zum Hauptinhalt
Amerikanerin mit europäischer Seele. Die 39-jährige Susan Sontag 1972 in Paris.
© Ullstein/Roger-Viollet/Jean-Régis Roustan

Susan Sontags Tagebücher: "Herausfinden, was ich denke"

Die Liebe zu Frauen, zu Wörtern, zur Philosophie: Die bewegenden Tagebücher (1964 bis 1980) der Essayistin Susan Sontag sind erschienen - herausgegeben von ihrem eigenen Sohn.

Ihm genügten zwei Wörter, um die Tagebücher seiner Mutter zu charakterisieren: Schmerz und Ehrgeiz. Was David Rieff schon bei der 15- und 16-jährigen Susan Sontag entdeckte, gilt indes nicht weniger für die Aufzeichnungen der nach außen hin strahlend selbstgewissen Diva, als die man sie spätestens nach ihrer Essaysammlung „Against Interpretation“ (Kunst und Antikunst) 1966 an der amerikanischen Ostküste verehrte. Nur wo „Wiedergeboren“, der erste Band mit Notizen aus den Jahren 1947 bis 1963, ausdrücklich die Selbsterschaffung einer Intellektuellen betrieb, da sieht man im zweiten Band einer ständig scheiternden Selbstergreifung zu.

„Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“, die wieder von ihrem Sohn herausgegebenen Notizen der Jahre 1964 bis 1980, denen noch ein abschließender dritter Band folgen soll, sind auch deshalb so bewegend, weil sie zeigen, auf welchem Niveau man sich selbst zerfleischen kann. Die Glücksfähigkeit schlichterer Gemüter war ihr nicht gegeben. Bereits die Pubertierende hatte mit zitterndem Ernst die Welt der Literatur erobert. Sie war zu ihrem Gott Thomas Mann gepilgert, hatte sich durch literarische und philosophische Hochgebirge gekämpft und früh ihre Liebe zu Frauen entdeckt.

Sontags Unsicherheit schwand auch nicht nach ihren ersten Erfolgen als Autorin für die „Partisan Review“ oder die „New York Review of Books“. Der zweite Band der Tagebücher entwirft das Bild einer mit sich zutiefst unversöhnten Frau, die sich angesichts ihrer Kraft- und Konzentrationslosigkeit ständig zu mehr Disziplin ermahnt – ein Stück „terror incognita“, wie es einmal ohne jeden Kontext heißt. In ihrem fast zwanghaften Ringen um schriftstellerische Größe sehnt sie sich zugleich fast wie Thomas Manns Tonio Kröger nach den Wonnen erotischer Leichtigkeit – und nach handfester Körperlichkeit. Sexuell fühlt sie sich den Frauen, mit denen sie schläft, allerdings hoffnungslos unterlegen, und seelisch kommt sie ihnen nie wirklich nahe.

Auf die Trennung von der Dramatikerin María Irene Fornés folgt nicht nur die verheerend scheiternde Beziehung mit der Neapolitanerin Carlotta del Pezzo. Sie ist generell auf Niederlagen abonniert. Doch die Verzweiflung bricht sich selten spontan Bahn. Wie sehr Sontag auch leidet, sie beobachtet sich aus der Distanz. Selbst im Intimsten bleibt der Ton sachlich. Alles Bekenntnishafte – darunter die zwischen Bewunderung und Konkurrenz schwankende Beziehung zu ihrer Mutter, der schönen Trinkerin Mildred Sontag – gerät ihr sofort zur psychoanalytischen Fallgeschichte. Geradezu unproblematisch erscheinen dagegen die Freundschaften mit Männern, etwa dem Maler Jasper Johns oder dem bewunderten Dichter Joseph Brodsky.

Auch im Philosophischen und Politischen – der Band enthält Aufzeichnungen von einer Reise ins kommunistische Nordvietnam – herrscht Schmucklosigkeit. Die über 500 Seiten sind die Deponie einer bildungswütigen Arbeiterin, die wusste, dass sie sich auf ihre Gründlichkeit, nicht aber auf ein handstreichartiges Genie verlassen konnte. Seitenlang listet sie Bücher und Filme auf: das hinter und noch vor ihr liegende Pensum.

Das stets Kontrollierte, das bis zum Anlegen von Wörterlisten zur künftigen Verwendung reicht, verrät aber womöglich auch, warum ihr ein lebendiger Atem für die epischen Formate fehlte, zu denen sie sich berufen fühlte. Wie viele Plotskizzen und Figurenentwürfe gibt es hier, die dann sich selbst genügen mussten. Aber auch das Verwirklichte nach ihrem Romandebüt „Der Wohltäter“ (1963) reichte nie an ihre besten Essays „Über Fotografie“ und „Krankheit als Metapher“ heran, deren Entstehung in die Zeit dieses Bandes fällt. Er enthält scharf Beobachtetes, pointiert Formuliertes, mit Fleiß Zusammengetragenes, aber auch unendlich Banales, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass diese Tagebücher anders als die Seelenerforschungen von Anaïs Nin oder die Denksteinbrüche von Elias Canetti ursprünglich nie für fremde Augen bestimmt waren.

Nachdem Sontag zwei Jahre vor ihrem Leukämietod 2004 alle ihre Papiere an die University of California Los Angeles verkauft hatte, fühlte sich David Rieff berechtigt, die Tagebücher zu veröffentlichen. Die magere, zugleich über- wie unterinformierende Annotation („Italo Calvino – italienischer Schriftsteller“) mag bedauerlich sein. Ärgerlich ist die nirgends offengelegte Editionspraxis. Was hat Rieff, selbst ausführlich Gegenstand der Tagebücher, weggelassen? Wo musste, wo wollte er Rücksicht auf lebende Personen nehmen? Man erfährt beispielsweise von einer Affäre zwischen György Konrád und Susan Taubes, doch nichts über die Spannungen, die entstanden, als sich David Rieff 1976 mit Sontags Privatsekretärin Sigrid Nunez („Sempre Susan“) einließ. Ob seine offenherzige Mutter darüber wirklich kein geschriebenes Wort verlor?

Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980. Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum. Hanser, München 2013. 560 S., 27,90 €.

Gregor Dotzauer

Zur Startseite