschine der Flugbereitschaft wird hinterhergeschickt, um im Notfall als Ersatz zu dienen. Doch die „Theodor Heuss“ hält zuverlässig Kurs, über Russland, die Mongolei, China und Südkorea nach Osaka.
Elf Stunden Flug, Ankunft um Mitternacht deutscher Zeit, sieben Uhr morgens Ortszeit, kurz ins Hotel, dann direkt zum Gipfel. Ein Höllenritt.
Und auch einer der ersten Tagesordnungspunkte Merkels ist nicht der angenehmste Termin: Ein Treffen mit Donald Trump. Der schwärmt von der „fantastischen Frau“, von einer „großartigen Freundin“. Merkel sitzt mit versteinerter Miene daneben, diese Show kann sie sich schenken. Die Zeiten, in denen sie mit US-Präsidenten in diesem Konzert der Weltpolitik verlässliche Absprachen treffen konnte, sind passé.
Dieser Gipfel ist ein guter Gradmesser, wie sehr sich diese Welt und der Einfluss der deutschen Kanzlerin verändert haben. Hamburg 2017 bleibt in Erinnerung als Randale-Gipfel, aber dort gelang es ihr noch, die „Language of Hamburg“ durchzusetzen, wo zum Beispiel in der Abschlusserklärung betont wurde: „Wir werden die Märkte in dem Bewusstsein offenhalten, wie wichtig auf Gegenseitigkeit beruhende und für alle Seiten vorteilhafte Handels- und Investitionsrahmen und der Grundsatz der Nichtdiskriminierung sind.“ Man werde „Protektionismus einschließlich aller unfairen Handelspraktiken weiterhin bekämpfen.“ Donald Trump schafft heute andere Fakten. Und Merkels Sherpa Lars-Hendrik Röller kämpft nächtelang um Formulierungen, gegen Protektionismus, für mehr Klimaschutz.
Parallelwelt der Mächtigen
In Hamburg gelang es noch, die USA in ihrer Absage an das Klimaabkommen von Paris zu isolieren. Doch während die Fridays-for-Future-Bewegung Merkels Regierung treibt und das Klimathema zur Priorität Nummer 1 in Deutschland geworden ist, gewinnt die Bremser-Haltung der USA auf der G-20-Ebene an Zuspruch. Die klare 19:1-Stellung gibt es in Osaka nur noch auf dem Papier.
Russland hat das Paris-Abkommen immer noch nicht ratifiziert, die Ölmacht Saudi-Arabien blockiert, wo sie nur kann. Der von Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hofierte und von Merkel tunlichst gemiedene saudische Kronprinz Mohammed bin Salman ist übrigens der nächste G-20-Gastgeber. Keine guten Zeiten für Multilateralisten wie Merkel. So zeigt das Familienfoto auch: Ein Weltklimaabkommen wie das von Paris oder das Vorläuferabkommen von Kyoto wäre heute wohl kaum noch hinzubekommen. Im kommenden Jahr soll es eine Überprüfung geben, ob die Verpflichtungen aus dem Pariser Klimavertrag ausreichen. Das wird dann die Nagelprobe – und dafür sieht es nicht gut aus nach Osaka.
Problemlos einigen können die Teilnehmer sich allein bei wenig verbindlichen Themen wie „Stärkung der Frauen“. Beim Gruppenbild dazu knipst Trump neben seiner Tochter Ivanka stehend sein schönstes Lächeln an.
In Osaka sind derweil jenseits dieser Parallelwelt der Mächtigen ganze Viertel abgeriegelt, überall stehen Straßensperren und sich freundlich vor den Gästen verbeugende Polizisten. Vielleicht hat sich das Format der extrem teuren, CO2-intensiven Mammuttreffen mit Tausenden Teilnehmern überlebt. Es passt dazu, dass Putin zum Gipfel erklärt hat, die liberale Idee sei überholt – Merkels Flüchtlingspolitik geißelt er als „Kardinalfehler“, Trumps Pläne, zur Abwehr von Migranten eine Mauer zu bauen, finden bei ihm Zustimmung. Kann man da überhaupt noch etwas bewegen? Vor allem bei Donald Trump oder bei Wladimir Putin, der sich so spalterisch verhält?
