Kampf gegen Corona: Liegt Schweden am Ende doch richtig?
Schweden steht wegen seines Umgangs mit dem Coronavirus im Fokus. Die Regierung fühlt sich zu Unrecht kritisiert. Und nun sinkt die Zahl der neuen Todesfälle.
Diese Art der weltweiten Aufmerksamkeit schmeckt den eher zurückhaltenden Schweden so gar nicht. Das wird spätestens am Freitagmorgen deutlich, als in Stockholm hochrangige Mitglieder der Regierung vor die Presse treten. Eingeladen sind explizit ausländische Journalisten, denn die rot-grüne Minderheitsregierung von Premierminister Stefan Löfven möchte ein aus ihrer Sicht fehlerhaftes Bild korrigieren, das in anderen Staaten über Schweden in der Coronavirus-Krise entstanden ist.
Und so sagt Außenministerin Ann Linde: „Es ist ein Mythos, dass das Leben in Schweden so weitergeht wie gewöhnlich.“ Viele Bereiche der schwedischen Gesellschaft seien eingeschränkt und viele Unternehmen würden unter der aktuellen Situation leiden.
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Und ihre sozialdemokratische Kollegin, Sozial- und Gesundheitsministerin Lena Hallengren, unterstreicht dies, wird aber zudem konkreter: „Ich muss feststellen, dass es das Bild gibt, dass Schweden in dieser Krise im Vergleich zu anderen Ländern radikal anders agiert. Ich teile diesen Eindruck nicht“, sagt sie.
Schweden habe in zwei Punkten anders gehandelt, sagt Hallengren: Zum einen seien die Schulen nicht geschlossen worden – Kindertagesstätten und Grundschulen sind geöffnet, an weiterführenden Schulen und Unis wird digital unterrichtet. Zum anderen, so die Ministerin, seien keine Regeln eingeführt worden, mit denen die Bürger gezwungen würden, zu Hause zu bleiben. Die Regierung habe sich mit Empfehlungen an die Bürger gewandt – und das sei erfolgreich gewesen.
Und dann, fast zeitgleich zu dem Moment, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in Berlin sagt, in Deutschland sei der Ausbruch „Stand heute - wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden“, spricht der Chef der schwedischen Gesundheitsbehörde, Johan Carlson, indirekt den Punkt an, der vielleicht hinter der Irritation des Auslands über den „schwedischen Sonderweg“ steht.
Während zum Bespiel in allen anderen EU-Ländern das Alltagsleben weitgehend eingefroren ist – graduell mit Unterschieden wie in Deutschland, Frankreich oder Spanien – ist in Schweden auch im Gegensatz zu den Nachbarländern Dänemark und Norwegen eben doch noch einiges möglich. So sind beispielsweise Bars, Cafes und Restaurants unter Auflagen geöffnet und werden gut besucht, wie die ersten warmen Frühlingstage zeigten. Auch shoppen und Frisörbesuche sind weiter möglich, Versammlungen sind bis zu 50 Personen erlaubt.
Carlson sagt dazu: „Während andere Länder den so genannten Lockdown gewählt haben und nun einen Weg finden müssen, wie die Gesellschaft wieder geöffnet wird, hat Schweden ein Modell, das über eine lange Zeit funktionieren kann.“ Und weiter: „Wir können so bis 2022 leben, wenn wir müssen.“ Ist Schweden am Ende vielleicht mindestens genauso erfolgreich bei der Bekämpfung des Coronavirus wie andere Länder, die schärfere Maßnahmen erlassen haben?
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Dieser Ansicht sind längst nicht alle. In einem am Dienstag in der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ (DN) veröffentlichten Artikel kritisierten 22 Forscher – darunter zehn Virologen und Epidemiologen – die Strategie der schwedischen Gesundheitsbehörden scharf. Sie kritisieren, die Fallsterblichkeit in Schweden sei deutlich höher als in den Nachbarländern Norwegen und Finnland, wo scharfe Restriktionen erlassen wurden, und bewege sich auf italienische Verhältnisse zu.
Zwischen dem 7. Und 9. April seien nach Angaben der Weltstatistikseite Worldometer in Schweden 10,2 Menschen pro eine Millionen Einwohner an den Folgen von Covid-19 verstorben. In Italien habe die Zahl bei 9,7, in Dänemark bei 2,9, in Norwegen bei 2,0 und in Finnland bei 0,9 gelegen. „In Schweden sterben also mehr als zehnmal so viele Menschen durch das Coronavirus wie in unserem Nachbarland Finnland“, schrieben die Wissenschaftler und Mediziner.
