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Claire Denis.
© Thilo Rückeis

Claire Denis: "Verstehen muss nur, wer draußen ist"

Vor ihrer großen Retrospektive im Berliner Arsenal-Kino: Ein Gespräch mit der französischen Filmregisseurin Claire Denis.

Sie ist eine der ganz Großen des französischen Kinos und doch in Deutschland nur wenig bekannt: die Regisseurin Claire Denis. Geboren 1948 in Paris und aufgewachsen als Tochter eines Kolonialbeamten im damaligen Französisch-Westafrika, kam sie krankheitshalber mit 14 Jahren nach Frankreich. Nach ihrem Studium an der Pariser Filmhochschule IDHEC arbeitete sie zunächst 15 Jahre als Regieassistentin unter anderem mit Costa-Gavras, Jacques Rivette, Jim Jarmusch und Wim Wenders, bevor sie mit 40 Jahren ihren ersten eigenen Film drehte: "Chocolat". Nun zeigt das Berliner Arsenal-Kino mit Unterstützung der französischen Botschaft im Oktober eine komplette Retrospektive dieser Künstlerin mit dem klaren, so forschenden wie tastenden Blick - eine einzigartige Gelegenheit, ihr aus elf Spielfilmen sowie Kurz- und Dokumentarfilmen bestehendes Werk kennenzulernen. Jan Schulz-Ojala traf Claire Denis zum Gespräch in Berlin.

Das kleine Mädchen in Ihrem Erstlingsfilm "Chocolat", das mit seinen Eltern Ende der 50er Jahre in Kamerun lebt, wirkt sehr unkindlich: ruhig, würdig, einsam. Wenn man diesen und Ihre späteren Filme betrachtet, könnte man vermuten, Sie selber schauen mit den Augen dieses Kindes in die Welt.

Ja, das kleine Mädchen in "Chocolat" ähnelt mir ein bisschen, weil ich damals einsam war. Bevor meine jüngeren Schwestern und mein Bruder geboren wurden, lebten wird auf dem Land in Kamerun, sehr isoliert, in einem alten, Anfang des 20. Jahrhunderts im deutschen Kolonialstil gebauten Haus. Meine Eltern hatten den Krieg überstanden, sie waren sehr jung verheiratet und sehr glücklich, ein bisschen kindisch vielleicht sogar. Später, in Frankreich, schwärmten meine Eltern immer von dieser so außergewöhnlichen Zeit in Afrika, aber ich, die ich ein so braves, gehorsames, ruhiges Kind war, ich erinnere mich nicht so sehr an Glück.

Ihr Vater arbeitete als französischer Kolonialbeamter. Hatten Sie als Kind in Afrika schon ein Bewusstsein, weiß zu sein, also anders?

Ich verstand sehr genau, dass ich weiß war, und selbst wenn es keine Wörter dafür gab: Das Gefühl war bizarr. Meine Eltern hatten schwarze Freunde in Kamerun, und trotzdem, es gab jemanden in der Küche, es gab jemand, der am Tisch servierte. Gleichzeitig wusste ich, dass meine Großeltern in Frankreich ihr Essen selber kochten. Wir lebten wie in einem still stehenden Traum, und ich ahnte, wenn man sich nur ein bisschen bewegte, konnte er sich in einen Albtraum verwandeln.

Sie sind krank geworden als Kind in Afrika, und mit 14 nach Frankreich gekommen.

Nach diesem Aufenthalt in Nordkamerun, der meinen Film "Chocolat" ein bisschen inspiriert hat, bekam ich Asthma. In Frankreich dann sagte ich zu meiner Mutter, siehst du, ich war in Afrika gar nicht so glücklich, ich konnte nicht mal atmen. Man beobachtet ja sehr genau, schon als Kind. Aber das Kind in "Chocolat", das bin nicht ich. Das ist ein sehr fernes Bild.

"White Material", ihr jüngster Film, erzählt - mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle - von einer einsamen weißen Kaffeeplantagenbesitzerin, die mitten im ausbrechenden Bürgerkrieg eigensinnig an ihrer Arbeit festhält, obwohl sie dringend aus dem Krisengebiet ausgeflogen werden soll. Könnte man den Film als einen Spiegel von "Chocolat" verstehen, ins Albtraumhafte gewendet?

