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Ein Fischerboot von Brexit-Unterstützern auf der Themse in London
© AFP
Update

Europa ohne Großbritannien: Was der Brexit für uns bedeutet

Die Briten haben sich gegen den Verbleib in der EU ausgesprochen. Ein Austritt hat gravierende Folgen für alle Europäer. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Nach einem engen Rennen ist mittlerweile klar: Die Mehrheit der Wähler hat sich für den Brexit entschieden. Die Folgen - politisch wie wirtschaftlich - werden groß sein. Und zwar nicht nur für Großbritannien, sondern auch für Deutschland.

Wann stellt London den Antrag auf Austritt aus der EU?

Ein Nein-Ergebnis des Referendums reicht nicht für einen EU-Austritt. Großbritannien muss nach Artikel 50 des EU-Vertrags den Austritt schriftlich erklären. Dafür bedarf es aber einer handlungsfähigen Regierung und eines formellen Beschlusses des Kabinetts. Nachdem Premierminister David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, ist es erstmal ein Spiel auf Zeit. Denn erst wenn es wieder eine handlungsfähige Regierung gibt, soll der Austrittsantrag eingereicht werden.

Brüssel ist vorbereitet: Am 23. Mai gab es ein vertrauliches Treffen hochrangiger Diplomaten aus Deutschland, Frankreich, Slowakei und Malta, also den Ländern, die demnächst die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Dabei einigte man sich auf eine Sprachregelung für den Zeitpunkt, wenn das Ergebnis vorliegt. Damit keine Verunsicherung aufkommt, soll unter anderem eine Erklärung zur Zusammenarbeit der Geheimdienste und zum Grenzschutz abgegeben werden. Am Freitag, wenn das Ergebnis bekannt ist, wollen sich zudem Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Parlamentspräsident Martin Schulz sowie der niederländische Regierungschef Marc Rutte in Brüssel treffen, um das Vorgehen zu erörtern. Konkrete Reaktionen der EU auf einen Brexit würden die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedsländer dann bei ihrem Gipfel am Dienstag und Mittwoch beraten. Am Freitag nach Bekanntwerden des Brexit-Ergebnisses berief der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier bereits seine europäischen Kollegen nach Berlin zu einem Treffen ein.

Wie lange würde es dauern, bis der Austritt vollzogen ist?

Der EU-Vertrag sieht vor, dass nach der Austrittserklärung die Europäischen Verträge noch zwei Jahre in Großbritannien anwendbar sind. Die Mitgliedsländer können diese Frist durch einen einstimmigen Beschluss verlängern. Unterbleibt dieser Beschluss, laufen die Verträge nach 24 Monaten aus. Die Kommission wird den Mitgliedsländern Empfehlungen für die Austrittsverhandlungen machen. An den Beratungen der Mitgliedsländer für die Verhandlungen darf London nicht mehr teilnehmen. Die Mitgliedsländer werden einen Verhandlungsführer ernennen. Solange die Verhandlungen laufen, kann Großbritannien rechtlich jederzeit vom Brexit zurücktreten. Dazu bedarf es einer Entscheidung der britischen Regierung. Falls es aber nach vollzogenem Austritt wieder in die EU wollte, würde dies wie ein Neueintritt gewertet und das Land behandelt wie Moldawien oder Marokko. Die Verhandlungen werden hart sein. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat schon angekündigt: Der „Deserteur werde nicht mit offenen Armen empfangen werden“. Beobachter gehen davon aus, dass der Status Großbritanniens nicht häppchenweise, sondern nur im Gesamtpaket verhandelt und abgeschlossen wird. Es gelte die Formel, dass nichts verhandelt sein wird, solange nicht alles verhandelt ist.

Kann Großbritannien weiter die Vorteile des Binnenmarkts nutzen?

