Tagung an der Akademie der Künste: Wie sollte Europa mit seinen Kolonialverbrechen umgehen?
Die Herero und Nama haben Deutschland auf Reparationen verklagt. In der Akademie der Künste diskutieren Beteiligte über koloniales Unrecht und ihre Forderungen.
Der bronzene Riese fällt. Am Morgen des 1. Novembers 1968 reißen Studenten das zweieinhalb Meter große Denkmal Hermann von Wissmanns vor der Hamburger Universität vom Sockel. Wie kaum ein anderer verkörpert der ehemalige Generalgouverneur Deutsch-Ostafrikas die Legende vom „guten“ Kolonialisten. Man nennt ihn „Deutschlands größten Afrikaner“. Für die Studentenbewegung ist er „Europas Herrenmensch“.
Kolonialismus- und Imperialismuskritik gehört zum Selbstverständnis der 68er. Doch wo einst ein Kolonialmonument stand, blieb ein leerer Sockel zurück. Das Denkmal verschwindet im Depot. Und wird zum Symbol für den Umgang der Bundesrepublik mit seiner Vergangenheit.
2017 tauchte der gefallene Wissmann kurz wieder auf. Im Deutschen Historischen Museum in Berlin, als Exponat der bisher umfassendsten Ausstellung des Hauses zu diesem Kapitel deutscher Geschichte. Auch das ein Sinnbild. Der postkoloniale Diskurs erlebt gerade ein Revival, einen eigenen „Marsch durch die Institutionen“. So hat das geplante Humboldt-Forum die überfällige Debatte angestoßen, wie mit den ethnologischen Sammlungen umgegangen werden soll, deren Bestände auf kolonialen Raub zurückgehen oder deren Herkunft ungeklärt ist. Das Goethe-Institut will Lücken in der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus gemeinsam mit afrikanischen Forschern schließen.
Erste Völkermord des 20. Jahrhunderts
Und die Akademie der Künste hat an diesem Wochenende mit dem Zentrum für politische Bildung eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Koloniales Erbe“ eröffnet. Internationale Juristen, Wissenschaftler und Vertreter von Opferverbänden diskutierten über koloniales Unrecht und Reparationen. Zwei weitere mehrtägige Symposien sollen bis Juni folgen, dazu Performances und Ausstellungen. Das Timing ist kein Zufall, findet doch fast zeitgleich in New York die dritte Anhörung der Genozid-Klage der Herero und Nama gegen die Bundesregierung statt.
Vertreter der beiden namibischen Völker fordern vor dem US-Gericht Entschädigung und eine offizielle Entschuldigung von Deutschland für das Massaker an ihren Vorfahren. Beide Gemeinschaften lehnten sich um 1900 gegen die Kolonialmacht auf. Die machte aus dem Krieg einen rassistisch legitimierten Vernichtungsfeldzug. 65 000 Herero – fast das gesamte Volk – sowie die Hälfte der Nama werden getötet, Überlebende in Konzentrationslager gesteckt, ihr Land und ihr Vieh konfisziert. Historiker sind sich einig: Das ist der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Einige sehen in den Praktiken den Vorläufer zum Holocaust.
Vertreter der Herero und Nama trauen den Verhandlungen nicht
Esther Muinjangue, eine Vertreterin der Herero in New York und Vorsitzende des Ovaherero Genocide Committee, gehört zu den Teilnehmer der Akademie-Tagung am Pariser Platz. Mit ihrer Klage hat sie einen ersten Sieg errungen. Berlin kann sie nicht weiter aussitzen wie bisher. Das US-Gericht droht ansonsten mit einem Urteil. Die Bundesregierung hat nun einen Anwalt geschickt, der das Land in der nächsten Anhörung im Mai vertritt.