Nein, denn ich hätte "White Material" nie ohne Isabelle begonnen. Sie war es, die mit mir arbeiten wollte, und sie schlug mir die Verfilmung eines Romans von Doris Lessing vor, "The Grass is singing" (Afrikanische Tragödie). Ich mochte das Buch sehr, ich hatte bei der Vorbereitung von "Chocolat" oft daran gedacht. Aber 24 Jahre später hätte ich keinen historischen Stoff aus Südafrika verfilmen mögen, aus der Zeit, als die ersten britischen Siedler Bauern wurden. Also schlug ich Isabelle vor: Machen wir was Heutiges. Im Fernsehen sah ich Berichte über den neuen Präsidenten der Elfenbeinküste: Er vertrieb alle Bewohner, deren Vorfahren nicht von der Elfenbeinküste stammten, aus dem Land. Prompt evakuierte die französische Armee viele Franzosen, die sich in dem Land gut eingerichtet hatten. Plötzlich saßen sie in Militärhubschraubern, und gerade hatten sie noch gedacht, sie würden irgendwann gemütlich ihren Lebensabend in Nizza oder Monaco verbringen.

Es gab also keinerlei Bezug zu "Chocolat", obwohl es wieder ein Afrikafilm war, mit nun einer erwachsenen Frau in der Hauptrolle?

Im Gegenteil. Zum Beispiel wollte ich gerade nicht in Kamerun drehen, sondern lieber in Ghana. Aber die Kaffeeplantagen dort waren allesamt verlassen, und eine neue zu bauen für den Film, das war ausgeschlossen, wir sind ja nicht Hollywood. Also gingen wir doch nach Kamerun. Dort gibt es an der Grenze zu Nigeria noch gut funktionierende, einst von den Deutschen gebaute Kaffeeplantagen, und in zweien davon haben wir gedreht. Erst als der Film fertig war, habe ich gesehen, dass es eine ferne Verwandtschaft gab zwischen Isabelles Rolle und dem einsamen Kind in "Chocolat".

Man könnte das eines Ihrer Leitmotive nennen: die einsame Frau. Denken Sie an die von Katerina Golubeva in "J'ai pas sommeil" (Ich kann nicht schlafen) gespielte Litauerin, die sich allein und ohne Sprachkenntnisse in Paris zurechtfinden muss. Denken Sie an Valérie Lemercier, die in "Vendredi soir" am Abend, bevor sie mit ihrem Freund eine gemeinsam Wohnung bezieht, im Stau steckenbleibt und mit einem Fremden mitgeht ins Hotel …

… sagen wir so: Es fällt mir schwer, von Paaren zu erzählen. Am Anfang haben mich auch eher Männerfiguren interessiert, Frauen fand ich eher peinlich, belastend. "Vendredi soir" war der erste Film, wo ich einer einsamen weiblichen Figur begegnete, die Angst hat, sich mit jemandem zusammenzutun. Und dann habe ich die Rolle auch noch mit einer schrecklich einsamen Schauspielerin besetzt. Valérie Lemercier macht One-Woman-Shows, sie kann sehr komisch sein, aber vor allem ist sie stark und allein. Aber auch diese Figur in "Vendredi soir": Das bin nicht ich. Ich glaube, man findet mich nie in meinen Filmen. Ich erkenne Figuren wieder, das ja. Das können übrigens auch einsame Männer sein, wie Denis Lavant in "Beau travail".

Dabei treten die Männer in Ihren Filmen oft als Beschützer auf, als Tröster, als sanfte Väter oder Ersatzväter, etwa in "35 Rum", wo der Vater seine erwachsen gewordene Tochter nur unter Schmerzen ziehen lässt, oder in "Nénette et Boni". Sie bringen Wärme in das Geschehen - so anders als sonst so oft im Kino, wo sie die Zerstörer sind.