Nur so lange das Land in der EU ist. Es wird Gegenstand der Verhandlungen sein, welchen Status Großbritannien anstrebt und die EU dem Land zugesteht. Denkbar wäre ein Status wie ihn die Schweiz und Norwegen haben. Dabei hemmen zwar keine Zölle den Handel, sondern nur sogenannte nicht-tarifäre Handelshemmnisse wie etwa Anmeldeformalitäten und technische Vorschriften. Denkbar wäre auch ein Status, wie ihn die USA haben: Dabei erschweren Vorschriften der jeweiligen Behörden Handel und Zölle. Allerdings gibt es dabei ein Einvernehmen über die Höhe der Zölle. Im dritten Szenario würde das Land auch sämtliche Privilegien verlieren, die sich aus den bestehenden Freihandelsabkommen der EU mit anderen Ländern ergeben. Zwar könnte Großbritannien seinerseits wieder Freihandelsabkommen abschließen. Mit der EU und mit anderen Ländern. Das wäre aber langwierig: So haben Verhandlungen über Handelsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten in der Vergangenheit zwischen vier und neun Jahre Zeit in Anspruch genommen.

Im Ernstfall hieße dies: Wenn die 27-EU-Mitgliedsländer nach Ablauf der zweijährigen Übergangsphase nicht einstimmig eine Verlängerung der Regeln beschließen, würden bis zum Inkrafttreten eines Abkommens lediglich die Regeln der Welthandelsorganisation gelten. An der EU-Außengrenze zu Großbritannien würden dann wieder Einfuhrzölle erhoben. Auch die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden müsste neu verhandelt werden. Wenn die Verträge auslaufen, endet zudem die Freizügigkeit und der Rechtsstatus von rund zwei Millionen Bürgern mit Pass des Vereinigten Königreichs, die in einem EU-Mitgliedsland leben. Für sie müssten dann Übergangsregelungen geschaffen werden. Ebenso für die britischen Bediensteten in den EU-Institutionen.

Wie lange werden die 73 Abgeordneten des Königreiches im Europaparlament sitzen?

Es ist klar, dass die 73 Abgeordneten, die bei der letzten Europawahl im Vereinigten Königreich einen Sitz im Europaparlament errungen haben, diesen bis zum endgültigen Austritt nicht abgeben müssten. Sie könnten sogar an der Abstimmung im Europaparlament über den Vertrag mitstimmen, der den Austritt Großbritanniens regelt. Im Gegensatz dazu dürfte die Londoner Regierung ab dem Austrittsantrag nicht mehr an Abstimmungen bei EU-Gipfeln oder bei Ministerräten teilnehmen, die den Austritt betreffen. Der britische EU-Kommissar Jonathan Hill würde wohl im Amt bleiben. Es wird aber davon ausgegangen, dass er nicht mehr für Finanzen zuständig bliebe, sondern einen Geschäftsbereich bekäme, der für die Austrittsverhandlungen nicht so sensibel wäre.

Wann fällt der britische Beitrag zum EU-Haushalt weg?

Margret Thatcher hat für Großbritannien in den 80er Jahren mit dem legendären Slogan „I want my money back“ einen Rabatt für ihr Land bei den EU-Beiträgen ausgehandelt. Auch mit Rabatt ist das Land bis heute ein Nettozahler der EU. Großbritannien zahlte 2014 noch knapp fünf Milliarden Euro mehr ein, als aus Brüssel überwiesen wurden. 2013 lag dieser Wert bei 8,64 Milliarden, 2012 bei 7,3 und 2011 bei 5,6 Milliarden Euro. Bei einem Brexit würden diese Gelder nicht mehr fließen. Das heißt: Die restlichen Länder müssten das ausgleichen. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Ausgaben der EU gleich blieben: Auf Deutschland würden nach Schätzung der Bertelsmann Stiftung dadurch Mehrausgaben von 2,5 Milliarden Euro zukommen, Frankreich müsste sich auf 1,9 Milliarden im Jahr zusätzlich einstellen, Italien 1,4 Milliarden und Spanien 0,9 Milliarden Euro.

