Bayreuther Festspiele: Wahnfried vor Gericht
Gesungene Dialektik der Aufklärung: Barrie Kosky eröffnet mit einer umjubelten Inszenierung von Wagners „Meistersingern“ die Bayreuther Festspiele.
Ein Pogrom in Bayreuth, das gab’s noch nie. Jedenfalls nicht im Festspielhaus. Barrie Kosky lässt die Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs vollends ausarten. Nürnbergs Bürger, angetan in Mittelalterroben, sprich: das deutsche Volk zeigt seine antisemitische Fratze und trampelt den armen Beckmesser fast zu Tode. Der setzt sich seinerseits eine „Stürmer“-Judenfratze auf, hüpft, trippelt und windet sich, ein Sündenbockstanz unter den Augen der Öffentlichkeit. Und während Philippe Jordan im Graben das ansonsten ungemein feinnervige Orchester zum Tumult animiert, füllt bald dieselbe Fratze als gigantischer Kopf-Ballon die Bühne, der zum Lied des Nachtwächters gleich wieder in sich zusammenfällt.
Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“, das deutscheste seiner Stücke, Hitlers Lieblingsmusik, Reichsparteitags- und Durchhalte-Oper auf dem Grünen Hügel zum Kriegsende, es ist ein unmögliches, teils unerträgliches, teils unwiderstehliches Werk. Krachende Komödie, Nationalpathosschleuder, Utopie, Dystopie, kritische Selbstreflexion des musikalischen Handwerks und der Hybris, die Wagner zu eigen war. Es wäre grundfalsch zu sagen, dass der Australier Barrie Kosky, der erste jüdische Regisseur in Bayreuth überhaupt, sich von all den widersprüchlich schillernden Aspekten der „Meistersinger“ lediglich Wagners Antisemitismus vornimmt.
Die Fratze dominiert nur einen kurzen Moment die Bühne, überdeutlich, es geht nicht anders. Denn erstens arbeitet Wagner in den „Meistersingern“ selbst mit den Mitteln der Überzeichnung, und zweitens gehört der Ballon wenigstens einmal groß aufgeblasen, weil die NS-Verstrickung des Wagner- Clans und der Festspiele eben hier in Bayreuth viel zu lange kleingeredet wurde. Ausführlich hatte sie bisher nur Stefan Herheim im „Parsifal“ von 2008 auf dem Grünen Hügel thematisiert.
Diese am Ende umjubelten „Meistersinger“ sind ein Ereignis. Weil Kosky Wagner-Biografie und -Musik kurzschließt, dass die Funken sprühen. Weil er die Partitur bis in einzelne Noten durchdringt, sie zudem mit ihrer Rezeptionsgeschichte auflädt und mit der Gegenwart samt ihren aktuellen Nationalismen und Ausgrenzungsmechanismen. Oper at its best: Familienaufstellung und Phantasmagorie, Manie und Magie, Kasperletheater, Verführungskunst, Traumaforschung. Man sieht, was man hört, ist betört, verstört.
Michael Volle als Sachs: ein zerrissener, hochkomplexer Charakter
Was nicht zuletzt an den Sängerdarstellern liegt und an Koskys Personenführung, für die der Intendant der Komischen Oper auch in Berlin gerühmt wird. Allen voran: Johannes Martin Kränzle als Beckmesser (über ihn später mehr) und Michael Volle als Hans Sachs, dem das Nachdenken, sprich: das Hadern mit dem Schuster- und dem Komponistenleben die Stimme moduliert. Sein souveräner Bariton wechselt unentwegt die Register: väterliche Autorität, Selbstsucht, Häme, Verschlagenheit, Sehnsucht, Triebverzicht, die Wut über die Brutalität der Welt – ein zerrissener, hochkomplexer Charakter. Sein Wahn-Monolog wird zum Bekenntnis eines verzweifelten, mit sich selbst ringenden Künstlers, gesungene Dialektik der Aufklärung.
Überhaupt hat man ein derart spielfreudiges Wagner-Ensemble lange nicht in Bayreuth gesehen. Klaus Florian Vogt entwickelt als bewährt jugendlicher Walther von Stolzing nach der Lehrstunde bei Sachs im Preislied Innigkeit und Anmut, weit über den metallisch blitzenden Schönklang seines Strahletenors hinaus. Daniel Behle gibt einen charmant-frechen David, Wiebke Lehmkuhl eine beseelte Magdalene, Günther Groissböcks leiht seinen souverän-geschmeidigen Bass Vater Pogner. Lediglich Anne Schwanewilms als Eva bleibt etwas eindimensional, spitzig, kühl. Aber ihnen allen ist die Lust anzusehen, einmal natürlich, intelligent und differenziert agieren zu dürfen- Wobei man fast jedes Wort versteht, anders als bei Katharina Wagners „Meistersingern“ 2007.
