Streitschrift "Gegen Wahlen": Wählen allein macht noch keine Demokratie
Trägheit, Populismus, Entfremdung: Die repräsentative Demokratie ist in der Krise. Der belgische Schriftsteller David Van Reybrouck will Bürger zur politischen Teilnahme verpflichten.
Schön war die Zeit, in der Volk und Volksvertreter einander noch trauten. Die westeuropäischen Nachkriegsdemokratien waren verlässliche Regierungsformen, in denen Volksparteien mit erkennbaren Profilen das Gemeinwesen nach innen und außen gestalteten. Wann die Eintracht zu bröckeln anfing, lässt sich heute nicht mehr nicht mit Gewissheit sagen. Das Murren auf den Rängen der Zuschauerdemokratie, das sich als Dauerargwohn und Dauerspott mittlerweile vor allem im Netz austobt, lässt sich hierzulande anhand des Begriffs Politikverdrossenheit allerdings auf mindestens ein Vierteljahrhundert datieren. 1992 wählte ihn die Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres.
Seither hat sich ein „Demokratiemüdigkeitssyndrom“, wie es der belgische Schriftsteller David Van Reybrouck nennt, europaweit ausgebreitet. Sinkende Wahlbeteiligung, Mitgliederschwund der Parteien, Erstarken rechtspopulistischer Kräfte, Wutbürger, die administrative Entscheidungen blockieren, düpierte Politiker, Zersplitterung auf breiter Ebene – die Anzeichen sind epidemisch. Nach den belgischen Parlamentswahlen im Jahr 2010 dauerte es 541 Tage, bis sich eine regierungsfähige Koalition fand. Ein Weltrekord inmitten der Brüsseler EU-Großdemokratie, die sich seit dem Brexit fragt, welche Demütigung ihr als Nächstes bevorsteht.
„Nie zuvor“, erklärte Van Reybrouck im „Guardian“, wurde eine „derart einschneidende Entscheidung im Rahmen eines so primitiven Verfahrens getroffen – einem einfachen Referendum auf der Basis einer einfachen Mehrheit.“ Nie zuvor hätten schlecht informierte, desillusionierte Bürger einen ganzen Kontinent mit einer solch stumpfen Axt auf einen Schlag entzweigehauen.
Nachruf auf die kurze Blüte der repräsentativen Demokratien
Der Brexit ist jedoch nur das letzte Signal, dass es um die Leistungsfähigkeit der repräsentativen Demokratien schlecht bestellt ist. Der Nachruf auf ihre kurze Blüte, den der Flame in seiner Streitschrift „Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ unternimmt, ist schon schwarz genug. Van Reybrouck stellt sich in eine Reihe mit Susan Sontags antihermeneutischem Manifest „Against Interpretation“ und Paul Feyerabends „Against Method“ (Wider den Methodenzwang), der wissenschaftstheoretischen Philippika eines abtrünnigen Schülers von Karl R. Popper. Sie lässt in diesem Zusammenhang aufhorchen, weil sie gegen die Alleinherrschaft einer objektivitätsversessenen Rationalität für eine anarchistische Erkenntnistheorie plädiert, das berühmte Wort vom „anything goes“ aber keineswegs gesellschaftstheoretisch verstanden wissen will.
Das Reißerischste an Van Reybroucks mit ruhiger Sorgfalt argumentierenden Essay ist indes der Titel. Der polemische Zug wird zusätzlich abgemildert durch praktische Vorschläge, wie sich dem siechen Parlamentarismus durch partizipatorische Elemente ein zweites Leben einhauchen lässt. In vier, „Symptome“, „Diagnosen“, „Pathogenese“ und „Therapie“ überschriebenen Teilen, entwirft Van Reybrouck das Bild einer westlichen Welt, die einem „Wahlfundamentalismus“ huldigt, dem sie zugleich nicht mehr über den Weg traut. Einem „blinden Glauben auf den Urnengang“ verfallen, misst sie den Freiheitsstatus eines Landes vor allem daran, ob er dem Modell von Wahlkabine und Stimmkreuz genügt, als wäre es schon ein Ausweis demokratischen Edelmuts, wie ihn auch Recep Tayyip Erdogan für seine Säuberungen in Anspruch nimmt.
Plädoyer für Bürgergremien
Van Reybrouck sieht moderne Staatsgebilde zerrissen zwischen Effizienz und Legitimität. Entweder kürzen sie komplexe Entscheidungsprozesse mehr oder weniger autoritär ab, oder sie versichern sich langwierig der Unterstützung ihrer Bürger. Er verwirft die populistische Forderung nach einer „Bluttransfusion“, die vermeintlich volksnähere Politiker ins Parlament bringt. Er wehrt sich gegen rein technokratisches „Problemmanagement“, das sich um Legitimation wenig schert, aber – Beispiel China – äußerst effektiv vorgeht. Auch der radikaldemokratische Antiparlamentarismus, wie er zuletzt bei Occupy Wall Street aufflammte, ist ihm suspekt.
Er plädiert stattdessen für Bürgergremien, ja auch gesetzgebende Kammern, deren Mitglieder wie in der antiken Polis ausgelost und auf Zeit und gegen Entgelt zur politischen Beratschlagung eingesetzt werden. Montesqieus „Geist der Gesetze“ zitierend, der sich sich seinerseits auf Aristoteles berief, zieht er eine historisch vergessene Grenze: „Wahl durch Los entspricht der Natur der Demokratie, Wahl durch Abstimmung der Natur der Aristokratie.“
Van Reybrouck – und hier führt der Titel seines Buches unnötigerweise in die Irre – will die Institutionen der repräsentativ-elektoralen Demokratie nicht abschaffen und durch Graswurzeldiskurse ersetzen. Er will sie zu einem „birepräsentativen System“ ergänzen. Die Radikalität, mit der er antritt, verflüchtigt sich deshalb schnell. Seine Vorschläge fügen sich in jene Debatte über die deliberative Demokratie ein, die John Rawls, Jürgen Habermas und James S. Fishkin vorangetrieben haben, und er kann dabei auf vielversprechende praktische Ansätze in Irland, Island und Kanada verweisen.