Was heißt der Brexit für die deutsche Wirtschaft? 

Der deutschen Wirtschaft geht es gut. Die Auftragsbücher der Unternehmen sind voll, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig, wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Doch kommt es zum Brexit, kann sich das schnell ändern, meint Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo. „Deutschland wäre wahrscheinlich der größte Verlierer eines Brexit, abgesehen von Großbritannien selbst“, sagt er. Sein Institut hat die Auswirkungen eines EU-Austritts Großbritanniens schon mal durchgerechnet: Demnach könnte der Brexit die Bundesrepublik langfristig bis zu drei Prozent der Wirtschaftsleistung kosten.

Das liegt vor allem an den engen Wirtschaftsbeziehungen. Das Vereinigte Königsreich ist für Deutschland der drittwichtigste Handelspartner. Deutsche Firmen verkaufen den Briten jedes Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von 120 Milliarden Euro. Kommt es zum Brexit, wird der Handel schwieriger und teurer. So könnten zum Beispiel wieder Zölle anfallen. Die Bürokratie nähme zu. Lkws stünden an der Grenze länger an, was den Transport und damit die Waren teurer machen würde. Hinzu kommt, dass der Brexit auch die britische Wirtschaft kräftig schwächen würde – allein bis 2020 könnten 950 000 Jobs in Großbritannien verloren gehen, rechnet der britische Industrieverband vor. Auch deshalb dürfte Deutschland den Briten nach dem Brexit weniger Produkte verkaufen können.

Besonders stark würde das die deutsche Automobilbranche treffen. „Für die Automobilindustrie ist das Vereinigte Königreich der größte Exportmarkt“, sagt Matthias Wissmann, Präsident des Verbands der Automobilindustrie. Jedes fünfte Auto, das deutsche Hersteller ins Ausland verkaufen, geht nach Großbritannien. Würde das Königreich aus dem EU-Binnenmarkt fliegen, müssten deutsche Autos zum Beispiel umfangreichere Zulassungsverfahren durchlaufen, um auf der Insel verkauft werden zu können. „Das kostet Zeit und Geld“, warnt Wissmann.

Londons exzentrischer Ex-Bürgermeister Boris Johnson votiert für einen Brexit.
Londons exzentrischer Ex-Bürgermeister Boris Johnson votiert für einen Brexit.
© dpa

Ähnliche Konsequenzen hätte ein Brexit für die deutschen Chemie- und Pharmaunternehmen. Sie exportieren jedes Jahr Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien – vor allem Spezialchemikalien und Arzneimittel. Gleichzeitig sind sie an britischen Firmen beteiligt, haben dort 1,6 Milliarden Euro investiert. Nach einem Brexit dürften die deutschen Konzerne „ihr Engagement in Großbritannien überdenken und gegebenenfalls Kapital abziehen“, heißt es beim Verband der Chemischen Industrie.

Erste Einschnitte dürfte nach dem Ja zum Brexit bereits in diesem Jahr geben. Zwar dauert es zwei Jahre oder länger, bis sich Großbritannien mit der EU über die Details des Austritts geeinigt hat und das Land tatsächlich die EU verlässt. Doch gerade das ist für Firmen ein Problem: Sie werden lange nicht wissen, zu welchen Konditionen sie in Zukunft mit den Briten Geschäfte machen können – etwa wenn Großbritannien einen Status wie Norwegen oder die Schweiz anstrebt oder ein ganz neues Handelsabkommen mit der EU schließen will. Diese Unsicherheit dürfte schon lange vor dem tatsächlichen EU-Austritt der Briten die Wirtschaft in Großbritannien wie auch in Deutschland schwächen.

Wer würde in Deutschland profitieren? 

