„Boyhood“ von Richard Linklater: Der schönste Film des Jahres
Alles gespielt und alles echt: Richard Linklater beobachtet in "Boyhood", dem Berlinale-Publikumsliebling 2014, eine Patchworkfamilie beim Erwachsenwerden.
Ich dachte, da würde noch mehr sein, sagt die Mutter Olivia. Kinder kriegen, heiraten, sich scheiden lassen, wieder heiraten, sich wieder scheiden lassen, späte Ausbildung, Wunschberuf – und jetzt geht nach der Tochter auch der Sohn aus dem Haus. Ich will es bald verkaufen, sagt sie, ihr müsst nur euren Kram aussortieren, das kann weg, das kann in die Kiste, aber bloß nicht so viel, schrecklich, dieser Ballast – und was kommt jetzt noch in meinem Leben?
Wir improvisieren doch alle, sagt der Vater ein paar Wimpernschläge später zu Mason, dem Sohn. Und doch wird so etwas wie ein Leben daraus. Klar, Mason senior meint den eigenen mäandernden Werdegang vom Hallodri-Rockmusiker, der sich in Masons Kindheit rarmacht, zum halbwegs verantwortungsvollen WochenendDad mit Mini-Van und Zweitfamilie. Aber es ist keineswegs so, dass jetzt, nach 164 Minuten, nach zwölf Jahren im Leben von Mason junior, gewichtige Resümees gezogen würden. Die Mutter weint ein bisschen, aber es ist kein Drama, sie muss es nur mal aussprechen, dass sie manchmal über das eigene Leben erschrickt. Auch der Vater formuliert seinen Satz übers Improvisieren nicht als tiefsinnige Sentenz. Es ist nur eine Bemerkung, eine Beiläufigkeit, seine Art, sich zu entschuldigen, weil er öfter nicht da war für Mason und seine Schwester Samantha.
Das ist das Wunderbare an „Boyhood“, dem besten Film, den Richard Linklater bislang gedreht hat, dem Berlinale-Publikumsliebling 2014, dem schönsten Film des Jahres. Dass er die Unmerklichkeiten im Alltag dieser texanischen Vatermuttertochtersohn-Patchworkfamilie versammelt, die scheinbar unwichtigen kleinen Momente, aus denen das Leben im Großen und Ganzen nun einmal besteht. Das, was zwischen den Höhe- und Tiefpunkten geschieht, den Hochzeiten und Trennungen, dem ersten Schultag und den Proms, dem ersten Kuss und dem ersten Kummer, den Umzügen, den Abschieden und Neuanfängen.
Uraufführung war 4207 Tage nach Drehbeginn
Angefangen haben sie 2002. Der damals siebenjährige Ellar Coltrane als Mason, Linklaters neunjährige Tochter Lorelei als Samantha, Patricia Arquette als alleinerziehende Mutter und Ethan Hawke als Gelegenheitsdaddy. Im Oktober 2013 waren die Dreharbeiten abgeschlossen, beim Sundance-Festival wurde „Boyhood“ uraufgeführt, 4207 Tage nach Drehbeginn. Das gab es noch nie in der Geschichte des Kinos: ein Coming-of-AgeSpielfilm im Langzeitbeobachtungsmodus, ein Epos über Kindheit und Jugend, in dem die Darsteller nicht gemäß dem Alter der Figuren ausgetauscht werden, sondern in Echtzeit älter werden.
Zwar ging Edgar Reitz bei seiner „Heimat“-Trilogie ähnlich zu Werke, aber eben über zahlreiche Folgen. Und bei Langzeitprojekten wie „Die Kinder von Golzow“ oder Michael Apteds „Up“-Serie handelt es sich um reine Dokumentarfilme. Für „Boyhood“ traf man sich jedes Jahr ein paar Tage, um weiterzudrehen und sich auszudenken, wie es Mason und den Seinen in der Zwischenzeit ergangen ist. Ein Hochrisikospiel für den heute 53-jährigen Regisseur; Zwölfjahresverträge existieren in der Filmindustrie nicht.
Schon das rührt an: Man sieht der Zeit bei der Arbeit zu, sieht, wie sie Gesichtszüge und Charaktere verändert und wie die Menschen sich dennoch treu bleiben dabei. Ethan Hawke singt eigene Songs zur Gitarre und kommt sichtlich in die Jahre. Die schlanke Patricia Arquette (die auch im wirklichen Leben jung Mutter wurde) geht, mit Verlaub, ein wenig auseinander, ihr Profil wird weicher, die Frisur flotter, ihr Auftreten tougher. Lorelei Linklater legt bei ihrem ersten Auftritt eine sexy Songnummer im Schlafanzug hin und schimpft wie ein Rohrspatz, als die Mutter mit ihnen nach Houston umzieht, damit sie sich weiterbilden kann für einen besser bezahlten Job. Irgendwann trägt Samantha eine Zahnspange, wird scheuer, ihre Frechheit verliert sich. Mason alias Ellar Coltrane legt umgekehrt schon früh seine Unbekümmertheit ab, um lange nach dem ersten Bartflaum doch noch aus sich herauszugehen, auf seine Art. Fiktion und Realität sind in „Boyhood“ zu einer unendlich feinmaschigen Textur verwoben. Mason ist ein Introvertierter, ein Suchender. Er beobachtet, statt große Worte zu machen – zum Beispiel den ersten Stiefvater, den Uni-Prof, der zu viel trinkt und gewalttätig wird. Erst dem zweiten Stiefvater, dem Irakkriegs-Veteran, der ebenfalls ein Alkoholproblem hat, bietet Mason Paroli. Da weiß er halbwegs, was er will, zieht sich in die Highschool-Dunkelkammer zurück und gewinnt mit seinen Fotos eine Silbermedaille.