Es beginnt burlesk. Während Philippe Jordan schon dem Vorspiel allen Pomp und das Besserwisserische austreibt, das Tempo anzieht und die Lautstärke drosselt – Wagner duftig wie Mozart, befremdet wie Mahler –, gibt der Vorhang den Blick frei auf das Wohnzimmer von Haus Wahnfried. Guckkastenbühne, Puppenstube, die Wagners privat. Der Meister empfängt Pakete mit Preziosen aus Paris und einen Cosima-Ölschinken, selbige sitzt mit Migräne in der Ecke, ihr Vater Franz Liszt klimpert mit dem Schwiegersohn vierhändig auf dem Klavier herum, und bei der christlichen Familienandacht wird Gast Hermann Levi zum Beten genötigt. Levi, Uraufführungsdirigent des „Parsifal“, wurde von Wagner als Musiker geschätzt und als Jude gedemütigt, zur Taufe gedrängt – ein schreckliches Paradox. Alsbald steigen viele Wagners aus dem Klavier.
Die Musik, ein Alter Ego. Sachs, Ritter von Stolzing, der Geselle David, in ihnen allen steckt Richard W. Gemeinsam geben sie nun die „Meistersinger“ als Heim- und Vexierspiel in Wahnfried, mit dem Patriarchen Wagner als Sachs, seiner jungen Gattin Cosima als hippelige Eva, Levi als Beckmesser und Liszt als Pogner. Die Puppenstube verschwindet schließlich im Bühnenhintergrund.
Kosky plädiert für den Krieg der Worte
Als Kulisse für Aufzug 2 und 3 hat Bühnenbildnerin Rebecca Ringst den Sitzungssaal 600 im Nürnberger Justizpalast detailgetreu nachgebildet, hier fanden ab November 1945 die Nürnberger Prozesse statt. Im zweiten Akt sind’s nur die Holzwände als Rahmen für eine Picknickwiese, Schauplatz für Beckmessers peinliches Eva-Ständchen und besagtes Pogrom. Im dritten Akt macht sich das Volk dort breit, wo nach dem Krieg Angeklagte und Richter saßen.
Es ist die Musik, die jetzt vor Gericht steht, unmissverständlich spätestens in der Schlussszene, bei der das Volk „die heil’ge deutsche Kunst“ bejubelt und zum Orchesterkollektiv mutiert. Das Schrecklich-Schöne an Richard Wagner, Freispruch unmöglich.
Schon wieder zu deutlich? Nein, die „Meistersinger“ handeln durchweg von der Entstehung und der Wirkkraft der Musik, von ihrer Moral. Kosky persifliert, parodiert, sinniert und collagiert wie Wagner selbst. Gleichzeitig schärft er die Sinne für tausend Details, gestattet Nahaufnahmen, hält die Zeit an. Dem entsprechen die Generalpausen, die Philippe Jordan dem ungewöhnlich kurzatmigen Wagner-Werk gönnt. Jordan und Kosky lüften aus.
Ja, der Komponist war ein Antisemit, wie viele im späten 19. Jahrhundert. Aber er flickte in Beckmesser alles zusammen, was er hasste, „Kritiker, Italiener, Franzosen, Juden“, wie Barrie Kosky sagt. Er nennt den Merker eine Frankenstein-Figur. Johannes Martin Kränzle ist so mutig, seinen Beckmesser/Levi tatsächlich als Ausgeburt sämtlicher Ressentiments seines Schöpfers anzulegen, als Homunculus, der sich erst gegen seine Rolle sträubt, um sich später in das eigene Zerrbild hineinzusteigern und die (von Wagner erst recht verhasste) Assimilation zu überzeichnen. Auch Kränzle gewinnt seiner Stimme einen unerhörten Nuancenreichtum ab. Kränzle/Volle als Beckmesser/Sachs, wie sie im Clinch liegen, einander verachten, verraten, hintergehen und doch nicht voneinander lassen: Am Ende tanzen Opfer und Täter gemeinsam, heillos aneinandergekrallt – ein Inbild dessen, was sich am Holocaust nicht vergangenheitsbewältigen lässt.
Manchmal wird der Streit handfest
Das Kollektiv ist Barrie Kosky suspekt. Die Nürnberger, ein schrillbunter, dauerhysterisierter Haufen, verkleideter Mob. Ständig werfen sie die Hände in die Luft (ebenfalls großartig: der Chor unter Leitung von Eberhard Friedrich). Während die Uhr im Schwurgerichtssaal durchdreht, gefrieren die Wimmelbilder mitunter. Womit Kosky nebenbei die unselige Operntradition aufs Korn nimmt, Chorszenen immer mit dieser quirligen, künstlichen Fröhlichkeit auszustatten.
Umso mehr liegt dem Regisseur am persönlichen Disput. In keiner anderen Wagner-Oper wird so viel diskutiert, gestritten, auch doziert, ständig setzt man sich zusammen und trägt Argumente aus. Manchmal wird der Streit handfest, mündet im Pogrom. Kosky plädiert dagegen für den Krieg der Worte. Hört nicht auf, euch miteinander herumzuschlagen. Davids Satz über seinen gerade in Gedanken versunkenen Lehrmeister Sachs („Da ist er bös’, wenn er nicht spricht“) klingt einem lange in den Ohren. Die Utopie, das wäre das „Morgentraum“-Quintett im dritten Akt, in dem alle vom Glück träumen und um dessen Zerbrechlichkeit wissen, gemeinsam und doch jeder für sich. Und das Orchester umgarnt die Träumer, einfühlsam, zärtlich. Beckmesser bleibt außen vor.
Der Jubel im Saal währt fast 20 Minuten. Einzelne, aggressive Buhs für Schwanewilms und Kosky künden von jener Entfesselung, zu dem das Bürgertum auch heute noch fähig sein kann.