Daumen hoch – Weltpolitik 2019
Merkel versucht Trump zu umgarnen. Sie muss weiter Strafzölle der US-Regierung für deutsche Autobauer fürchten, das wäre Gift für die Konjunktur. Die deutsche Wirtschaft investiere sehr stark in den Vereinigten Staaten, betont sie: „Wir haben nicht nur Handel, sondern auch sehr viele Investments.“ Das größte BMW-Werk der Welt steht in Spartanburg im US-Staat South Carolina.
Doch Trump blickt nur geradeaus, sein Gesichtsausdruck zeigt, dass ihn das Treffen nicht besonders interessiert. Dazu formt er mit den Händen die Merkel-Raute. Man könnte fast meinen, er wolle sie auf den Arm nehmen. Die 64 Jahre alte Kanzlerin, seit 14 Jahren im Amt, hat in der vergangenen Woche im Bundestag zum schwindenden Multilateralismus erklärt: „Wenn man nur an seine Interessen denkt, führt man ein Land in die Katastrophe.“ Sie ist überzeugt, dass die Staats- und Regierungschefs miteinander reden müssen, Kompromisslinien ausloten – sind die Gesprächspartner auch noch so schwierig, nervig, egoistisch und wenig vertrauenswürdig.
Ob solche Gipfelerklärungen überflüssig sind? Aus deutscher Sicht nicht.
Wenn man bei einem Treffen wie dem in Osaka, wo jene Staaten versammelt sind, die 80 Prozent der globalen Wirtschaftskraft auf sich vereinigen – aber auch 80 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen und gewaltige Mengen an Plastikmüll – nichts mehr gemeinsam hinbekommt, wo dann?
Was in der Finanzkrise noch gelang, ist heute undenkbar
In der Finanzkrise schafften es die G-20-Staats- und Regierungschefs, eine Kernschmelze des globalen Finanzsystems zu verhindern. Das Format galt als neue globale Lösungsinstanz. Damals gab es einen akuten Handlungsdruck, was disziplinierte. Allerdings ist der heute beim Klima nicht minder dringend – doch Länder wie die USA, Russland und Saudi-Arabien verdienen einfach zu gut an fossilen Energien.
Heute modelt US-Präsident Trump die G-20-Treffen zu einer Ego-Show um. Statt in großer Runde Kompromisse zu suchen, hält er in bilateralen Meetings Hof und gibt den genialen Dealmaker – sei es in Sachen Zollstreit mit China oder im Nordkorea-Konflikt. Allein für den Iran hat er noch keine rechte Lösung parat.
Per Twitter schreibt er Samstagfrüh, dass er von Osaka nach Südkorea weiterreise. Wenn Nordkoreas Führer Kim Jong Un wolle, könne er ihn spontan an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea in der demilitarisierten Zone treffen. „Nur um seine Hand zu schütteln und Hallo zu sagen.“ Beim Gipfel fragt er den verdutzten – und sicher nicht amüsierten – südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-in: „Haben Sie meinen Tweet gesehen?“ Der bejaht, Daumen hoch von Trump. So wird Weltpolitik gemacht 2019.
Viele Gespräche, viel Geduld
Die EU mutiert da zum Statisten. Aber dass vieles einfach viele Gespräche und Geduld braucht, zeigt sich bei einem für Merkel und die EU großen Erfolg am Rande. Er ist ein Signal, dass neue Formen der Kooperation noch möglich sind.
Die EU und der südamerikanische Staatenbund Mercosur – bestehend aus Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay –, wollen die größte Freihandelszone der Welt aufbauen.
