Interview mit Jane Campion: „Glamour ist die Politur, mit der wir die Kratzer der Seele verdecken“
Jane Campion spricht im Interview über den Irrsinn von Sex, Frauen im Filmgeschäft und ihr TV-Seriendebüt „Top of the Lake“, das auf der Berlinale zu sehen war.
Miss Campion, die erzählerische Freiheit, die derzeit für Fernsehserien prägend ist, haben Sie sich schon immer erlaubt. War es also nur eine Frage der Zeit, bis Sie sich diesem Medium öffneten?
Ich kann mich an den Moment erinnern, als ich zum ersten Mal auf die HBO-Serie „Deadwood“ stieß. Ich saß im Wohnzimmer und dachte: „Wer gibt so was in Auftrag? Das ist ja eine Revolution“. Auch Sundance Channel und BBC fordern neue Wege und Stimmen.
Hatten Sie für „Top of the Lake“ vollständige künstlerische Freiheit?
Absolut. Ich habe ein Mystery-Crime- Format angekündigt und grünes Licht bekommen. Als sie dann die Bücher gelesen haben, haben sie Angst bekommen. (lacht) Aber es blieb dabei.
Mit Ihrem Co-Autor Gerard Lee haben Sie bereits 1989 das Buch zu ihrem spektakulären Filmdebüt „Sweetie“ verfasst.
Ja, wir haben eine sehr streitbare Form der Zusammenarbeit. Wir sind seit der Filmschule Freunde geblieben, wir haben, jeder für sich, viele Triumphe und Niederlagen erlebt. Wir sind Kinder, die erwachsen geworden sind. Nun haben wir uns Gedanken über Lieben und Leben gemacht.
Künstlerische Freiheit kann ja alles und nichts heißen. Jeder will einen guten Film machen. Was aber macht einen Jane- Campion-Film in Ihren Augen gut?
Ich will ein Produkt abliefern, von dem ich möchte, dass die Zuschauer es sehen. Ich will Dinge machen, in denen ich vorkomme.
Mainstream geht ja genau andersherum: Man liefert etwas ab, was das Publikum angeblich sehen will.
Ich wüsste nicht, was das sein soll. Es interessiert mich auch nicht. Wahrscheinlich sind daher auch nur vier Prozent der 100 erfolgreichsten Filme unter der Regie von Frauen etnstanden. Männer finanzieren und machen Filme, in denen Männer gut dastehen und Frauen auf eine Weise gut aussehen, die Männern gefällt.
Das sagt die erste und bislang einzige Frau, die in Cannes mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.
Was auch wieder 20 Jahre her ist. Manchmal erwischen Sie als Künstlerin einen Punkt, an dem der Blick auf die Welt und der Blick der Welt auf dich glücklich zusammenkommen. Aber das ist flüchtig und Sie müssen weiterarbeiten. Unbeeindruckt von Erfolg wie von Ablehnung. Ich weiß, es gab viel Ärger, weil letztes Jahr in Cannes kein Film einer Frau im Wettbewerb lief. Das liegt nicht am Festival, das liegt an einer Industrie, die zu wenig Projekte von Frauen finanziert. Es braucht zunächst einmal eine schiere Masse an Filmen von Frauen. Dann haben die Festivals auch Manövriermasse für die Auswahl.
"Sehnsucht nach Hingabe trifft auf Angst vor Kontrollverlust"
In „Top of the Lake“ scheinen Sie Ihr bisheriges Œuvre als Manövriermasse zu benutzen. Genevieve Lemon, die in Ihrem Film „Sweetie“ die Hauptrolle spielte, verkörpert eine Art Fortsetzung dieser Figur. Elisabeth Moss’ Polizistin ist in ihrer ambivalenten Sexualität nahe an Meg Ryans Figur aus „In the Cut“. Und wie in „Das Piano“ spielt die Landschaft Neuseelands eine große Rolle.
„Das Piano“ haben wir damals im nördlichen Teil gedreht, diesmal sind wir in den Süden gegangen. Ich wollte die nahezu unmenschliche Größe und Verschlossenheit dieses Sees, der Berge und der Wildnis. Sie relativieren nicht die Zerrissenheit meiner Figuren, sie spiegeln sie vielmehr. Zu den Querverbindungen: Dieses serielle Format, das ich als eher romanhaft empfunden habe, liegt mir sehr. Auch weil es die Möglichkeit eröffnet, lose Enden weiterzuverfolgen, Figuren oder Themen aufzunehmen. Im Gewand eines Genres lässt sich viel in die Falten stecken. Sie fangen an mit einer Polizistin, die ein Rätsel zu lösen hat und dann brechen die Figur wie auch die Konventionen unter der Last der Ermittlung zusammen. Erst so fängt etwas Neues an und es werden Erfahrungen möglich, die eine transzendentale Qualität haben.
