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Pascale Hugues beim Tag der offenen Tür im Verlagsgebäude vom Tagesspiegel am Askanischen Platz 3 in Berlin-Kreuzberg, aufgenommen
© Thilo Rückeis

Mon Berlin: Die Schöneberger Hauptstraße ist ein riskantes Abenteuer

Franzosen fliegen nach Berlin und denken die Oranienburger Straße sei irgendwie typisch. Ein Blick in den alten Westen verrät aber viel mehr. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Pascale Hugues

Diese Woche ging ich die Hauptstraße entlang, in Schöneberg: Dem Herzen West-Berlins. Eine marginalisierte und spießige Stadthälfte, wenn man den nach Mitte strömenden Hipstern glaubt. West-Berlin? Ein erstklassiger Has-Been! Ein Lump, den die Globalisierung hat liegen lassen! Ein alter Schrank, in dem sich der Mief staut!

Was, du wohnst in West-Berlin? rufen die frisch aus Paris eingeflogenen Franzosen, als hätte ich mich entschieden, im letzten Kaff der deutschen Provinz zu leben. Auf ihrem ultra-konventionellen Kompass der Coolness gibt es nur ein Ziel: Die Oranienburger Straße – diese aufregende und dynamische Gegend.

Schöneberg? Sie verziehen ihr Gesicht, als hätte ich keine Ahnung von irgendwas. Sie mustern mich kritisch und denken: Wie kann sie sich nur in einem so regungslosen Viertel verschanzen? Sie bevorzugen den Strudel aus Cafés, Designboutiquen, Galerien. Die einst abrissreifen, jetzt renovierten Altbauten, die Fassaden, die früher noch grau waren, heute bunt leuchten. Die Lofts, die aus den Dächern heraus gewachsen sind, die Clubs und die Bars, diese Hochburgen berlinerischer Nächte. Da, zumindest, muss ich ihnen recht geben: Beim Spaziergang entlang der Hauptstraße um drei Uhr morgens herrscht tote Hose.

Der Ansturm auf Ost-Berlin hat auch eine gute Seite

Sie sehen nicht, dass die Oranienburger Straße vor langer Zeit bereits ihren anarchistischen Witz verloren hat. Die Mietpreise steigen. Das Tacheles wurde von einem Gerichtsvollzieher mit Polizeibegleitung ausgeräumt und dann von einem Privatinvestor aufgekauft. Das Postfuhramt kaufte ein Herzklappenhersteller, der dort seine Berliner Repräsentanz aufbauen will.

Dieser Ansturm auf Ost-Berlin hat aber eine gute Seite: Die Investoren und Baulöwen haben die Hauptstraße in Ruhe gelassen. Einfach zurückgelassen mit seinen Relikten der Nachkriegs-Architektur. Hier gibt es weder Pop-Up-, noch Concept Stores. Hier ist die Shopping Experience noch bescheidener: Spielhallen, billige Supermärke, ein fantastisches Antiquariat, groß wie eine Kapelle, türkische Gemüsehändler und das Fischgeschäft – ein Paradies für Wolfsbärsche und Sardinen, so weit vom Meer entfernt. Keine euro-asiatische fusion kitchen, nicht vegan, nicht detox; kein Soja-Latte und keine wunderlichen Samen mit nichtssagendem Geschmack. Stattdessen ein solider Klassiker multikultureller Allianz: Döner und Bockwurst mit Pommes.

Die Hauptstraße scheint vor Jahren in Formalin eingelegt worden zu sein

Auf dem Bürgersteig vor dem Haus, in dem David Bowie lebte, liegen gebundene Blumen, kleine Dankeszettelchen und Kerzen. Wenige Wochen nach seinem Tod weinen Berliner Groupies noch immer. Die Hauptstraße bis zum Kaiser-Wilhelm-Platz entlang gehen, ist wie sich in einer intakten Kulisse zu bewegen: Berlin im Kalten Krieg. Jetzt, wo der letzte Schnee um mich herumwirbelt, habe ich das Gefühl, dass diese Straße vor Jahren in Formalin eingelegt wurde und so die Zeiten und deren Moden unbeeinflusst überdauerte.

Das echte Berlin ist hier. Das Berlin, das David Bowie in seiner herzzerreißenden Melancholie in „Where are we now“ besingt, seiner letzten Hommage an die Stadt, in der er einige Jahre verbrachte. Ich glaube nicht, dass er eine solche Verbindung mit der Oranienburger Straße hätte haben können. Hier sind wir im echten Berlin.

Die Pioniere sind austauschbar

Beim Entlanggehen auf der Hauptstraße verfestigt sich ein Eindruck, den ich schon immer hatte: Dass Berlin einen ungeheuren Widerstandswillen hat, dass es seine Identität konservieren kann. Die Frage ist aber: Wie lang noch? Und die Oranienburger Straße? Überbewertet und von Touristen und Hipstern überlaufen… Man findet sie in Trendvierteln der ganzen Welt: Bastille in Paris, Shoreditch in London, Williamsburg in New York. Dieselbe Klientel, dieselben Geschäfte, dasselbe Essen. Und dann dieser eigenartige Augenblick, in dem man kurz nicht mehr weiß, in welcher Stadt man ist. Die Pioniere sind austauschbar. Sie verlassen ungern die Herde, geben sich ungern außerhalb ihres geschützten Geheges in Gefahr. Die Hauptstraße hingegen ist wie ein Waldweg: Sich ihm hinzugeben, ist ein riskantes Abenteuer.

Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl

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