Nach dem Schuldspruch gegen Gary Glitter: Skandal um Missbrauch in Großbritannien
Der Schuldspruch gegen den Musiker Gary Glitter hat im Skandal um fast flächendeckenden Kindesmissbrauch in Großbritannien neue Abgründe offenbart. Das Ende der Fahnenstange ist noch längst nicht erreicht.
Viele der Frauen brechen in Tränen aus, wenn sie vor Gericht über die Geschehnisse in den 1970er Jahren aussagen. Heute sind sie um die 50, gestandene Erwachsene, manche haben selber Kinder. Damals waren sie verletzliche Geschöpfe. Schamlos ausgenutzt von Kriminellen mit Starallüren. Der Prozess gegen den als Pädophilen enttarnten britischen Musiker Gary Glitter wirft ein weiteres Schlaglicht hinter die Bühnen der schillernden Musikszene der 70er Jahre.
Aufgerüttelt durch den Skandal um den inzwischen verstorbenen BBC-Moderator Jimmy Savile greift die britische Justiz inzwischen härter durch. Fast im Tagesrhythmus fallen nun Urteile gegen die Täter von damals. Glitter wurde am Donnerstag schuldig gesprochen, am Freitag war mit Michael Salmon ein Kinderarzt an der Reihe. Er verging sich an jüngen Mädchen, während er sie untersuchte. Die britische Scheinwelt der 1970er Jahre, geprägt von Plateausohlen und Glitzer-Overalls, bekommt immer mehr Kratzer, das Vertrauen in fast alle Institutionen der Gesellschaft leidet schwer.
Vermeintliche Idole
Was sich in den Umkleideräumen von Konzerthallen und Hotelzimmern abspielte, hatten die im Dunstkreis ihrer vermeintlichen Idole blind gewordenen Mütter der Opfer oft toleriert, wenn nicht gar gewünscht. Eine Zeugin erinnert sich, wie ihre betrunkene Mutter in einen anderen Raum geführt wurde, während sie im Alter von zwölf Jahren mit Glitter alleingelassen wurde. In einem Fall hatte der Freund der Mutter einer 13-Jährigen dem Mädchen den Zugang zum Umkleideraum verschafft. Dort habe es sich auf den Schoß des halbnackten Sängers setzen müssen.
Glitter, der die Vorwürfe bis zum Schluss bestritt, ist ein eigenwilliger Charakter. Als Musiker war er mehr eine kurze Zeiterscheinung, als ein erfolgreicher Star. Die britischen Medien ließen kaum eine Möglichkeit aus, den inzwischen altersschwachen 70-Jährigen während des Prozessverlaufs lächerlich zu machen. So breiteten sie genüsslich aus, wie er seinen Opfern das Berühren seiner aufwendig toupierten Haare verboten haben soll - die waren nämlich nicht echt, in Wirklichkeit hatte der Möchtegern-Superstar Haarausfall.
Glitter war vor Gericht kein Unbekannter. Ende der 90er Jahre in Großbritannien und 2007 in Vietnam wurde er bereits einschlägig zu Haftstrafen verurteilt. Sein Name wird im britischen Register für Sexualstraftäter geführt. Die Überraschung darüber, dass auch er Teil des Skandals ist, hielt sich im Königreich im Grenzen. Wohl auch deshalb, weil der Skandal so groß ist, weil er alle Gesellschaftsschichten umfasst - vom Taxifahrer aus Pakistan bis zum Chefarzt eines Krankenhaus, von der Glitzerwelt von Film- und Fernsehen bis zu früheren Regierungsmitgliedern.
Auch verstorbenem Ex-Innenminister Leon Brittan wird Vergewaltigung vorgeworfen
Der jüngst an Krebs gestorbene Ex-Innenminister Leon Brittan soll Vorwürfen von Opfern zufolge Kinder vergewaltigt haben - Jungen und Mädchen. Parlamentarier, die von den Vorwürfen wussten, hielten sie bis zum Tod Brittans unter der Decke. Im Innenministerium sind Unterlagen, die Aufschlüsse über die Geschehnisse von damals geben könnten, spurlos verschwunden. Die Anschuldigungen sind gravierend: Ein Pädophilen-Netzwerk soll sich in Westminster über Jahre gehalten haben, drei junge Menschen sollen sogar zu Tode gekommen sein. Scotland Yard ermittelt nun in der eigenen Nachbarschaft.
Die Regierung von Premierminister David Cameron tut sich auch deshalb besonders schwer mit der Aufarbeitung. Eine Untersuchungskommission, die das ganze Ausmaß des Skandals unter die Lupe nehmen soll, kommt nur schwer in Gang. Mit Fiona Woolf trat auf Druck von Opfer-Vertretern im Herbst die zweite Richterin vom Kommissionsvorsitz zurück. Sie war eine Freundin von Leon Brittan.
Ihre Vorgängerin war aus ähnlichen Gründen zurückgetreten. Jetzt soll mit Lowell Goddard eine Juristin die Untersuchungen leiten, die zumindest persönlich nicht involviert gewesen sein kann - sie kommt vom anderen Ende der Welt, aus Neuseeland. (dpa)