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Palmenfavorit. Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche.
© Festival

Filmfestival Cannes: Vom Reichtum der Liebe

Das 66. Filmfestival von Cannes: Bilanz eines außergewöhnlich guten Jahrgangs mit brillanten Werken von Asghar Farhadi, den Coen-Brüdern, Abdellatif Kechiche, Steven Soderbergh, Alexander Payne und vielen anderen.

Filme, die begeistern oder über die man zumindest leidenschaftlich streiten mag. Stars zuhauf auf den Stufen des Festivalpalasts, die den Weg in den Kinoweltruhm bedeuten. Und das Meer gleich nebenan – das sind die geläufigen Trümpfe von Cannes. Am schönsten aber erschließt sich einem die Magie dieses alljährlich so unverwechselbaren Zwölftagerauschs zufällig, überraschend, auf Nebenwegen.

Irgendwann in der zweiten Hälfte des Festivals, die cineastischen Raketen des Pfingstwochenendes sind längst gezündet, geht es zur 22-Uhr-Vorstellung des neuen Films von Claire Denis in der Nebenreihe „Un certain regard“. Schon ist Festivalchef Thierry Frémaux, zwei Stufen auf einmal nehmend, auf die Bühne hinaufgefedert und heißt illustre Zuschauer im Saal willkommen. Jane Campion! Léos Carax! Catherine Deneuve! Kylie Minogue! Zhang Ziyi! Costa Gavras! Und so begrüßt die große französische Regisseurin mit der wunderbar rauchigen Stimme ihr Vorbild: „Jane Campion, in Augenblicken des Zweifels gehe ich raus aus meinem Wohnwagen, tanze einen kleinen Twist“ – Claire Denis deutet einen Twist an – „und denke an Sie!“

In solchen Augenblicken fühlt sich, wer das Kino liebt, absolut zu Hause in der Welt. Die globale Filmfamilie ist an diesem einen, einzigartigen Ort versammelt, guckt aufmerksam die Arbeiten der anderen, und Gastgeber ist der kluge und jedwede künstlerische Prominenz mit gewandter Heiterkeit begrüßende Festivalchef. Man pilgert zum Großen Zampano, man feiert sich, aber man hat auch was zu feiern: Meisterwerke, Debattenauslöser – und so wunderbar hingeworfene Liebeserklärungen wie jene von Claire Denis, die unmittelbar ins Zentrum der Inspiration zielen. Da will einem selbst im Blick auf einen Kinoalltag, in dem nur noch die an die Filmtitel angehängten Ziffern zu zählen scheinen, nicht mehr bange sein.

Dieser Jahrgang macht einem derlei Jubel leicht. Asghar Farhadi und die Coen- Brüder, Paolo Sorrentino und Abdellatif Kechiche, Hirokazu Kore-eda und Jia Zhangke, Steven Soderbergh und Alexander Payne: Alle sind sie mit brillanten Arbeiten vertreten – und wenn Regielegenden wie Jim Jarmusch und Roman Polanski zum Finale eher Mittelprächtiges geboten haben, ist das nur ein Beleg mehr für das fantastische Material, aus dem dieses Festival schöpfen kann. Die Allergrößten des Kinos wünschen sich den Auftritt hier und sonst nirgends. Mit dieser 66. Ausgabe des Festivals ist der Abstand zu Venedig und vor allem zur im Windschatten der Oscars und im Vorfeld von Cannes heftig in die Flaute geratenen Berlinale noch einmal größer geworden..

Geld und Liebe waren die zentralen Themen

Palmenfavorit. Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche.
Palmenfavorit. Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche.
© Festival

Die thematischen Leitmotive? Das Geld und die Liebe. Mal nur das eine oder andere, meist aber beides ineinander vernetzt und verknotet. Und wenn sich aus dieser Bildersinfonie denn eine Botschaft filtern ließe, dann diese: Es mag zwar nur noch einen Gott geben, den wir Erdenbewohner alle anbeten und der uns verbindet und entzweit, und der heißt: Geld. Aber es gibt auch einen einzigen Trost noch, der diesen Teufelsgott niederzuhalten vermag, und der heißt Liebe.

„Der große Gatsby“ setzte zur Eröffnung den Ton: Ein Neureicher protzt mit entsprechenden Insignien, um seine reich verheiratete Ex-Flamme zurückzugewinnen. Es geht schief. Oder Sofia Coppolas „The Bling Ring“ über jugendliche Einbrecher in den Villen von Hollywood-Promis, François Ozons „Belle de jour“-Variante „Jeune & Jolie“, aber auch Paolo Sorrentinos Abgesang auf die Dolce Vita („La grande bellezza“) und Valeria Bruni-Tedeschis düsteres Oberschichten-Familienporträt „Un château en Italie“: Sie alle illustrieren die glorios gähnende Ödnis, die mit der Fixierung auf das einhergeht, was man sich selbst als Psychowrack noch mit viel Geld leisten kann.