Auch wenn der Brexit die deutsche Wirtschaft unterm Strich hart trifft, dürften einzelne Sektoren durchaus profitieren. Da ist zum Beispiel der Finanzplatz Frankfurt. Weil sie in London mit einem Mal außerhalb der EU sitzen, könnten viele ausländische Banken ihre Europa-Zentralen nach dem Brexit in andere Städte verlagern. Bislang profitieren sie in London vom EU-Pass: Das heißt, sie können von dort Geschäfte in allen anderen EU-Staaten machen. Nach dem Brexit dürften sie diesen Status jedoch verlieren. Um den EU-Pass weiterhin nutzen zu können, müssten sie ihre Zweigstellen verlagern. Frankfurt wäre dabei wohl einer der großen Gewinner – schließlich sitzt dort bereits die Europäische Zentralbank (EZB). Auch die Deutsche Bank könnte nach einem Brexit rund 9000 Händler, die derzeit für sie in London arbeiten, nach Frankfurt holen.

Deutlich mehr Geld würde von einem Brexit auch in den deutschen Immobilienmarkt fließen. Ausländer, die bislang in London Wohnungen und Häuser als Geldanlage gekauft haben, könnten dann zum Beispiel Berlin vorziehen. Dahinter steht die Furcht, dass nach dem Brexit die Londoner Immobilienblase platzen könnte. Schon jetzt gilt der Markt dort als überhitzt. Großbritannien ist das einzige Land, in dem die Preise für Immobilien über dem Niveau von 2008, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise, liegen. Kommen noch mehr Investoren nach Berlin, werden die Immobilienpreise hier stärker und schneller steigen. Was gut für Immobilienbesitzer und die Bauindustrie ist, würde die Durchschnittsbürger allerdings belasten und die Ungleichheit in der Gesellschaft verschärfen.

Welche Folgen hat der EU-Austritt Großbritanniens für Arbeitnehmer?

2,2 Millionen Menschen, die in Großbritannien arbeiten, kommen aus dem EU-Ausland. Sie profitieren bislang von der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU. Demnach darf jeder EU-Bürger problemlos in jedem EU-Staat arbeiten. Nach dem Brexit wäre das wahrscheinlich nicht mehr so leicht. Drei Viertel der EU-Bürger, die in Großbritannien arbeiten, erfüllen nicht die Kriterien, die Ausländer für ein Visum im Land brauchen. Das zeigt eine Untersuchung der Universität Oxford. Betroffen wären demnach vor allem EU-Bürger, die in britischen Hotels, Restaurants oder in der Landwirtschaft arbeiten. Selbst bei den Banken und Finanzdienstleistern in London erfüllen laut Studie 60 Prozent der Angestellten aus anderen EU-Staaten die Visa-Anforderungen nicht.

Dass Großbritannien sich nach dem Brexit auf Ausnahmen für Arbeitnehmer aus der EU einlassen würde, gilt als unwahrscheinlich. Schließlich ist das Thema der Einwanderung für Brexit-Gegner ein entscheidendes. Anders als die meisten anderen EU-Staaten hat Großbritannien nach der EU-Osterweiterung keine Übergangsregeln eingeführt – mit der Folge, dass der Andrang aus Ländern wie Polen oder Rumänien größer war als erwartet. Dadurch steht die EU heute nach Ansicht vieler Briten vor allem für unkontrollierte Zuwanderung. Laut einer Prognose des National Institute of Economic and Social Research könnte der Brexit die Zuwanderung um zwei Drittel reduzieren. Das würde auch Deutsche treffen, die in Großbritannien arbeiten wollen – allerdings nicht in einem so starken Ausmaß. Die meisten von ihnen sind hochqualifiziert und haben daher gute Chancen auf ein Visum.

Was hieße der Brexit für Reisende?