Sie riefen die Regierung daher dazu auf, mit „schnellen und radikalen Maßnahmen“ einzugreifen. Da auch Menschen ohne Symptome das Virus verbreiteten, müsse die soziale Distanzierung erhöht werden. „Schließt Schulen und Restaurants wie in Finnland“, lautete daher eine der Forderungen der Wissenschaftler. Auf die Kritik angesprochen, entgegnete Carlson am Freitag: „Haben Sie schon mal eine Frage erlebt, in der die Forschergemeinschaft vollständig einer Meinung ist?“ Und legte nach: „Es steht auch ein großer Teil Wissenschaftler hinter uns.“
Ein internationaler Vergleich der Zahlen ist, das ist inzwischen klar, nicht einfach und liefert mitunter ein verzerrtes Bild, da in den Ländern unterschiedlich viel getestet wird. Zudem werden Todesfälle international in den Statistiken anders erfasst.
Dies sind die Zahlen für Schweden: Am Sonntagmittag (14 Uhr) gibt es in dem Land mit seinen 10,2 Millionen Einwohnern 14.385 bestätigte Infektionen. Ab Anfang März war die Zahl der neuen Infektionen stetig gestiegen; der vorläufige Höhepunkt wurde dann am 8. Und 9. April mit jeweils mehr als 700 neuen Fällen erreicht. Zuletzt gab es täglich weniger als 500 bestätigte Neuinfektionen.
Anders sieht es allerdings bei der Zahl der Toten aus, die deutlich angestiegen ist. Am Sonntag wurden insgesamt 1540 Todesfälle gemeldet, 29 mehr als am Vortag. Am Samstag waren noch 111 Tote mehr als am Freitag registriert worden. Die meisten Fälle gibt es in der Region der Hauptstadt Stockholm: 5826 bestätigte Infektionen und 921 Tote.
Nach Angaben des Staatsepidemiologen Anders Tegnell von der Gesundheitsbehörde, der die Regierung berät, beruht die hohe Zahl an Toten vom Samstag auf Nachmeldungen vergangener Tage, die auch zu Wochenbeginn wieder möglich sind. Tegnell sagte der schwedischen Nachrichtenagentur TT am Samstag, Schweden verzeichne in den vergangenen Tagen rund 60 bis 70 Todesfälle täglich. „Wenn man diesen Trend analysiert, sieht man einen Rückgang der Todesfälle“, erklärte Tegnell.
Die meisten der in Schweden im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen sind zwischen 80 und 90 Jahre alt gewesen. 617 Patienten waren in dieser Altersgruppe, 361 waren zwischen 70 und 79 Jahre alt.
Anzahl der Verstorbenen pro eine Million Einwohner (Stand Sonntag, 19. April, 14 Uhr; Quelle Sveriges Television/Johns Hopkins Universität/Worldometer)
- Schweden: 148,4
- Norwegen: 30,9
- Dänemark: 59,7
- Finnland: 16,3
- Deutschland: 53,8
- USA: 118,2
- Italien: 384,4
- Spanien: 429
- Großbritannien: 233,1
- Frankreich: 288,8
- Südkorea: 4,5
Sollte sich der Trend fortsetzen, dürften sich Premier Löfven und Tegnell bestätigt fühlen. Tegnell hatte sich bisher mit Blick auf die schwedische Kurve immer optimistisch gezeigt. Das schwedische Gesundheitssystem und die besonders die Intensivstationen seien zwar stark belastet, aber nicht überlastet, betont er stets.
Am Donnerstag sagte Tegnell nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa in einer Debatte im norwegischen Fernsehen, mathematischen Modellen zufolge sei es möglich, dass in der am meisten vom Coronavirus betroffenen Region der Hauptstadt Stockholm bereits im Mai Anzeichen für eine Herdenimmunität zu sehen sein könnten.
