zum Hauptinhalt
Wie lange rauchen die Kohlekraftwerke in Deutschland noch?
© Federico Gambarini/dpa

Folgen des Ukraine-Kriegs: Ändert die Ampel jetzt ihre Energiepolitik?

Das Wirtschaftsministerium prüft wegen der Abhängigkeit von Russland, Kern- und Kohlekraftwerke länger am Netz zu lassen. Das Ergebnis scheint schon klar.

„Denktabus“ solle es jetzt nicht mehr geben, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck am Sonntagabend eines historischen Tages. Am Vormittag hat die Bundesregierung unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine eine 180-Grad-Wende in ihrer Verteidigungs- und Sicherheitspolitik angekündigt. 100 Milliarden Euro sollen schon 2022 zusätzlich fürs Militär bereit stehen, künftig werde man mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben ausgeben. Von einer „Zeitenwende“ spricht Bundeskanzler Olaf Scholz.

Doch eine Zeitenwende steht auch in der Energiepolitik an, wie am Sonntag deutlich wird. Im „Bericht aus Berlin“ der ARD erklärt der grüne Habeck, dass sein Ministerium angesichts der Energieabhängigkeit von Russland prüfe, Atom- und Kohlekraftwerke in Deutschland länger am Netz zu lassen.

Die Debatte darüber läuft bereits seit die Gas- und Öl-Preise im Winter explodiert sind, mit dem Einmarsch der russischen Armee stellt sich die Frage plötzlich auch sicherheitspolitisch. Kann Deutschland zum Jahresende aus der Atomkraft aussteigen, während man gleichzeitig abhängig ist von Putins Gaslieferungen?

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

„Ich würde die Frage nicht ideologisch abwehren“, sagt Vizekanzler Habeck. Schiebt jedoch direkt hinterher: „Aber die Vorprüfung hat ergeben, dass sie uns nicht hilft.“ Tatsächlich haben sich erst am Wochenende die Betreiber der letzten drei Atomkraftwerke – EON, RWE und EnBW – gegen eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen. „Kurz vor Abschalten in Deutschland eine Debatte darüber zu starten, ist befremdlich“, sagte ein EON-Sprecher.

Länger am Netz? Die Betreiber der Atomkraftwerke sind dagegen.
Länger am Netz? Die Betreiber der Atomkraftwerke sind dagegen.
© Marijan Murat/dpa

Tatsächlich wird im Wirtschaftsministerium eine Laufzeitverlängerung zwar geprüft, doch das Ergebnis scheint klar. Die Sicherheit sei nicht gewährleistet, weil die Meiler bereits auf einen Ausstieg zum Jahreswechsel herabgefahren würden, es gebe dafür kurzfristig keine neuen Brennstäbe mehr. Zudem fehle entsprechendes Fachpersonal in den Meilern und zuletzt sei Atomstrom nicht rentabel. „Für den Winter 2022/2023 wird uns die Atomkraft nicht helfen“, sagt Habeck. Eine Hintertür lässt er sich damit aber offen.

Doch selbst der energiepolitische Sprecher der Union, Andreas Jung, hält – anders als sein Parteifreund Günther Oettinger – nichts von einem verzögerten Ausstieg aus der Atomkraft: „Eine Laufzeitverlängerung wäre keine Antwort auf eine aktuelle Knappheit mit Blick auf Gasheizungen, industrielle Wärmeerzeugung mit Gas oder etwa Gas als Grundstoff in der Chemie.“

Mehr zum russischen Angriff auf die Ukraine:

Gas könne hier nicht kurzfristig ersetzt werden, sondern nur mittel- und langfristig – von „klimaneutralen Gasen oder mit Investitionen in strombasierte Technologien“.

Auch die besonders klimaschädliche Kohleverstromung, aus der die Bundesregierung laut Koalitionsvertrag „idealerweise“ schon im Jahr 2030 statt 2038 aussteigen will, soll nun überprüft werden. Man schaue, welche alten Steinkohlekraftwerke nochmal ans Netz gehen könnten, erklärt Habeck. Doch da Steinkohle in Deutschland nicht mehr gefördert wird und die Hälfte der importierten Kohle aus Russland kommt, ergebe ein solcher Schritt wenig Sinn: „Länger laufen lassen, heißt längere Abhängigkeit von Steinkohlelieferungen aus Russland.“

Kurzfristig soll immerhin eine nationale Kohlereserve entstehen, um Vorräte für etwa drei Monate zu horten. Standort und Beschaffung werden momentan geprüft.