Bei Colin Crouch lernte er alles über "Postdemokratie"
„Gegen Wahlen“ macht aus seinen Quellen auch kein Hehl. Van Reybroucks persönliches Erweckungserlebnis war Bernard Manins „Kritik der repräsentativen Demokratie“ (Matthes & Seitz 2007), eine Ideengeschichte, die das gegenwärtige System in der historischen Episodenhaftigkeit beschreibt, die ihm zukommt. Er zitiert Colin Crouchs Buch über die „Postdemokratie“, in der die Bürger zu apathischen Konsumenten im Dauerbeschuss politischer Werbebotschaften mutieren. Er bezieht sich auf Benjamin Barbers im Original 1984 erschienenes Buch „Starke Demokratie“ und dessen partizipatorischen Konzepte.
Van Reybroucks Vorzug liegt indes darin, dass sein glänzend geschriebenes Buch alle akademische Hürden überwindet. Mit nicht einmal der Hälfte des Umfangs, die der Greifswalder Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein für seine Studie „Demokratie und Lotterie – Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU“ (Campus 2009) benötigt, ist es im besten Sinne populär – und angesichts der Tatsache, dass die deliberative Demokratie trotz wachsender Literaturberge allenfalls am Horizont des medialen Bewusstseins erscheint, geradezu überfällig.
Manches bleibt unklar
Sein Manifestcharakter macht „Gegen Wahlen“ allerdings auch angreifbar. Denn so vielen Einwänden gegen die Teilnahme von Laien am politischen Prozess dieses intellektuell redliche Buch prophylaktisch den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht, kommt es dennoch nicht über ein entscheidendes Ungleichgewicht hinaus. Wenn es nämlich um die Demokratiemüdigkeit tatsächlich so fatal steht, wie Van Reybrouck behauptet, lässt sie sich durch Änderungen am Wahlverfahren allein nicht vertreiben.
Sie hat zu viele Ursachen, unter denen die von ihm selbst beklagte Auflösung journalistischer Tugenden im durchkommerzialisierten Medienbetrieb und die erregte, mal gelenkte, mal unwillkürliche Kakophonie der sozialen Netzwerke, irreversible Entwicklungen sind, denen auch eine partizipatorisch verbesserte Demokratie nur stoisch einen Vernunftdiskurs entgegensetzen kann. Und da beginnen all die anderen Fragen.
Traut Van Reybrouck politischen Prozessen nicht eine Steuerungskraft zu, deren Primat – alter sozialistischer Einwand – gegenüber wirtschaftlichen Dynamiken längst gebrochen ist? Wie lässt sich dafür Sorge tragen, dass Laiengremien auf der Grundlage gültiger Informationen unemotionale, nichtbornierte Entscheidungen treffen? Soll man annehmen, dass sie mit sich selbst härter ins Gericht gehen als Berufspolitiker, wenn es etwa darum geht, den womöglich ökologisch geratenen Rückbau von Schlüsselindustrien gegen den Wohlstand des eigenen Landes abzuwägen? Gehen sie mit Menschenrechtsfragen je nach Interessenlage rigider oder entspannter um?
Welcher Art von Supervision müssen sie sich unterziehen? Wer macht sie im Zweifel für sorglose, falsche, korrupte Entscheidungen verantwortlich? Und auch wenn Van Reybrouck für eine langsame Erprobung partizipatorischer Schritte eintritt: Welche Dimension zwischen Atomausstieg und Kriegseintritt dürfen langfristig die Probleme annehmen, denen sie sich widmen?
Träumt er wirklich von Stammesgerichten?
Nebenbei: Was meint er, wenn er beklagt, dass „lokale, demokratische und protodemokratische Institutionen (Dorfversammlung, traditionelle Konfliktvermittlung, althergebrachte Rechtssprechung) nicht die Spur einer Chance haben“? Träumt er wirklich von Stammesgerichten, islamischen Friedensrichtern oder gar einem dualen Rechtssystem wie in Malaysia, das Muslime in persönlichen Angelegenheiten der Scharia unterstellt?
Überhaupt könnte es sein, das Van Reybrouck manches von dem, was er bekämpfen will, sogar noch befördert. Wie seine Vordenker knüpft er eine fast technokratische Hoffnung an eine auf Konsenstemperatur heruntergekühlte Rationalität. Wer oder was verhindert, dass sie sich gruppendynamisch nicht auch als schreiende Unvernunft entpuppt? Und er sollte noch deutlicher erklären, dass mit ausgelosten Kommissionen eine weitere Verlangsamung politischer Entscheidungen eintritt.
Und dennoch. „Das Wasser steht uns bis zum Hals“, erklärt Van Reybrouck mit Recht. „Entweder stößt die Politik die Türen auf, oder sie werden von wütenden Bürgern eingeschlagen, während sie mit den Hausrat der Demokratie zertrümmern und mit dem Kronleuchter der Macht hinauslaufen.“ Auch so kann man es sehen: Warum sollen die Bürger nicht endlich selbst das Heft in die Hand nehmen und mit den Dilemmata leben, die sie sonst am liebsten den Berufspolitikern zum Vorwurf machen?
David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Aus dem Niederländischen von Arne Bruns. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 200 Seiten, 17,90 €.
Gregor Dotzauer
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