Reaktionärer Backlash gegen MeToo: Was die Kritik an „Joker“ über Hollywood verrät
In „Joker“ ist ein Song des Pädophilen Gary Glitter zu hören. Die Diskussion darüber offenbart, wie die Filmbranche den Weinstein-Skandal loswerden will.
Lieber schlechte Presse als gar keine Presse. Das Motto könnte momentan nicht treffender sein für Todd Phillips' Film “Joker”, der am vergangenen Wochenende – begleitet von Kontroversen um seine Gewaltdarstellungen – auf einer Erfolgswelle in die amerikanischen Kinos schwappte. Mit 96 Millionen Dollar national und über 150 Millionen Dollar weltweit erzielte der Film das bislang beste Einspielergebnis an einem Startwochenende im Oktober.
Gleichzeitig wird erneut Kritik laut, weil in der zentralen Szene des Films, in der Hauptdarsteller Joaquin Phoenix eine Treppe heruntertänzelt, das Stück “Rock'n'Roll, Part 2” des englischen Glamrockers Gary Glitter zu hören ist.
Glitter wurde 2015 zu 16 Jahren Gefängnis wegen mehrfacher versuchter Vergewaltigung und Sex mit einer Minderjährigen verurteilt. Dank des überraschenden Erfolgs des Films könnten Glitter (mit bürgerlichem Namen Paul Gadd), wie das britische Boulevardblatt “The Sun” herausgefunden haben will, nun über 100.000 Pfund an Tantiemen zustehen.
Es waren Fans, die im Lauf des Wochenendes erstmals auf die fragwürdige Musikauswahl hinwiesen (auf dem Soundtrack befinden sich auch Songs von Frank Sinatra, Cream und Etta James).
Noch aus einem anderen Grund war der Film in den vergangenen Wochen bereits in die Kritik geraten: Angehörige von Opfern des Aurora-Massakers machten darauf aufmerksam, dass der Film „Joker“ sehr lax mit dem Selbstjustiz-Thema umgeht. Bei dem Attentat im Jahr 2012 waren 12 Menschen während einer Batman-Premiere Opfer eines Amokläufers geworden. Die Unterzeichner des offenen Briefes fordern von dem Studio Warner Bros., seine wirtschaftliche Macht zu nutzen, um sich für härtere Waffenkontrollen im US-Kongress einzusetzen.
Gary Glitter kann im Gefängnis Geld verdienen
Die Kontroverse um das Glitter-Stück hat noch einmal eine andere Qualität als die Frage der Gewaltdarstellungen, die seit dem offenen Brief die kritische Rezeption des Films in den USA beeinflusst hat. Sie geht auch weit über das Problem hinaus, ob es moralisch noch vertretbar ist, die Musik eines verurteilten Künstlers zu hören.
Über die Lizensierungsmodalitäten ist nichts weiter bekannt, Warner hat sich zu den Vorwürfen aus den sozialen Medien bislang nicht geäußert. Es gilt allerdings als wahrscheinlich, dass Glitter an den verkauften Kinokarten sowie den Soundtrack-Verkäufen mitverdient. Das Verwertungsrecht erlischt nicht einfach, weil ein Autor sich strafbar gemacht hat. Auch der des Mordes verurteilte Produzent Phil Spector erhält weiter Tantiemen für seine Musik.
Schwerer als die wirtschaftliche Frage wiegt aber die moralische Verantwortung. Warum erlaubt Warner Bros., dass ein Sexualstraftäter mit einem ihrer Filme Geld verdient? In den USA weckt der Name Gary Glitter zwar andere Assoziationen als in Europa. Dort ist „Rock'n'Roll, Part 2“ bis heute eine beliebte Hymne bei Sportveranstaltungen, um die Fans auf das Spiel einzustimmen. In seiner Heimat England gilt Glitter hingegen als persona non grata. Bei Warner sollte man so viel kulturelles Fingerspitzengefühl besitzen. „Joker“ ist allerdings keine Ausnahme, auch Richard Linklater hat den Glitter-Song 2014 in „Boyhood“ benutzt.
Kultureller Backlash gegen MeToo
Der Fall Glitter interessiert noch aus einem anderen Grund. Er ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich in der US-Unterhaltungsbranche gerade eine Gegenbewegung zur MeToo-Initiative formiert. Tauende von Künstlerinnen und Künstlern hatten sich 2017 nach den Enthüllungen um den Produzenten Harvey Weinstein der Initiative angeschlossen und härtere, auch strafrechtliche Konsequenzen für sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie eine neue Kultur der Transparenz und Inklusion gefordert.