Dies alles ausgerechnet in Cannes zu sehen, wo die Louboutins von der Leinwand geradewegs zu den Luxusläden an der Croisette hinunterspazieren, ist nicht ohne Reiz. Der Kapitalismus inszeniert seine intellektuelle wie emotionale Armseligkeit hier besonders entfesselt. Und bei der Industrie, die auf dem „Marché du Film“ ebenso entfesselt kauft und verkauft, ist jene Fantasieware hoch im Kurs, die vom Faszinosum und dem Ekel angesichts des Reichtums erzählt. Das reicht von der Hymne auf den abgebrannten Folkmusiker Llewin Davis der Coen-Brüder bis zur goldglänzenden Lustschlosswelt des schwulen Pianisten Liberace, der sich zum Überfluss bekennt: „Too much of a good thing is wonderful!“

Kein Wunder, dass Michael Douglas mit dieser Paraderolle in Soderberghs „Behind the Candelabra“ als Favorit für den Darstellerpreis gilt – seine brillante Performance feiert zeitgemäß eine Ikone vollendet verödeten Lotterluxuslebens. Anderweitig absolut regiert der Kapitalismus auch in Jia Zhangkes stillerem Palmenanwärter „A Touch of Sin“. In vier Episoden entfaltet der Film ein grandios tristes Panorama des modernen China – von ausgemusterten Minenarbeitern, die sich angesichts der allumfassenden Korruption nur mit Selbstjustiz zu helfen wissen, bis hin zu alten Genossen, die ihre Geilheit angesichts von Revuegirls in knapp geschnittenen Kampfuniformen mobilisieren.

Abdellatif Kechiches „La vie d’Adèle“ ist der Favorit der Kritiker

Palmenfavorit. Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche.
Palmenfavorit. Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche.
© Festival

Ein ähnlich starker Bewerber um höchste Cannes-Ehren ist mit Alexander Paynes „Nebraska“ ein Schwarz-Weiß-Film, der dieses Leitmotiv des Festivals listig unterläuft: Es geht um eine Million Dollar, der zeitweise eine ganze Kleinstadt nachjagt, nur ist das Los, das ein verwirrter Greis (großartig: Bruce Dern) auf diese Summe einzulösen sucht, ein bloßer Werbetrick. Eigentlich will sein Sohn David (Will Forte) ihn bei einer gemeinsamen Autofahrt von Montana nach Lincoln, Nebraska, vorsichtig von der Illusion des Hauptgewinns erlösen. Dann aber kommt es in diesem makellos erzählten, so heiteren wie zärtlichen Film ganz anders. Aus Liebe.

Eine anrührende, sehr unglamouröse Vater-Sohn-Geschichte erzählt Payne, ganz anders als „Behind the Candelabra“, der das Verhältnis Liberaces zu einem jugendlichen Liebhaber nachzeichnet – dort hat der durchaus verliebte Star seinem liebebedürftigen jungen Bettgespielen nicht mehr zu bieten als die schrittweise Zerstörung seiner Identität. Ganz oben auf den Favoritenlisten aber steht die Geschichte einer lesbischen Liebe, Abdellatif Kechiches „La vie d’Adèle“. In dem mit einer nach Close-ups geradezu süchtigen Handkamera gefilmten Dreistundenwerk geht es um die Leidenschaft zwischen Adèle (Adèle Exarchopoulos) und Emma (Léa Seydoux), explizite Sex- und gewaltige Tränenszenen inklusive.

Adèle, die sich zunächst lustlos von einem Mitschüler entjungfern lässt, begegnet der Kunststudentin Emma – und stürzt mit ihr in bodenloses Glück. Der Sex, den sie mit Emma erfährt, bleibt ihr elementar und unersetzlich, auch wenn sich beider Nähe im Lauf von knapp zehn erzählten Lebensjahren löst. Es ist nicht Reichtum, der sie auseinanderbringt, sondern der wachsend spürbare soziale Unterschied: Die angehende Malerin Emma bewegt sich in anderen Kreisen als die Vorschulpädagogin Adèle. Und irgendwann kulminiert die längst vollzogene Trennung des Paars in einer gemeinsamen, herzzerreißend aufgewühlten Szene des Verzichts.

Ob sich die Jury unter Steven Spielberg am Sonntagabend dem Cineastenplebiszit für „Adèle“ beugt – zumal der Film in Frankreich, wo gerade die Homoehe gegen massive politische Widerstände durchgesetzt wurde, hochaktuell ist? Fast eine Nebenfrage. So viele tolle Filme waren auf diesem Festival zu sehen, dass den Juroren angesichts der schmalen Zahl an Preisen die schönste Qual der Wahl bleibt. Wie sagte Thierry Frémaux vor Festivalbeginn? „Cannes ist eine Weltgemeinschaft, in der alle glücklich sind, zwölf Tage lang. Seien wir so unvernünftig, zu denken, es könnte immer und überall so sein.“

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