zum Hauptinhalt
„Wir erleben eine Wiedergewinnung von Solidarität“, sagt Heinz Bude. „Die Solidarität wechselseitiger Hilfe, gewissermaßen auf Augenhöhe.“
© Kay Nietfeld/dpa

Soziologe Bude über Corona-Folgen für die Gesellschaft: „Verwundbarkeit macht solidarisch“

Heinz Bude ist der Optimist unter den deutschen Soziologen. Ein Gespräch über Staatsvertrauen, das Ende des Neoliberalismus und Corona als Epochenbruch.

Herr Bude, gehören Sie zu denen, die eine weitere Lockerung der Corona-Maßnahmen herbeisehnen und wieder in die Normalität zurückkehren wollen?
Nein. Ich glaube, dass auf mittlere Sicht vieles anders und manches besser wird. Aber wir werden nicht in eine Situation zurückkehren, die sein wird wie die, bevor uns das Virus ereilt hat.

Der Soziologe Heinz Bude, Jahrgang 1954, lehrt an der Universität Kassel.
Der Soziologe Heinz Bude, Jahrgang 1954, lehrt an der Universität Kassel.
© imago/Horst Galuschka

Was könnte besser werden?
Wir erleben gerade eine weltgeschichtliche Zäsur. Mich überrascht, dass viele das nicht so sehen. Es gibt eine grundsätzliche Veränderung von Werten, von Vorstellungen der politischen Organisation und von individuellen Verhaltensorientierungen. Zwei Punkte fallen besonders auf.

Nämlich?

Der erste, sehr wichtige Punkt ist die Anerkennung der Staatsbedürftigkeit unserer Gesellschaft. Der Staat ist zurück, nicht als autoritärer Staat, den man fürchten müsste, auch nicht als patrimonialer Staat, der uns vorgibt, wie wir zu leben hätten. Sondern ein Staat, der auf solidarischer Einsicht beruht. In unserem Bemühen, gemeinsam durch die Krise durchzukommen, merken wir, dass wir auf eine Instanz angewiesen sind, die sanktionsbeschwert ist, Vorgaben für alle machen kann. Die allermeisten finden das gut.

Die Menschen sind also vernunftbegabt?
Sie sind jedenfalls nicht angstgetrieben in ihrer Konformität. Die Bereitschaft einer gewissen Folgsamkeit zeigt sich darin, dass wir begonnen haben, aufeinander achtzugeben. Wir haben einen Begriff von kollektiver Handlungsfähigkeit wiedergewonnen.

Was hat sich außerdem verändert?
Die Erfahrung von Vulnerabilität. Das Virus ist kein großer Gleichmacher, nicht alle sind gleich betroffen. Es gibt klassenspezifische Betroffenheitsprofile, die sich in spezifische Todeschancen umrechnen lassen. Trotzdem müssen auch die besonders Schlauen, besonders Reichen erfahren, dass sie sich vor dem Virus nicht retten können. Ein Beispiel dafür ist Boris Johnson.

Endet mit Corona die Idee des Neoliberalismus: weniger Staat, maximale individuelle Freiheit?
Wir haben keine nennenswerte Staatsphobie mehr. Das gilt für alle westlichen Gesellschaften. Nicht nur die Angst vor der Übergriffigkeit des Staates – klassisches liberales Argument – ist weg, sondern auch das Unbehagen am Staat, die Elitenverachtung nach dem Motto: Das sind doch alles Pfeifen, die uns regieren. Die letzten 40 Jahre waren neoliberal im wirtschaftspolitischen Sinn.

Der Staat galt als Instanz großen Versagens, der Markt als Größe des Gelingens. Zu den letzten 40 Jahren gehört neben Milton Friedman aber auch John Rawls. Von ihm stammt die Idee, dass sich an den subjektiven Möglichkeiten der Einzelnen, ihr Leben zu gestalten, die Gelingensstruktur der Gesellschaft messen lässt. Auch das ist dahin. Fortschritt entsteht nicht durch die Multiplikation individueller Rechte. Die Mehrheit glaubt daran jedenfalls nicht mehr.

An die Spanische Grippe, an der ab 1918 bis zu 50 Millionen Menschen starben, wollte sich danach keiner mehr erinnern. Es gab kein Epochenbewusstsein. Warum sollte das bei Corona anders sein?
Weil sich die Epochenschwelle schon angekündigt hatte. Corona kam nicht einfach über uns. Das Unbehagen an dem, was wir 40 Jahre lang gemacht haben, war mit der Wahl von Donald Trump schon klar. Der Brexit hat es bestätigt. Aus einer Periode, in der wir – das will ich ganz positiv sagen – das Ich gefeiert haben, sind wir an einen Punkt gekommen, an dem nicht mehr Freiheit die große Formel sein kann. Die Formel lautet nun: Schutz. Freiheit und Schutz zusammenzudenken, das wird uns die kommenden 20 Jahre beschäftigen.

Werden sich die Menschen, wenn der Lockdown fällt, nicht erst mal vehement in den Konsum stürzen?
Ich hoffe, dass sie das tun. Wir sollten nicht sauertöpfisch die Idee eines neuen Sozialismus predigen. Die Welt, die auf uns zukommt, wird keine mit weniger Chancen sein. Askese ist nicht notwendig. Aber wir werden den Staat nicht mehr als Reparaturveranstaltung sehen, als etwas, das im Zweifel für die anderen da ist. 

