Colin Crouchs "Postdemokratie": Das Ding heißt Demokratie
Wider den „Aktivismus des Sich-Beschwerens“: Colin Crouch schreibt in seiner Abhandlung "Postdemokratie" über den Staat, der aktive Bürger braucht.
Manchmal gerät man an Bücher, die richtig einschlagen. Ein solcher Geistesblitz ist „Postdemokratie“ von Colin Crouch, der in der politikwissenschaftlichen Debatte Großbritanniens große Wirkung entfaltet hat und in der deutschen gehandelt wird wie ein Geheimtipp unter Eingeweihten. Die allgegenwärtigen Betrachtungen über staatlichen Handlungsverlust, Politikverdrossenheit oder Wahlverweigerung bringt der britische Politikwissenschaftler analytisch auf den Begriff: Er sieht unsere Gesellschaften auf dem Weg zu einer „Postdemokratie“, die den politischen Gleichheitsanspruch unter der Hand aufgibt, Politik zur Sache kleiner Zirkel werden lässt und die Privilegierung von mächtigen Gruppen, vor allem der Wirtschaftseliten, wiederherstellt. Allerdings auf andere Weise und anderem Niveau als in „prä“-demokratischen Zeiten, in denen die Einflussmöglichkeiten des Demos politisch gegen unlegitimierte Machtgruppen durchgesetzt wurden.
Das Werk ist 2004 erschienen, seit Ende 2008 liegt es nun in deutscher Übersetzung vor. Crouch verficht seine These als Anhänger eines idealtypischen Modells von Demokratie, das eine hohe Beteiligung der Bürger an politischen Debatten und Entscheidungen voraussetzt und will. Er richtet sich an „Sozialdemokraten und alle anderen Menschen, die an das Ideal der politischen Gleichheit glauben … für sie ist dieses Buch in erster Linie gedacht.“ Dieser Autor möchte seinen wissenschaftlichen Befund widerlegt sehen, deshalb ist „Postdemokratie“ ein bewegendes Buch. Und die Selbsterweckung der amerikanischen Demokratie, die Obama möglich gemacht hat, gibt Crouchs Hoffnung Raum.
Doch vorerst können wir in seinem Rundblick über die westliche Welt erschreckend mühelos auch unsere deutsche Realität erkennen, die einer genügsam gewordenen Demokratie, die mit dem Aufbrechen der Finanzkrise hoffentlich zu einer neuen kritischen Debatte finden wird. Postdemokratie: „Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“
Die Stärke von Crouchs Analyse liegt in ihrer leidenschaftlichen Nüchternheit. Das demokratische Ideal, das daran festhält, „den normalen Menschen auf der politischen Bühne Gehör zu verschaffen“ und Politik auf die Wahrung des Gemeinwohls, der gleichen Rechte aller Bürger gegen Interessen privilegierter Gruppen und Einzelner verpflichtet, wird konfrontiert mit einem Befund, der allen Akteuren der Demokratie den Spiegel vorhält. In dieser Sicht erlahmt sie nicht nur am erpresserischen Potenzial der Wirtschaftseliten, die unter den Bedingungen der Globalisierung den Staaten ihre Regeln aufzwingen können. Und nicht nur an der nahezu bereitwilligen Neigung der Politik, weite Bereiche des öffentlichen Sektors einer Kommerzialisierung zu überlassen, die ihn zwangsläufig untergräbt, weil Gesundheitswesen oder Bildung eben nicht nach Marktgesetzen funktionieren – oder nur um den Preis wachsender Ungleichheit. Ihre Kraft verliert die Demokratie auch wegen der nachlassenden Fähigkeit der (vormals oder aktuell) benachteiligten sozialen Gruppen, der Gesellschaft gleiches Recht abzutrotzen. Die Demokratie hat, mit anderen Worten, ihren Höhepunkt überschritten, wenn keine soziale Bewegung mehr richtig etwas von ihr verlangt, fordert und will. Crouch exemplifiziert das Problem dieser nachlassenden demokratischen Energie am Abstieg der Arbeiterbewegung, deren Kampf um Partizipation ein wichtiger Motor für den Aufstieg der Demokratie war – ein Thema, mit dem Crouch sich in früheren Arbeiten beschäftigt hat. Ein unausgeschöpftes demokratisches Potenzial sieht er hingegen bei den Frauen, deren Forderungen nach Gleichheit noch immer nicht eingelöst sind.
Die Bürger jener besten Zeiten der Demokratie, so Crouch, waren möglicherweise naiver und ehrerbietiger gegenüber dem politischen Personal als dieses es verdient hätte. Politik ist transparenter geworden, die gut gebildeten politikskeptischen Bürger von heute sehen der Politik unnachsichtiger auf die Finger. Allerdings mit dem Effekt, „dass die Politiker sich solche Sorgen um die Ansichten einer scharfsinnigen und vielschichtigen Wählerschaft machen, dass sie enorme Ressourcen aufbieten, um herauszufinden, was diese denkt, um dann darauf zu reagieren“. Die Umfragedemokratie lässt grüßen – vitaler als die der gutgläubigen Bürger ist sie nicht. Crouch sieht das „positive Modell eines Bürgerstatus“ geschwächt, demzufolge „Gruppen und Organisationen kollektive Identitäten entwickeln, ihre Interessen und Forderungen selbstständig artikulieren und an das politische System weiterleiten“. Geschwächt zulasten des negativen „Aktivismus des Tadelns und Sich-Beschwerens, bei dem das Hauptziel der politischen Kontroverse darin besteht, zu sehen, wie Politiker zur Verantwortung gezogen werden.“
Doch im Mittelpunkt steht für Crouch: „Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen.“ Als „Bluff“ bezeichnet er ein politisches Denken, das die Regulierung und Zügelung des globalisierten Kapitalismus mit dem Argument verweigert, damit beraubte man ihn seiner Dynamik. Dieser Bluff ist im September 2008 auf fatale Art aufgeflogen. Den Preis zahlen die Bürger, ganz und gar egalitär.
Colin Crouch: Postdemokratie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 159 Seiten, 10 Euro.
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