Michael O’Leary macht sich Sorgen. Der Chef der irischen Fluggesellschaft Ryanair wetterte in den vergangenen Tagen vehement gegen die Brexit-Befürworter. Er fürchtet nicht nur die Auswirkungen auf die britische Wirtschaft, sondern vor allem auf sein eigenes Geschäft. Seine Airline hat ihren Hauptsitz zwar in Irland, Großbritannien ist allerdings der wichtigste Markt. Und nach einem Brexit könnte die Zahl der Passagiere auf Flügen von und nach Großbritannien sinken. Zum einen wirkt sich ein Wirtschaftseinbruch nach dem Brexit schnell auf das Reiseverhalten aus: Der Urlaub ist das Erste, woran Menschen sparen, wenn das Geld knapp wird. Gleichzeitig dürften aber auch Touristen aus der EU die Insel erst einmal meiden. Einer Umfrage des Reiseportals Zootravel zufolge sagen ein Drittel der Deutschen, dass sie nach einem Brexit weniger Lust auf einen Urlaub im Vereinigten Königreich hätten. Schwieriger werden dürfte das Reisen allerdings wohl nicht: Es gilt als unwahrscheinlich, dass EU-Bürger künftig für den Urlaub in Großbritannien ein Visum brauchen.

Unklar ist allerdings, wie sich die Preise entwickeln. Weil das Pfund nach dem Brexit deutlich abwerten dürfte, würde der Urlaub in Großbritannien für EU-Bürger günstiger – gleichzeitig könnten die Flugpreise jedoch steigen. Denn treten die Briten aus der EU aus, müssen sie die Regeln für den Flugverkehr neu verhandeln. Als EU-Mitglied sind sie automatisch im European Common Aviation Area: Jede europäische Airline kann demnach in jedes EU-Land fliegen. Nach dem Brexit würde Großbritannien aus diesem Club wohl erst mal ausscheiden. Ryanair-Chef O’Leary hat deshalb bereits für diese Woche besonders günstige  Flüge nach London angeboten: Er will so Briten, die in anderen EU-Staaten leben, animieren, nach Hause zu fliegen, um gegen den Brexit zu stimmen. Die Brexit-Befürworter finden O’Learys Aktion allerdings gar nicht lustig – und fordern, Scotland Yard solle in der Sache gegen Ryanair ermitteln.

Welche Folgen hat der Brexit für Studierende?

Ganz genau kann das derzeit niemand sagen. Aktuell studieren gut 18 000 Deutsche in Großbritannien, umgekehrt sind rund 3500 Briten an deutschen Unis eingeschrieben. Sofort wird sich für sie nichts ändern – mittelfristig könnte der Brexit aber erhebliche Folgen haben.

Die Modalitäten für die Teilnahme britischer Unis am beliebten Erasmus-Austauschprogramm müssen im Zuge der Austritts-Verhandlungen auf jeden Fall ebenfalls neu verhandelt werden. Bislang ermöglicht Erasmus Studierenden einen reibungslosen und gebührenfreien Austausch für ein oder zwei Semester. Ob sich bei neuen Verträgen für Studierende wirklich Entscheidendes ändern würde, ist schwer vorherzusagen. Schließlich ist die Teilnahme eines Landes nicht per se an eine EU-Mitgliedschaft gebunden, Island, die Türkei und Norwegen gehören ebenfalls zu den 33 Erasmus-Ländern. Dass die EU gleichwohl sehr genau darauf achtet, wie sich Rahmenbedingungen bei ihren Nicht-EU-Partnern entwickeln, zeigte im Jahr 2014 das Beispiel der Schweiz. Nachdem die Schweizer einer Volksinitiative gegen „Masseneinwanderung“ zugestimmt hatten und die Schweiz daraufhin ein Protokoll zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit mit der EU nicht unterschreiben konnte, schloss die Europäische Kommission das Land praktisch über Nacht aus Erasmus aus. Die Schweiz musste daraufhin aus eigenen Mitteln ein Austauschprogramm analog zu Erasmus aufbauen. Unter Experten gilt es als unwahrscheinlich, dass Großbritannien ein ähnliches Programm mit nationalen Mitteln fortsetzen würde. Und selbst wenn Erasmus fortgesetzt wird, könnten neue Aufenthaltsbestimmungen den Austausch für deutsche Studierende bürokratischer machen.

