Schulz geht in die Bundespolitik: Ein Wechsel - nur wohin?
EU-Parlamentschef Martin Schulz geht also wirklich nach Berlin. Dort findet nun der nächste Akt statt: Die K-Frage der SPD. Ein Kommentar.
Martin Schulz hat sich entschieden – und dennoch bleiben viele Fragen offen. Zwar hat der Präsident des Europaparlaments am Donnerstag gleich in drei Sprachen erklärt, dass die nordrhein-westfälische SPD ihn auf Platz eins der Landesliste für die Bundestagswahl im kommenden Jahr gesetzt hat. Aber die wichtigste Frage bleibt dennoch unbeantwortet: Worin wird Schulz’ Rolle in der Bundespolitik demnächst bestehen? Wird er Kanzlerkandidat der SPD? Oder nimmt er erst einmal den Platz von Außenminister Frank-Walter Steinmeier ein, der Bundespräsident werden soll? Oder beides – so wie es Steinmeier im Bundestagswahlkampf 2009 glücklos versucht hat?
Es hat seinen Grund, dass Schulz nach seiner Erklärung am Donnerstag derartige Fragen gar nicht erst zugelassen hat: Er kann sie nicht beantworten. Was aus ihm in der Bundespolitik werden soll, hängt letztlich vom SPD-Chef Sigmar Gabriel ab. Und der lässt sich mit der Entscheidung Zeit, ob er bei der Bundestagswahl als Kanzlerkandidat antritt oder nicht.
Schulz musste erkennen, dass er in Brüssel keine Chance auf eine Wiederwahl hat
Immerhin hat sich Schulz mit seinem Entschluss, die Brüsseler Bühne zu verlassen, alle Berliner Optionen offen gelassen. Gerade noch rechtzeitig ist es ihm gelungen, seine Ambitionen auf eine dritte Amtszeit als Präsident des EU-Parlaments aufzugeben. Ganz von allein hat sich für Schulz die Erkenntnis, dass er die nötige Unterstützung im Europaparlament nicht mehr haben würde, wohl nicht ergeben. Andere wie die scheidende Grünen-Fraktionschefin im Europaparlament, Rebecca Harms, haben ihm bedeutet, dass es vielleicht doch Zeit ist für einen Wechsel an der Spitze des Europaparlaments, dem der SPD-Politiker Schulz immerhin seit 2012 als Präsident dient.
Immerhin hat er bei seinem Abgang in Brüssel gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt. In einer Zeit, in der das Geschimpfe über „die Politiker“ immer stärker zum populistischen Pauschalvorwurf wird, hat Schulz klar gemacht, dass er nicht an seinem Brüsseler Sessel klebt.
Dabei darf man ihm durchaus abnehmen, dass er eigentlich seine Mission in der EU-Hauptstadt – gerade in den Zeiten der Flüchtlingskrise, des Brexit und der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich – gerne noch einige Zeit lang weiter erfüllt hätte. Wie keinem anderem Politiker vor ihm ist es Schulz gelungen, dem EU-Parlament Sichtbarkeit zu verschaffen. Auch in Deutschland mögen viele nicht so genau wissen, was das EU-Parlament im Detail so genau macht. Aber dass jemand wie Schulz auch so komplexe Zusammenhänge wie das Zusammenspiel im Brüsseler Räderwerk oder die immer stärker werdende Rolle der Staats- und Regierungschefs mit klaren Formulierungen auf den Punkt zu bringen versteht, das hat sich inzwischen durchaus herumgesprochen.
Für Juncker könnte ungemütliche Zeiten anbrechen
Mit Schulz tritt aber nicht nur jemand von der Brüsseler Bühne ab, die Politik in griffige Formeln zu gießen vermag. Es stellen sich mit seinem Abgang nun auch inhaltliche Fragen, deren Tragweite kaum zu überschätzen ist. Zunächst einmal verliert EU-Kommissionschef Jean-Claude Junker, den Schulz auch am Donnerstag bei seiner Erklärung wieder als seinen Freund bezeichnete, einen Stabilitätsanker im Europaparlament. Der Sozialdemokrat Schulz war es, der dem Konservativen Juncker in der Vergangenheit immer wieder Mehrheiten in der Abgeordnetenkammer gesichert hat. Mit seinem im Januar bevorstehenden Abgang lässt sich vermuten, dass das Europaparlament künftig eher die Kontroverse mit Juncker suchen könnte, als die beispielsweise bei der Aufklärung der Luxleaks-Affäre der Fall war.
Auch für das Binnenverhältnis zwischen Sozialdemokraten und Konservativen im EU-Parlament, die dort seit jeher so etwas wie eine informelle große Koalition bilden, könnte Schulz’ Wechsel nach Berlin Folgen haben. Schon jetzt haben die Sozialdemokraten in Brüssel angekündigt, dass sie den Konservativen künftig eher die klare Kante zeigen wollen als bisher. Dieser Trend könnte sich nun noch verstärken.
Ob das europäische Spitzenkandidaten-Experiment wiederholt wird, ist offen
Schließlich stellt sich für die Europawahl im Jahr 2019 die Frage, ob dann noch einmal – ohne den Antreiber Schulz – jenes Experiment wiederholt wird, gegen das sich auch Kanzlerin Angela Merkel zunächst sperrte: die Aufstellung von Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien, die gleichzeitig Kandidaten für das Amt des Kommissionschefs sind. Schulz war es gewesen, der mit dieser neuartigen Prozedur die Bürgerferne der Brüsseler Institutionen abbauen half. Wenn die EU gerade jetzt etwas nicht gebrauchen kann, dann ist es der Vorwurf, Europa habe ein Demokratiedefizit. Demnächst wird es an anderen Europaparlamentariern sein, die Lücke zu füllen, die der scheidende Parlamentspräsident hinterlassen wird.
Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.