"35 Rum" ist die Geschichte meiner Mutter und ihres Vaters, der Film ist eine Art Familienmedaillon. Meine Mutter hat uns Kindern, und sogar ihrem eigenen Mann gegenüber, das Verhältnis zum eigenen Vater immer als Idealbeziehung geschildert. Mein Vater, ein ruhiger und fröhlicher Mann, hat das gelassen akzeptiert. Ihre eigene Mutter war ja im Kindbett gestorben, und ihr Vater hatte sich hingebungsvoll um sie gekümmert, um den Verlust vergessen zu machen. Sie sagte uns: "Ich liebe euch, aber ich bin keine Mutter. Ich bin eine Tochter." Wir lebten also einen völlig unnormalen Traum von Familie. Ich bin auch in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Männer viel zärtlicher sind als Frauen. Frauen waren entweder tot, hartherzig oder verrückt.

Ihre Mutter, heißt es, soll den Kindern auch keine Bücher vorgelesen haben, sondern Filme nacherzählt. Haben Sie sich da etwas ganz früh abgelauscht?

Doch, sie hat vorgelesen, und sie liest auch heute noch - mit fast 87 Jahren! - drei, vier Bücher pro Woche. Aber sie liebte es, vom Kino zu erzählen. Das war eine magische Zerstreuung. Es gab ja kein Kino im Busch, nur in den großen afrikanischen Städten. Wir hatten nur den Plattenspieler, das Radio, und Fotos. Also erzählte meine Mutter Filme nach, Sachen von Hitchcock, Sachen, die Angst machten, bis wir schrieen.

Gänsehaut? Thriller? Spannung? Man könnte sagen: das Gegenteil Ihres eigenen Erzählprinzips.

Hoffentlich gibt es Spannung in meinen Filmen! Ich versuche immer, alle Regeln der Spannung zu befolgen, und dann sagen die Leute: Ach, schon wieder ein Claire Denis! (lacht). Im Ernst: Es ist schon seltsam, gewissermaßen der Feind der eigenen Erzählweise zu sein. Mit den Geschichten, die ich erzähle, scheitere ich immer wieder. Eine spannende Geschichte ist wie ein Soufflé, das muss aufgehen. Man sagt mir über meine Filme vielleicht freundlich: Es schmeckt. Aber ich weiß genau, aufgegangen ist es nicht.

Vielleicht liegt es daran, dass Sie nicht linear erzählen, dass sie parallele Geschichten entwickeln, die noch dazu in einem unhierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Und daran, dass sie beim Erzählen viel weglassen, also mit Ellipsen arbeiten.

Ich glaube immer, alles in meinen Geschichten ist einfach und gut erklärt, und ich vergesse dann immer die Ellipsen - dabei sind sie das einzige, was ich beim Schreiben eines Drehbuchs wirklich liebe. Wenn ich selber etwas lese oder einen Film sehe, will ich auch nicht, dass man mir etwas erzählt, das ich schon verstanden habe. Also denke ich, diese Auslassungen geben dem Ganzen die Synkope, den Rhythmus, das müsste doch gefallen. Aber dann fragt man mich: Was ist da und da passiert? Vielleicht sind meine Ellipsen manchmal zu groß. Aber meine Figuren psychologisch auszupinseln, das wäre noch schlimmer.

In welchen Filmen fühlen Sie sich zu Hause - außer in Ihren eigenen?

Es gibt viele davon. Ohne sie würde die Filmgeschichte ja auch nicht weitergehen. Dieses Jahr habe ich in Cannes "Uncle Boonmee" von Apichatpong Weerasethakul gesehen. Ich war in der Jury der Reihe "Un certain regard" und musste deshalb die Frühvorstellung besuchen. Ich war müde, aber ich bin in diesen Film hineingeschlüpft wie in meine Schuhe, meinen Pullover, meine Wohnung. Alles in diesem Film sprach zu mir. Nachher sagten mir viele Leute, sie hätten dieses und jenes nicht verstanden. Aber wozu verstehen wollen, wenn man drin ist? Verstehen muss nur, wer draußen ist.

Programmdetails zur Retrospektive finden Sie hier.

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