Nach jahrelangen Verhandlungen ist in Osaka eine politische Einigung erzielt worden. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker spricht von einem „historischen Moment“ – auch als Antwort auf die Trump’sche Handelspolitik würde ein zollfreier Markt für 800 Millionen Menschen geschaffen, bis zuletzt war die Frage der Agrarexporte nach Europa der Knackpunkt. Seit 1999 wurde mit Unterbrechungen verhandelt. Es ist kein Zufall, dass die Bundesregierung in diesen fragilen Zeiten plötzlich Lateinamerika wiederentdeckt. Hier gibt es mehrheitlich Regierungen, mit denen sich gut zusammenarbeiten lässt. Schwieriger ist es ausgerechnet mit dem größten Land, Brasilien, geworden. Ob das Mercosur-Abkommen tatsächlich kommt, hängt nun vor allem von dessen Präsidenten Jair Bolsonaro ab. Während Merkel und die EU etwa für Regenwaldschutz sind, will Bolsonaro dort neuen Platz für Sojaanbau und Rinderzucht schaffen – auch für mehr Exporte in die EU. Bolsonaro brachte in Rage, was Merkel am Mittwoch in einer Regierungsbefragung im Bundestag gesagt hatte. Die Grünen-Abgeordnete Anja Hajduk hatte mit Blick auf den geplanten Abschluss eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und den Mercosur-Staaten auf die Abholzung im Regenwald und das Vertreiben indigener Völker hingewiesen. „Sie dürfen davon ausgehen, dass ich (…) das Handeln des neuen brasilianischen Präsidenten mit größter Sorge sehe und dass ich die Gelegenheit wahrnehmen werde, (…) hierzu ein klares Wort zu sagen. Weil auch ich das, was in Brasilien zurzeit geschieht, dramatisch finde“, hatte Merkel geantwortet.
Schicksalstage einer Kanzlerin
Bolsonaros Replik zu Merkel: „Wir können Deutschland mal zeigen, wie das mit der Umwelt geht, die Industrie von denen basiert weiter auf fossilen Rohstoffen.“ Die Zeiten seien vorbei, wo Brasilien sich von außen habe hineinreden lassen. In Osaka kommt es dann am Rande immerhin zu einem Gespräch zwischen Merkel und Bolsonaro. Der feiert zwar das geplante Freihandelsabkommen mit der EU als „historisch“ – aber er ist ähnlich wie Donald Trump flexibel in seinen Meinungen.
In einer Ecke des weitläufigen Messezentrums bügeln zwei Japanerinnen schnell noch eine Europafahne, sie ist frisch gewaschen, die gelben Sterne strahlen auf tiefem Blau. In der politischen Realität leuchten auch die europäischen Sterne gerade nicht ganz so hell.
Auch in Japan ist der Poker um die Verteilung der wichtigen EU-Posten Thema in den Runden der Mitgliedsstaaten. Gleich nach Osaka steht am Sonntag der nächste EU-Gipfel an. Obwohl die Konservativen die stärkste Fraktion nach der Europawahl sind, muss Merkel Abstand nehmen vom Wunsch ihrer Partei, den CSU-Politiker Manfred Weber als neuen EU-Kommissionspräsidenten durchzusetzen.
Dass der französische Präsident Emmanuel Macron Weber für unfähig erklärt hat, wird die Beziehung zu Merkel nicht fördern. Nun erwähnt sie Weber gar nicht mehr und auf die Frage, ob er noch eine Chance habe, sagt sie nur: „Ich unterstütze, dass eine Lösung gefunden wird.“ Ihr droht hier eine schwere Schlappe. Der Sozialdemokrat Frans Timmermans könnte neuer Kommissionschef werden.
Vieles ist notleidend gerade, die G20, das deutsch-französische Verhältnis, Angela Merkels labile große Koalition daheim in Deutschland sowieso. Es könnte ihr letzter Auftritt auf dieser Bühne sein – nachdem sie bei allen G-20-Gipfeln dabei gewesen ist.
Es sind Schicksalstage einer Kanzlerin, die ja 2017 auch noch einmal angetreten war, um nach Trumps Wahlsieg für all das Errungene auf der Weltebene zu kämpfen. Und die nun sehen muss, wie vieles aus der Hand gleitet.