Sex, zum Beispiel? Robin, die Hauptfigur, hat ein starkes Verlangen nach leidenschaftlichem Sex. Das scheint im Widerspruch zu der kaputten Sexualität zu stehen, deren Opfer und Zeugin sie immer wieder wurde.
Man kann auf sehr viele Arten Sex haben. Mit jemandem zu schlafen, den man gerade getroffen hat, kann sehr erregend sein. Man will sich verlieren und nicht finden. Es ist etwas ganz anderes, als zum Beispiel mit seinem langjährigen Ehemann zu schlafen.
Was man meines Wissens noch in keinem Ihrer Filme zu sehen bekam. Sind Gefahr und Gefährdung konstituierend für weibliche Lust?
Nichts ist so sehr mit Hoffnung und Irrsinn verknüpft wie der Geschlechtsakt. Er soll so viele Widersprüche auflösen, zwischen den Geschlechtern, aber mehr noch vielleicht in uns selbst. Wir wollen Nähe und Anonymität. Wir wollen egoistisch und selbstbezogen sein und suchen doch Verbindung. Sehnsucht nach Hingabe trifft auf Angst vor Kontrollverlust. Sex ist immer überwältigend, neu und anders. Ich schreibe meinen Figuren nicht vor, wie sie sich das organisieren, ich folge ihren Bedürfnissen.
Eine korpulente Heldin jenseits der 40 wirft Geld auf eine Kneipentheke, das sich derjenige nehmen darf, der bereit ist, im Hinterzimmer innerhalb von sieben Minuten mit ihr zu schlafen.
Ja, warum nicht? Es ist ihr Experiment. Nach sieben Minuten beginnt sie, das glaubt sie wenigstens, Gefühle für ihren Partner zu entwickeln. Das will sie vermeiden.
Es wurde viel gelacht in dieser Szene.
Das ist völlig in Ordnung. Es ist ja auch absurd, was wir bereit sind zu tun, wenn wir die Hemmungen fallen lassen.
Diese Frau ist Teil einer spinnerten Frauengruppe, die sich um eine mysteriöse Anführerin namens GJ schart. GJ wird von Holly Hunter verkörpert. Die Frauen in dem improvisierten Containerdorf am See gieren nach ihrer Weisheit, aber alles, was sie bekommen, sind unbequeme Wahrheiten. Ist das Ihre Absage an esoterisches Brimborium?
Sie ist keine Führerin, sie ist nichts, sie lebt, wie es einmal heißt, in einem anderen mentalen Raum. Sie hat das Geschlecht verlassen. Wir beschreiben jemand, den die Frauen als Anführerin haben möchten, aber das interessiert sie nicht.
Naheliegende Frage: Beschreiben Sie sich hier selbst?
Sicher nicht auf eine vordergründige, direkte Weise. Aber ich sehe mich nicht als jemand, der sagen könnte, wie Frauen ihr Leben leben sollen. Es geht für Frauen überhaupt erst einmal darum, sichtbar zu werden, historisch wie aktuell. Aus der Dunkelheit der Vergessenheit emporzukommen, aber auch die Verzerrungen unserer Bilder wie Selbstbilder abzulehnen.
Glamour wäre eine solche Verzerrung?
Glamour ist die Politur, mit der wir die Kratzer auf unserer Seele verdecken. Glamour ist das Gegenteil von Verwundung.
Die Frauen in „Top of the Lake“ sind alle versehrt.
Für mich hat dieses Format eine hervorragende Gelegenheit geboten, an den Kern meiner Figuren zu gelangen. Robin ist ja keine wissenschaftliche Ermittlerin, die mit ihrem Labor an Ergebnisse kommt. Sie selbst ist das Labor.
Wir haben noch nicht über die Männer in „Top of the Lake“ gesprochen. Sie sind im besten Fall feige, im Regelfall gewalttätig.
Wenn Gerard und ich eine Figur entworfen haben, lassen wir uns von ihr ziehen, wenn es sein muss, in einen sehr tiefen Abgrund. Wir haben selbst ziemlich furchtbares Zeug erlebt. Wir sind beide in einem Alter, in das man nicht kommt, ohne großen Mist erlebt zu haben. Wenn man sich als Autorin in seinen Charakteren verliert, stößt man unwillkürlich auch auf diese Dinge. Es ist wie eine Art „channeling“, man spricht durch die Figuren, man bedient sich der Figuren, um sich selbst zu hören. Das ist magisch, auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt seltsam klinge.
Ich habe nicht den Eindruck, dass es zu Ihren größeren Ängsten gehört, dass man Sie oder Ihre Filme für seltsam hält.
Stimmt. Bei mir geht das so: Ich denke drei oder vier Mal scharf darüber nach, wie etwas sein „sollte“. Wenn ich alles versucht habe, lasse ich jeden Vorsatz fahren, und es passiert etwas ganz anderes. Und das ist dann viel besser.