Die Herero und Nama leben heute in Armut, ihre einstigen Ländereien gehören anderen. Sie fühlen sich ausgeschlossen vom Wohlstand, von ihrer Regierung verraten, die von Berlin erhaltene Entwicklungshilfen für sich einbehält. Wenn Muinjangue in der Akademie der Künste von den Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland spricht, dann geht ihr das Wort Verhandlungen gegen den Strich. „Wir nehmen daran nicht teil“, sagt sie, „weil die beiden Regierungen über Entwicklungshilfe reden, wir aber Entschädigungen fordern. Sie sprechen juristisch von Gräueltaten, wir von Völkermord.“ Eine Verlegung des Verfahrens nach Deutschland, wie es der Anwalt der Bundesregierung zuletzt vorschlug, lehnt sie ab. „Warum sollten wir vor das Gericht derjenigen ziehen, die wir verklagen? Das wäre, also ob ein Vergewaltiger über seine eigene Schuld befinden dürfte. Und selbst wenn er diese zugäbe, würde er dann selbst über sein Strafmaß entscheiden? Ist das etwa gerecht?“ Auch anwesende Juristen, wie die Niederländerin Liesbeth Zegveld, Professorin für Kriegswiedergutmachungen in Amsterdam, schütteln über den Vorschlag den Kopf.
Kritische Sicht auf Europa und sein koloniale Erbe
Deutschland und die Herero und Nama. Das ist nur ein Fall von unzähligen, ein winziger Aspekt einer sich über Jahrhunderte weltweit vollziehenden Unrechtsgeschichte. „Wir haben eine Mauer des Schweigens um die Kolonialverbrechen der Vergangenheit gelegt, um ihr rassistisches Erbe zu beschützen“, meint die Anwältin Claire Tixeire vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte.
Viele Historiker teilen mittlerweile die kritische Sicht auf Europa und das Erbe der Aufklärung. Die Abschaffung des Sklavenhandels 1807 wird als moralische, ideologische und rechtliche Grundlage für die imperialistische Eroberung Afrikas im 19. Jahrhundert gesehen. Genauso ambivalent erscheint die Französische Revolution. Während die Nationalversammlung in Paris die Menschenrechte deklarierte, versuchte Frankreich in Haiti, ihrer wohlhabendsten karibischen Kolonie, einen Sklavenaufstand um die Teilhabe an eben jenen Rechten blutig niederzuschlagen. Die befreite Republik, heute eines der ärmsten Länder der Welt, bezahlte ihre Unabhängigkeit 1804 teuer: mit internationaler Ächtung und Reparationen an Frankreich in Milliardenhöhe. Sie entrichtete sie bis 1947. Forderungen einer Rückzahlung waren bisher fruchtlos.
Kenianische Opfer hatten Erfolg mit ihrer Klage gegen Großbritannien
Es gab aber auch Erfolgsurteile. 2013 erhielten kenianische Kikuyu Reparationen von Großbritannien. Das Empire hatte das Volk enteignet und in einem erbarmungslosen Unabhängigkeitskrieg massakriert sowie schätzungsweise eine Millionen Menschen in Konzentrationslagern interniert. England entschuldigte sich öffentlich. Gerade dieses Beispiel zeigt, wovor Berlin sich fürchtet. Denn mittlerweile haben 40 000 weitere Kenianer geklagt. Auch die ehemaligen Freiheitskämpfer Ostafrikas leben heute größtenteils in Armut.
Deutschland könnte sich nach einem Erfolg der Herero und Nama mit Forderungen aus Tansania und Ruanda konfrontiert sehen. Das Kaiserreich nutzte in dem heute fast völlig vergessenen Maji-Maji-Krieg 1905 bis 1907 gegen aufständische afrikanische Völker eine Taktik der verbrannten Erde, an der die Menschen verhungerten. Ganze Dörfer und Landstriche lagen brach. Heutige Schätzungen gehen von rund 250 000 Toten aus, fast ein Drittel der Bevölkerung.
Giacomo Maihofer
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