Für deutsche Studierende, die ihr gesamtes Studium in Großbritannien absolvieren und dort einen Abschluss anstreben, dürfte die Frage der Studiengebühren von zentraler Bedeutung sein. Bisher zahlen sie dieselben Studiengebühren wie Briten: In der Regel 9000 Pfund (11 500 Euro) im Jahr. Als EU-Bürger haben sie immerhin Anspruch auf einen Gebührenkredit. Nicht-EU-Bürger haben diesen Anspruch nicht, und das Studium ist für sie noch einmal teurer: in den Geisteswissenschaften um 25 Prozent, in den Naturwissenschaften um 50 Prozent, in der Medizin um 80 Prozent. Würden deutsche Studierende künftig wie Nicht-EU-Bürger behandelt, müssten sie auch deutlich höhere Gebühren zahlen.

Mit welchen Folgen ist am Finanzmarkt zu rechnen?

An den Börsen wird es am Freitag turbulent. Experten gehen von einem Crash am Aktienmarkt aus. Chris-Oliver Schickentanz, Chefanlagestratege der Commerzbank, prognostiziert für diesen Fall einen Kursrutsch bei europäischen Aktien in Höhe von fünf bis zehn Prozent. „Viele außereuropäische Investoren würden dann zunächst einen großen Bogen um Europa machen, bis sich die Folgen eines EU-Austritts besser beurteilen lassen“, sagt er. Besonders stark dürften die Aktien europäischer Großbanken einbrechen – aufgrund ihrer Repräsentanzen in London sind sie als Erste vom Brexit betroffen. Profitieren würden dagegen alle Anlageformen, die als „sichere Häfen“ gelten. So dürfte der Brexit den Goldpreis steigen lassen. Auch Bundesanleihen wären mehr denn je gefragt. Der deutsche Staat könnte sich dann noch günstiger verschulden als ohnehin schon. Bereits jetzt ist die Durchschnittsrendite zehnjähriger Staatsanleihen negativ: Das heißt, Anleger bekommen am Ende der Laufzeit ihr investiertes Geld nicht mehr zurück.

Längerfristig könnte der Brexit auch die Zinsen noch weiter nach unten drücken. Denn schrumpft die Wirtschaft in der Euro-Zone, wird sich die Europäische Zentralbank (EZB) gezwungen sehen, noch stärker in den Markt einzugreifen. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie die Strafzinsen erhöht, die Banken zahlen, wenn sie bei der EZB Geld parken wollen. Das wiederum könnte die Institute dazu bewegen, auch von Privatkunden einen Strafzins fürs Ersparte zu verlangen.

Was wäre der Worst-Case? 

Im schlimmsten Fall könnte der Brexit in  Europa eine Art Kettenreaktion auslösen. Dann geht es auf einmal nicht mehr nur um das Verhältnis der Europäer zu den Briten – sondern um die gesamte Staatengemeinschaft. „Auch Italiener und Franzosen könnten dann darüber nachdenken, ob sie noch in der EU bleiben wollen“, sagt Jürgen Michels, Chefvolkswirt der Bayern LB. In beiden Ländern sprechen sich schon jetzt in Umfragen mehr als 50 Prozent der Bürger für ein Referendum aus. Allein diese Überlegungen könnten nach einem Ja der Briten zum Brexit dazu führen, dass Investoren wieder anfangen, auf ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone zu spekulieren. Sie würden also wieder deutlich höhere Risikoaufschläge für Staatsanleihen verlangen – was Länder im Süden Europas erneut in Bedrängnis bringen würde. Die Euro-Krise wäre dann zurück und zwar heftiger denn je. Deshalb sagt Michels: „Der Brexit wäre eine Zerreißprobe für Europa.“

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