Gedenktag für die Corona-Opfer: Das Land erinnert an die Toten – und lässt die Katastrophe weiter geschehen
Deutschland richtet seinen Blick auf die Opfer der Corona-Pandemie – endlich. Dennoch ist der Gedenktag eine hilflose Geste. Ein Kommentar.
Es soll eine Geste der Einigkeit in einem Moment größter Spaltung sein: Mit einem Gedenkakt erinnern Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Spitzen der weiteren Verfassungsorgane an diesem Sonntag an die Toten der Corona-Pandemie. Fünf Hinterbliebene sind geladen, stellvertretend für Unzählige.
Zumindest für einen Tag richtet sich der Blick damit nicht auf die neuesten Zahlen der Infizierten und Verstorbenen, sondern darauf, dass diese Zahlen Menschen meinen, dass sie für lauter einzelne Schicksale stehen. Es geht um die vielen Jahre, die verloren wurden, um so viel Leben, das noch zu leben gewesen wäre.
Das Land erinnert an Eltern, die ihre Kinder nicht mehr beim Aufwachsen begleiten werden, an Pflegerinnen, die ihr Leben einsetzten, um anderen zu helfen. Es gedenkt auch der Menschen, die ein langes, erfülltes Leben hatten, denen aber die letzten Jahre genommen wurden, die glückliche hätten sein können.
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Am Sonntag geht es auch um die Hinterbliebenen der bisher 79.914 Toten. Für viele von ihnen ist durch den Verlust nichts mehr wie zuvor. Oft konnten sie den Sterbenden auf dem letzten Weg nicht zur Seite stehen und selbst keinen Abschied nehmen. Sie blieben zurück, hilflos und verzweifelt und viel zu oft allein. Dies ist mehr als ein individueller Verlust, es ist ein kollektives Trauma.
Der Toten angemessen zu gedenken, ist überfällig. Und doch mutet es seltsam an, dass diese Geste ausgerechnet jetzt kommt. Denn gleichzeitig ist die Gesellschaft gespalten wie nie in der Frage, wie es weitergehen soll. Hausnummerngenau ist für manche Straßen geregelt, wo eine Maske zu tragen ist und wo nicht. Besprochen werden Impfquoten, Nebenwirkungsrisiken, R-Werte.
Die täglichen Totenzahlen hingegen werden nur noch zur Kenntnis genommen. Das Land begeht einen Gedenktag, lässt die Katastrophe aber weiter geschehen. Die dritte Welle rollt mit Wucht über uns hinweg, und es gibt keine effektive Abwehr.
Die einen fühlen sich von den anderen im Stich gelassen – und umgekehrt.
Auch im Privaten ist die Spaltung angekommen. Manche Menschen fühlen sich ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch immer wie gelähmt vom Gedanken, ihre liebsten Angehörigen könnten lebenslang erkranken oder sterben. Sie sehnen striktere Maßnahmen herbei. Andere ertragen nicht länger, isoliert zu sein und ihr gewohntes Leben verloren zu haben. Sie ringen um ihre seelische Gesundheit und empfinden die Corona-Regeln als nicht mehr aushaltbar. Die einen fühlen sich von den anderen im Stich gelassen – und umgekehrt.
Das Virus trifft alle, und es trifft alle existenziell. Mit ihren Nerven, ihrer Kraft, Geduld und Resilienz sind wohl die meisten am Ende. Das macht es umso schwieriger, sich noch miteinander zu verständigen. Freundschaften sind zerbrochen, Familienbande belastet. Vielleicht ist dieser Gedenktag ein Anlass, einmal wieder zu fragen: Wie geht es dir? Wie erträgst du das alles?
[Der Tagesspiegel erinnert an die Toten: Dies sind die Opfer der Pandemie - wir erzählen ihre Geschichten]
Am Sonntag soll die Kraft der Worte wirken. Vielleicht werden ein paar von ihnen im Gedächtnis bleiben. Doch vermutlich werden sie im Nachhinein allzu bald schon wieder hohl klingen. Auch dieser Tage infizieren sich Menschen neu. Manche von ihnen werden in wenigen Wochen ins Krankenhaus kommen, auf die Intensivstationen, wo man ihnen vielleicht nicht mehr helfen kann. Es sind die Menschen, derer das Land im Sommer gedenken wird.