Allerdings fällt die Bilanz nach zwei Jahren ernüchternd aus. Asia Argento, eine der ersten Weinstein-Anklägerinnen, sah sich selbst zweifelhaften Anschuldigungen ausgesetzt, Kevin Spacey wurde von allen Vorwürfen freigesprochen, Pixar-Produzent John Lasseter kam nach seinem Rücktritt schnell bei einem anderen Animationsstudio unter und selbst Harvey Weinstein wird vermutlich ungeschoren davonkommen.
Auch in der amerikanischen Stand-up-Comedy, wo die sogenannte politische Korrektheit schon immer ein beliebtes Ziel war, gab es prominente MeToo-Beschuldigte wie Louis CK, Aziz Ansari und Kevin Hart, der nach Jahre alten homophoben Tweets im Februar von seiner Oscar-Moderation zurücktrat. Natürlich, ohne sich für seine Beleidigungen zu entschuldigen. Er sieht sich als Opfer einer „politisch-korrekten” Kampagne.
Politische Korrektheit killt Comedy
Ähnlich argumentierte vergangene Woche „Joker“-Regisseur Todd Phillips, als er in der „Vanity Fair“ erzählte, dass er nach seiner erfolgreichen „Hangover“-Trilogie mit dem Thema Comedy abgeschlossen habe. Phillips führte aus, dass in den USA aktuell eine „woke culture“ dominiere – also eine Kultur, die auf rassistische, sexistische oder soziale Diskriminierungen empfindlich reagiert.
Angesichts dieser Stimmung müsse jeder Komiker peinlich darauf bedacht sein, niemanden mehr zu beleidigen, sagte der Regisseur. Darum habe er sich für eine nihilistische Superheldenverfilmung entschieden – sein „Fuck you!“ gewissermaßen an alle Moralapostel.
Phillips' Aussagen sorgten in der Branche für Stirnrunzeln, der neuseeländische Regisseur Taika Waititi („Thor: Tag der Entscheidung“) postete auf Twitter das Interview-Zitat, ergänzt um den ironischen Kommentar „sehr witzig“. Auf dem Filmfestival in Toronto, wo auch “Joker” seine Amerika-Premiere feierte, gewann Waititi vor einigen Wochen mit seiner leicht pädagogischen Hitler-Komödie “Jojo Rabbit” den Publikumspreis.
„Joker“ ist Vorbild der Hasskultur im Netz
Insofern passt Phillips' Haltung fast schon ein wenig zu gut zum “PR-Unfall” mit dem Gary-Glitter-Song, der bei genauerem Hinsehen geradezu strategisch wirkt: wie eine gezielte Provokation des liberalen Establishments in Hollywood. In einer Traditionslinie zum Beispiel mit dem kontroversen Radiomoderator Howard Stern, bei dem Gesinnung und Humor ebenfalls kaum noch zu unterscheiden sind.
Man muss den Regisseur allerdings auch vor den rechten Trollen der Incel-Kultur in Schutz nehmen, die gerade seinen Joker, der mit einem Volksaufstand die gesellschaftliche Ordnung ins Chaos stürzt, als neue Gallionsfigur in ihrem Kampf gegen die Demokratie entdeckt haben.
Trotzdem hat sich Todd Phillips mit seinen jüngsten Aussagen – und “Rock'n'Roll, Part 2” vom pädophilen Glamrocker Gary Glitter ist da nur ein weiteres Indiz – als Teil eines reaktionären Backlashs in der US-Unterhaltungsbranche geoutet, dessen effektivste Waffe seit jeher die plumpe Grenzüberschreitung war.
Einer von Phillips' frühen Dokumentarfilmen ist bezeichnenderweise dem 1993 verstorbenen Punkrocker GG Allin gewidmet, der auf der Bühne Frauen regelmäßig verprügelte und seine Fans mit Scheiße bewarf.
Die Ironie an der kleinen Kontroverse besteht letztlich darin, und das hat Phillips tatsächlich mit den Rechtspopulisten gemein, die sich in den freien Medien über den Mangel an Meinungsfreiheit beschweren, dass der Erfolg von “Joker” die Kritik seines Regisseurs widerlegt.
Man kann sogar den Song eines verurteilten Pädophilen in einen Hollywood-Film schmuggeln, noch dazu in einer Szene, die vermutlich Filmgeschichte schreiben wird – und trotzdem an den Kinokassen in vier Tagen über 250 Millionen Dollar verdienen. Man mag diesen "Witz" mindestens geschmacklos finden. Aber da behaupte noch einer, Hollywood habe keinen Humor.