Selbst Lindner spricht jetzt von "Freiheitsenergien"

Tatsächlich scheint die Zeitenwende in der Energiepolitik im Ausbau der erneuerbaren Energien zu liegen. Schon im Koalitionsvertrag war die Energiewende zum Kernstück der Ampel-Regierung erklärt worden, bis 2030 sollen 80 Prozent des deutschen Stroms aus Wind-, Wasser- und Solaranlagen kommen. „Der wirkliche Weg zu energiepolitischen Unabhängigkeit ist der Ausstieg aus den fossilen Energien. Die Sonne und der Wind gehören eben niemandem“, sagt Habeck.

Aus seiner Partei hört man am Montag, dass die Gelder für den Ausbau der erneuerbaren Energien nun analog zum Wehretat steigen müssten. Man werde „relevant mehr Geld in die Hand nehmen“, kündigt Grünen-Chefin Ricarda Lang an. „Energiepolitik ist Sicherheitspolitik“, sagte sie. In ihrer Partei hofft man auf die Unterstützung von Finanzminister Christian Lindner. Der FDP-Chef hatte am Sonntag in seiner Rede im Bundestag bei erneuerbaren Energien erstmals von „Freiheitsenergien“ gesprochen. Auch das eine Zeitenwende.

Gesetzentwurf für eine nationale Gasreserve liegt vor

Bis die Windräder, Solaranlagen und Wasserkraftturbinen in Betrieb sind, wird es jedoch dauern. Auf einem kurzfristig einberufenen Sonder-Energieministerrat in Brüssel ging es am Montag in erster Linie um die Energiesouveränität der EU-Staaten. Für Deutschland wird das vor allem staatliche Eingriffe in den Gasmarkt bedeuten. Rund 55 Prozent der Gaslieferungen stammen hierzulande aus Russland.

Um den Einfluss des Kremls zu mindern, soll eine nationale Gasreserve aufgebaut werden. Ein Gesetzentwurf des Wirtschaftsministeriums, der am Montag bekannt wurde, sieht nun vor, dass die deutschen Gasspeicher – die viertgrößten der Welt – künftig gesetzlich zur Füllung verpflichtet werden. So sollen die Speicher laut Entwurf zum 1. Oktober zu 80 Prozent und zum 1. Dezember zu 90 Prozent mit Gas gefüllt sein. Das Gesetz soll bereits im April vom Bundestag verabschiedet werden.

Wirtschaftsminister Robert Habeck vor dem Abflug in die USA.
Wirtschaftsminister Robert Habeck vor dem Abflug in die USA.
© Britta Pedersen/dpa

Darüber hinaus werde er bald einen „Gasreduktionsplan“ vorstellen, kündigte Habeck am Sonntag an. Offenbar sollen Teile der Industrie weniger Gas verbrauchen, aber auch Privathaushalte sollen sparen. Dazu zählt nach Tagesspiegel-Informationen auch ein künftiger Einbaustopp von Gasheizungen bei Neubauten.

Deutsche Umwelthilfe hält sich Klagen gegen LNG-Terminal offen

Zudem soll Deutschland doch rasch eigene Häfen für Flüssigerdgas, sogenanntes LNG, bekommen. Man habe sich dazu entschlossen, zwei LNG-Terminals in Brunsbüttel und Wilhelmshaven „schnell“ zu bauen, sagte Scholz am Sonntag im Bundestag. Doch wie schnell das gelingen kann, ist fraglich. Die Kosten sind enorm, zudem gibt es Proteste von Umweltschützern.

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte zuletzt zwei Rechtsgutachten zu den beiden Standorten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis sei eindeutig, sagt Sascha Müller-Kraenner, DUH-Geschäftsführer dem Tagesspiegel: „In Brunsbüttel ist ein Störanfallbetrieb an diesem Standort unmöglich, in Wilhelmshaven gibt es Naturschutzbedenken.“

Mögliche Klagen gegen den Bau der LNG-Terminals schloss Müller-Kraenner nicht aus. „Ich kann jetzt keinen Freifahrtschein für einzelne Projekte ausstellen.“ Der Krieg in der Ukraine verändere aber die Lage: „Bislang gab es Überkapazitäten im Gasbereich in Deutschland, weswegen wir LNG-Terminals für überflüssig erachtet haben. Nun brauchen wir eine Neubewertung und vor allem eine Gesamtstrategie, wie wir bis 2045 aus dem Gas aussteigen“, sagt Müller-Kraenner. Die Zeichen stehen auf Zeitenwende, auch in der Energiepolitik.

Zur Startseite