Diskussion um EU-Spitzenposten: „Schlag ins Gesicht der EU-Bürger“
Der ehemalige Präsident des Europaparlaments Martin Schulz über den Poker um das Amt des Kommissionschefs - und was das für die europäische Idee bedeutet.
Martin Schulz war von 2012 bis 2017 Präsident des Europäischen Parlaments. Er setzte zusammen mit Jean-Claude Juncker das Spitzenkandidatenprinzip 2014 nach der Europawahl durch.
Herr Schulz, Sie sind einer der „Väter“ des Prinzips, dass nur ein Spitzenkandidat bei der Europawahl Kommissionschef werden kann. Was sagen Sie zu dem erbitterten Postenpoker?
Der Spitzenkandidatenprozess ist einer der größten Demokratisierungserfolge der letzten Jahrzehnte. Er besagt, dass durch die Willensbildung im Europäischen Parlament die höchste Exekutivfunktion der EU – der Posten des Kommissionspräsidenten – besetzt wird. Wenn die Regierungschefs diese Errungenschaft rückgängig machen wollen und durch Hinterzimmerdeals ersetzen, wäre das ein Schaden für die europäische Demokratie. Ein Stück weit ist dieser Schaden schon jetzt angerichtet, weil die Regierungschefs den Eindruck erwecken, das Ergebnis der Europawahl sei für sie nur eine Nebensächlichkeit.
Was würde ein Aushebeln bedeuten?
Es wäre ein Schlag ins Gesicht für alle Bürger, die bei der Europawahl ihre Vertreter ins Europaparlament gewählt haben. Im Übrigen würde eine Reihe der Regierungschefs, die noch im Wahlkampf für den Spitzenkandidatenprozess geworben haben, ihre Wählerinnen und Wähler im Nachhinein täuschen.
Schadet nicht gerade Emmanuel Macron der europäischen Idee und trägt zur Entmachtung des Europaparlaments bei?
Man darf sich über Macrons Motive nicht täuschen. Er ist in der Tradition französischer Präsidialregierungen gefangen und verteidigt auch in Brüssel französische Interessen. Gleichzeitig will er Europa stark machen. Das hat man an seinen Reformvorschlägen gesehen. Nur finde ich seinen Weg falsch. Macron will mit aller Macht jemanden, den er selbst für geeignet hält, an die Spitze der Kommission setzen. Und er will sich mit aller Macht gegen die Sozialisten und die Christdemokraten, die das Parlament stark gemacht haben, durchsetzen. Ich denke, Macron ist auf dem falschen Weg und hat den Schaden noch nicht erkannt, den sein Vorgehen anrichtet.
Ist Europa so für die Zukunft gerüstet?
Nein, ein fragiles Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist eine Last für Europa. Aber da liegt die Verantwortung eher bei der Bundesregierung, die einer Reihe der guten Vorschläge von Macron bisher keine ernst zu nehmenden Antworten gegeben hat.
Wie ist das Dilemma zu lösen?
Das Europaparlament wählt in seinem eigenen Interesse, um ein gewichtiger Machtfaktor und die Verteidigerin der Demokratie in der EU zu bleiben, nur einen der Spitzenkandidaten.