zum Hauptinhalt
Couscous mit Fisch
© Promo

Kino: Tanz um den heißen Brei

Der alte Slimane hat zwei Familien - und keine Arbeit mehr. Abdellatif Kechiches bewegendes Kinodrama "Couscous mit Fisch" beleuchtet ein tunesisches Migrantenleben in Südfrankreich.

In Abdellatif Kechiches alltagsauslauschenden Migrationsdramen herrscht meist ein grandioses Tohuwabohu. Es wird gequasselt und gestritten, es wird gelacht und geschluchzt und geschrieen. Zugleich kreisen die Filme des 1960 in Tunesien geborenen Franzosen allesamt um das stille Zentrum ihrer männlichen Hauptdarsteller – sie sind das Auge des Sturms, der allein zwar stets bewegend, aber auch bald ermüdend wäre. Fast benehmen sich diese Figuren wie bloße Zeugen der gewaltigen kinetischen Seelenenergien, die sie auslösen: Mensch gewordene Metaphern für die wunde Schattenwelt der Völkerwanderungen unserer Tage.

Fein säuberlich hat der Regisseur, der sich scheinbar anstrengungslos – wie in Deutschland Fatih Akin – an die Spitze der französischen Autorenfilmer gesetzt hat, diese Einsamkeitschiffren auf drei Generationen verteilt. In „Voltaire ist schuld“, der vor acht Jahren in Venedig den Preis für das beste Debüt gewann, ist es Sami Bouajila, der als Rosenverkäufer ohne Papiere staunend durch ein Paris entfesselter Außenseiter und in eine seltsam schöne Liebe driftet. Osman Elkharraz ist in der Banlieue-Geschichte „L’esquive“ (2003) fast noch ein Kind, das mit der linkischen Liebeserklärung an eine Mitschülerin eine Kette von Alltagsdramen auslöst. Am Ende bleibt diesen anrührenden Nichthelden nur die Verliererrolle: Der eine wird von der Polizei aufgegriffen und ins nächste Flugzeug gesetzt, der andere flüchtet vor der Welt zurück ins Kinderzimmer.

Und nun „Couscous mit Fisch“: Seine fast verstummte Hauptfigur ist ein alter Mann. Ein Werftarbeiter am Ende der Ausländerverwertungskette, wegen zu langsamen Arbeitens mit sechzig ausgespuckt von seinem Betrieb. Fast wäre „La graine et le mulet“ (wörtlich: Das Korn und die Meerbarbe) Kechiches Debüt geworden, so lange arbeitet er schon an dem Projekt. Ursprünglich hatte er den Film mit dem eigenen Vater, einem Werftarbeiter in Nizza, und seiner Familie drehen wollen – dann starb der Vater, und nach allerlei Besetzungsumwegen und zwei weiteren Filmen fand Kechiche in Habib Boufares auf eben jener Werft einen alten Kollegen seines Vaters, der die Rolle übernahm. Boufares ist Slimane: ein stolzer Lebensschattenmann, der keinerlei Liebe mehr auszusenden scheint. Dafür zieht er Liebe auf sich, und wie.

Slimane lebt im südfranzösischen Sète, im Hôtel de l’Orient – und Zimmer 15 des zweistöckigen Nullsternehauses am Hafen ist die mickrigste Fremde der Welt. Kein Wunder, dass Labomir Bakchevs meist unruhige Kamera immer nur Bruchstücke dieses Lochs zu erfassen scheint, dessen einzig mögliche Totale nach draußen, ins sogenannte Freie geht. Einmal sitzt Slimane – ein Atemholen zwischen Bedrängtheit und Zumutungen – eingekeilt zwischen der Kommode mit Kochplatte und einem schmalen, uralten Holztisch: der Körper nicht viel mehr als ein gebeugter Rücken unterm karierten, zerschlissenen Arbeitshemd. Natürlich schweigt Slimane, wie fast immer, und auch sein Kanarienvogel im Käfig am Fenster hat das Fiepen irgendwann aufgegeben.

Drumherum aber tobt das Leben, räumlich und zeitlich. Ein paar Straßen weiter, Slimane ist nicht eingeladen, bewirtet seine Ex-Frau allwöchentlich die fünf erwachsenen Kinder und deren Familien mit Couscous und Fisch – und die viertelstundenlange Szene dieses Essens, die so spontan abgefilmt daherkommt und doch einen Monat lang minuziös geprobt wurde, ist eine der schönsten des Films: Geredet und gelacht wird über alles und nichts – vom hohen Windelpreis bis zu arabischen Sprachbrocken, die ein Schwiegersohn trotz guten Willens wohl nie zu artikulieren versteht. Derweil beginnt unten im Restaurant des Hotels, mit dessen Wirtin Slimane eine trostlose Bettbeziehung unterhält, gleich das große Feierabendpalaver bei Bier und Fisch und Musik.