Der Staat muss als Zukunftsöffner begriffen werden. Es ist ein investierender Staat, der jetzt gerade auf ungeheure Weise für uns in den Kredit geht. Das ist eine Krisenbewältigungsstrategie, die wir durchaus feiern dürfen, auch mit Konsum.

[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Ein Begriff, den gerade alle benutzen, ist Solidarität. Kann die Krise ein neues Gemeinschaftsgefühl stiften?
Wir erleben eine Wiedergewinnung von Solidarität aus dem Gefühl der individuellen Verwundbarkeit. Das ist eine ganz andere Solidarität als die latente Kampfsolidarität der Arbeiterbewegung. Ausgebeutete gegen Ausbeuter. Es ist auch nicht die Solidarität einer Nation gegen andere Nationen. Sondern: die Solidarität wechselseitiger Hilfe, gewissermaßen auf Augenhöhe.

Sie haben im letzten Jahr ein Buch zum Thema veröffentlicht, in dem Sie für eine postheroische Form von Solidarität plädieren. Was meinen Sie damit?
Postheroisch bedeutet: Meine Verwundbarkeit bringt mich zum solidarischen Blick auf andere. Ich empfinde die anderen nicht als Einschränkung, sondern als Ermöglichung meiner selbst. Diese Idee, quasi durchs Nadelöhr des Ichs zur Solidarität zu kommen, haben wir nun erreicht. In ihr steckt ein ungeheures Potenzial. Heroisch hieße, Albert-Camus-haft noch im Untergang solidarisch zu sein.

Es wäre unmenschlich, so etwas von den Einzelnen zu verlangen. Man kann es auch so ausdrücken: Solidarität ist eine Freundlichkeit gegenüber der Welt. Von Dolf Sternberger stammt der Satz: Modernen Gesellschaften tut eine leichte Staatsfreundlichkeit gut. Individuellen Wohlstand vor dem Hintergrund des allgemeinen Wohlstands zu sehen – dafür haben wir in Deutschland die allerbesten Mittel. Wir werden zu einer neuen Form der sozialen Marktwirtschaft finden.

In Europa ist die Solidarität weniger groß. Bevor italienische Covid-19-Patienten in deutsche Kliniken gebracht wurden, passierte beschämend wenig. Kann das Virus das Projekt EU beenden?
Ganz im Gegenteil. Das Projekt war im Grunde schon nach dem Brexit-Beschluss beendet. Wenn wir uns nur einen Moment vorstellen, Macron würde nicht, wie es gerade aussieht, aus seinen Schwierigkeiten herauskommen, und die nächste französische Präsidentin hieße Marine Le Pen – das wäre Europas Sargnagel. 

Wir können auch jetzt nicht ausschließen, dass Salvini zum italienischen Ministerpräsidenten gewählt wird. Die Konstellationen eines Endes waren seit zwei Jahren klar, aber keiner hat gewagt, sie auszusprechen. Ich glaube, diese Möglichkeiten des Scheiterns sind gebannt. Wir haben jetzt die Chance, uns anders in Europa zusammenzufinden, als uns wechselseitig die Missachtung unserer Werte vorzuhalten.

Hintergründe zum Coronavirus:

Gerade wird aber giftig über Schulden und Eurobonds gestritten.
Dass man darüber streitet, ist normal – auch dass manche Länder Sorgen haben, anderen Ländern Geld hinterherzuschmeißen, von dem sie nicht wissen, was damit gemacht wird. Wir sollen nicht so tun, als ob es in Europa keine Differenzen gäbe. Ich habe viel mit Leuten aus den Niederlanden oder aus Polen zu tun. Sie haben mir bestätigt, dass wir dabei sind, ein neues, besseres Bewusstsein für unsere gemeinsamen Probleme zu entwickeln. Europa muss nicht auf der Intensivstation künstlich beatmet werden. Aber Europa hat gemerkt, dass ihm die Luft wegbleiben kann. Und wenn wir uns nicht gegenseitig Sauerstoff zur Verfügung stellen, dann krepieren wir.

Jürgen Habermas sagt: „So viel Wissen über das Nichtwissen gab es noch nie.“ Wie reizvoll ist es für einen Soziologen, im Status der Unklarheit über Gesellschaft nachzudenken?
Sehr. Ich gehöre zu einem Gremium, das die Bundesregierung berät. Da mache ich die beglückende Erfahrung, mit Ökonomen, mit Virologen und Epidemiologen sehr produktiv zusammenarbeiten zu können. Die einen reden über Populationen, die anderen über ökonomische Aktivitäten, die Dritten über staatliches Handeln und dann die Soziologen, die die Gesellschaft ins Spiel bringen. 

In diesem interdisziplinären Chor, der angesichts der Krise unter Druck steht, wissen wir, dass wir uns die Bälle zuspielen müssen, nicht sagen können: Ich Fachexperte kann nur bis dahin blicken, mach du weiter. Wir kommen aufgrund von Evidenzen, aufgrund von ernsthaften Simulationen von Möglichkeiten zu Ergebnissen, die wir guten Gewissens den politischen Akteuren vorlegen können.

Warum sind Sie so optimistisch?

Vielleicht, weil ich in den achtziger Jahren auch zu denen gehörte, die genug hatten vom Staat, von der Helmut-Schmidt-Depression und der öffentlich-rechtlichen Bedenkenträgerei. „No Future“ war kein Klage-Slogan, sondern eine Formel der Befreiung, von der Zukunft wie von der Vergangenheit. Einen ähnlichen Aufbruchsgeist erlebe ich jetzt wieder.

Zur Startseite