"Ist es wahr, dass es keine Elfen gibt?"
Das Leben als Rollenspiel, als Folge von Entschlüssen und Zufällen, Irrtümern und Korrekturen. In seiner „Before“-Trilogie („Before Sunrise“, „Before Sunset“, „Before Midnight“) mit Julie Delpy und Ethan Hawke hatte der amerikanische Autorenfilmer ein Paar von der ersten Nacht bis zur Ernüchterung in langjähriger Ehe begleitet. Auch das war bereits eine Studie über den Zahn der Zeit, aber im üblichen Rahmen der Fiktion und über drei Filme verteilt. Schon da besaßen die Dialoge den Charme der Natürlichkeit, obwohl kaum ein Satz improvisiert war.
In „Boyhood“ hat Richard Linklater diese Natürlichkeit zur Meisterschaft gebracht. Die Verlegenheit des Besuchsvaters gegenüber den Kindern, die Ethan Hawke mit rasend guter Laune zu überspielen versucht. Die Verlegenheit der Kinder, wenn die Freunde da sind („Mama, bist du peinlich“) oder über Verhütung geredet wird. Die Ungelenkheit der ersten Liebe, die Einsamkeit der Jugend, die Missverständnisse, die Ignoranz und die Zärtlichkeit zwischen den Generationen in dieser Familientragikomödie der Irrungen und Wirrungen: Es ist ein Glück, als Zuschauer dabei sein zu dürfen. Die Kunst der Teilhabe – großes Kino.
Allein wie Ethan Hawke aus der Vaterrolle fällt, um sie endlich anzunehmen. Fährt mit seinem Pontiac GTO an den Straßenrand, stoppt die stockende Konversation, sagt: Ich bin nicht so ein Vater, der fragt, wie war’s in der Schule, euch ein bisschen herumkutschiert und Sachen spendiert. Also noch mal: Mason, wie geht’s dir? Nach und nach wird er zum besten Zuhörer für seine Kinder, berät Mason in Flirtfragen und Samantha bei der Sache mit den Kondomen, was dem Film zwei köstlich komische Szenen beschert.
Oder wie Richard Linklater die Poesie ins Dokufiktive einschleust. Ich habe herausgefunden, wie Wespen entstehen, sagt der Erstklässler Mason. Wenn Wassertropfen in die Luft fliegen, werden sie Wespen. Jahre später, beim Camping-Männerwochenende mit Daddy, fragt er vorsichtig: Ist es wahr, dass es keine Elfen gibt? Allein die Magie, die über dieser Szene in freier, fantastischer Natur liegt, straft seine Befürchtung Lügen.
Die Zeit selber wandelt sich auch, vom Coldplay-Hit „Yellow“ bis zu Daft Punk und Arcade Fire auf der Tonspur. Die Jungs gucken Zeichentrickfilme und Unterwäsche-Katalogwerbung, später sind es Videospiele und Softpornos auf dem Computer. Das erste Handy taucht auf, dann die Smartphones. Am Anfang gibt es Irakkrieg im Fernsehen – und eines Tages pflanzt Mason mit den Kids „WähltObama“-Schilder in die Vorgärten.
„Boyhood“ ist auch ein Film über Amerika. Über die Hippie-Generation und wie deren Träume verblassen. Über die Mittelschicht, die sich abrackert, damit die Kinder aufs College können. Über die Frauen, die den Laden schmeißen und sich mit 40 neu erfinden. Über den American Way of Erwachsenwerden: Zum 15. Geburtstag wird Mason eine Bibel, eine Schrotflinte und ein Anzug geschenkt.
Das Theater mit seinen reitenden Boten verhandelt, was war und wie es fortwirkt. Das Kino mit seinen flüchtigen Lichtgestalten verhandelt, was ist: die unendliche Abfolge vergänglicher Gegenwart. Gedreht wurde altmodisch auf 35 Millimeter, nicht digital, ohne ästhetischen Schnickschnack. Komm schon, Mason, erzähl mir von dir: Linklater erkundet, wie viel Wahrheit in der Wirklichkeit steckt.
Es ist immer jetzt, sagt Mason am Ende. Diesen Zauber des Jetzt verbreitet „Boyhood“ wie lange kein Film.
Ab Donnerstag in 13 Berliner Kinos. OV im Cinestar SonyCenter; OmU im Babylon Kreuzberg, Bundesplatz, Hackesche Höfe, International und Odeon
Christiane Peitz