Die Kühlkiste mit dem Fisch hat Slimane auf dem Mofa mitgebracht. Erst seiner Frau, aber die fordert lieber die offenen Alimente ein; dann einer seiner Töchter, aber die bringt selber welchen mit aus der Konservenfabrik, wo sie arbeitet. Es ist die junge Rym (eine Entdeckung: Hafsia Herzi), die sich als Erste über den Fisch freut – und über Slimanes Anwesenheit. Und es ist Rym, die nach der fast einstündigen, von Schauplatz zu Schauplatz vagabundierenden Exposition ein zielgerichtetes Geschehen in Gang bringt. Die Tochter der Wirtin, die den alten Mann an Vaters statt angenommen hat, ermutigt Slimane, sich zu wehren: gegen die groben Einflüsterungen seiner Söhne, er solle nun doch zurück ins tunesische Heimatdorf. Und unterstützt ihn tatkräftig bei dem Plan, einen Schrottkahn in ein Fischrestaurant umzubauen. Später wird sie ein für dieses Projekt entscheidendes Fest, das aus nichtigem Anlass dramatisch zu scheitern droht, durch einen herzzerreißenden Vorstoß zu retten suchen.

Das Abenteuer dieses großen Films aber besteht nicht in seinem Fitzelchen von Geschichte, sondern darin, wie er sie in zweieinhalb kurzen Stunden erzählt. Der Zuschauer tut gut daran, anderweitig breitgefahrene Erwartungsspuren in Sachen Dramaturgie, Konflikt und Auflösung hinter sich zu lassen. Er wird dafür mit nichts Geringerem als der Teilhabe an Leben belohnt; und an einem Mehr an Leben vielleicht auch.

Das hierfür angewendete künstlerische Prinzip ist ebenso simpel wie wirkungsvoll. Kechiche arbeitet mit dramaturgischen Auslassungen, wo andere – auch sein Kollege Fatih Akin – in ihren Drehbüchern getreulich psychologische und narrative Aufbauarbeit leisten. Andererseits lässt er die Kamera oft weiterlaufen, wo andere die pure Beweiskraft einer Szene längst als erfüllt ansehen. Slimanes immerhin handlungsentscheidender Entschluss etwa, seine kleine Abfindung in den Traum vom Bootsrestaurant fließen zu lassen, wird kaum vorbereitet. Dafür dürfen Situationen sofort ausufern, sofern sie scheinbar unvermittelt Vitalität entfalten. Das Ergebnis ist die wildeste Skizze der Welt: hier ein dünner Bleistiftstrich, dort Tusche, die ausläuft ins Wasser der Zeit.

Durchbrochen wird die immer auf einen Schauplatz konzentrierte Chronologie der davonlaufenden Ereignisse erst in der letzten Stunde, in der die Kamera mehr und mehr von den Close-Ups ablässt und das Geschehen Parallelhandlungen erzwingt.

Nahezu in Echtzeit erzählt Kechiche von einem einzigen Abend, der nervenzerrend lange unter der Prämisse eines klassischen Countdowns steht. Aber auch hier noch bleibt – und das steigert die anderweitige Spannung ins Unerträgliche – abenteuerlich viel Zeit für Szenen, die sich Zeit und Raum suchen: für die Begegnung mit einem Obdachlosen etwa, der einen Teller Couscous gratis bekommt. Oder für den minutenlangen Tränenkrampf einer jungen Frau und Mutter, die ihrer Verzweiflung über die ständige Untreue ihres Mannes Luft macht.

Ob scheinbar dokumentarisch oder eher hyperrealistisch: Der größte lange Augenblick dieses an umwerfenden Situationen und Seherfahrungen so reichen Films gehört nicht dem zu Recht vielgerühmten Finale, sondern einem Monolog Ryms. Am Anfang des Festabends, bei dem Slimanes Familie so herzhaft mithilft, als habe es die Trennung der Eltern nie gegeben, versucht sie, auch die eigene Mutter zum Hingehen zu bewegen. Sie lockt, sie droht, sie schmeichelt, sie schimpft, sie schluckt, sie schluckt die Tränen runter. Und mittendrin ist plötzlich das Schweigen da, die große Stille aus den Filmen Abdellatif Kechiches; es ist das Schweigen Slimanes selber im Gesicht des Mädchens, das ihn wie einen Vater liebt.

Zur Startseite