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Auch Tegnell wehrt sich immer wieder gegen den Eindruck, Schweden gehe einen Sonderweg. Man habe agiert, wie andere Länder auch. Am 9. April sagte er: „Wir versuchen eigentlich, genau das Gleiche zu machen, haben aber akzeptiert, dass es nicht die Lösung ist, alles zu schließen. Wir schließen so viel wie möglich auf freiwilliger Basis und es sieht so aus, dass wir genauso weit gekommen sind, wie andere Länder.“
Fakt ist, die Regierung von Premier Löfven hat von Beginn an darauf gesetzt, dass die Schweden, die traditionell ein vergleichsweise großes Vertrauen in ihre Politiker haben, die Appelle von Regierung und Gesundheitsbehörde befolgen, die auch Tegnell in seinen täglichen Pressekonferenzen herunterbetet. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bürger den Kurs der Regierung stützt.
Die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten hatte Tegnell noch Mitte März mit der Begründung abgelehnt, dass dies „sehr viele negative Effekte“ haben würde, sagte er der Zeitung „Aftonbladet“. „Sehr viele Eltern würden nicht zuletzt aus dem Gesundheitsbereich verschwinden, die sehr wichtig seien, diesen Bereich am Laufen zu halten.“ Und der Zeitung DN sagte er am 8. März: „Keiner der (Infektions-)Ausbrüche, die wir bisher gesehen habe, hatte Bezug zu Schulen oder Kindern.“
Folgende Empfehlungen und Einschränkungen gibt es unter anderem in Schweden:
- Die Bürger werden aufgefordert, soziale Kontakte zu minimieren
- Versammlungen mit mehr als 50 Personen sind seit Ende März verboten
- Unnötige Reisen sollen unterlassen werden
- Es gilt ein Einreiseverbot für Menschen aus Nicht-EU-Ländern
- Die international empfohlenen Abstandsregeln sollen eingehalten werden
- Regelmäßiges Händewaschen wird empfohlen
- Homeoffice wird dringend empfohlen. Wer Symptome verspürt, soll auf keinen Fall zur Arbeit gehen
- Ältere sollen besonders geschützt werden. Besuch in Alten- und Pflegeheimen ist seit Anfang April untersagt.
- Menschen, die älter als 70 sind, und Personen mit Vorerkrankungen sollen zu Hause bleiben
Zudem gilt ab Samstag ein neues Gesetz, mit dem die Regierung bei Bedarf umgehend scharfe Maßnahmen wie Ausgangssperren und die Schließung von Restaurants und Geschäften anordnen kann, ohne vorherige Zustimmung des Reichstags. Das Gesetz gilt zunächst bis Ende Juni.
Gesundheitsministerin Hallengren kündigte am Freitag zudem an, dass Schweden die Coronavirus-Testkapazitäten drastisch hochfahren werde. Angestellte in Schlüsselberufen wie Polizisten und Feuerwehrleute sowie Menschen mit starken Symptomen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen sollen in den kommenden Wochen vorrangig auf das Virus getestet werden.
Die Testkapazitäten sollten schon bald auf 50.000 bis 100.000 Tests pro Woche ausgeweitet werden, sagte Hallengren. Bislang wurden demnach landesweit 75.000 Menschen auf den Erreger Sars-Cov-2 getestet.
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Die staatliche Gesundheitsbehörde erklärte, zur Erhöhung der Testkapazitäten sollten in den kommenden Wochen Arbeitgeber verpflichtet werden, Test-Kits an ihre Angestellten auszugeben und so Proben einzusammeln. Zudem sollten auch Privatunternehmen zur Auswertung der Tests herangezogen werden.
Auch Premier Löfven äußerte sich zum Wochenende noch einmal öffentlich. Er hatte seine Landsleute wiederholt aufgefordert, die Pandemie ernst zu nehmen, auch in einer für Schweden ungewöhnlichen Rede an die Nation im Fernsehen. Der Zeitung DN hatte er zudem gesagt, Schweden müsse mit Tausenden Toten rechnen. Da sei nun der Fall, sagte er am Freitag. „Das ist nicht überraschend, aber unglaublich traurig. Hinter jeder Zahl stecke ein Mensch", sagte der Premier.
Löfven, der zuletzt in einem Interview eingestanden hatte, dass sein Land wie andere auch nicht auf eine derartige Pandemie wie das Coronavirus vorbereitet gewesen sei, dankte allen Mitarbeitern im Gesundheitssystem und betonte, im Kampf gegen das Virus werde „Geld kein Problem sein“.
Dann ging er auf eines der größten Probleme Schwedens in der Coronavirus-Krise ein: die Alten- und Pflegeheime. Offiziellen Angaben zufolge werden ein Drittel aller Todesfälle aus solchen Einrichtungen gemeldet, wie die Zeitung DN schreibt.. An vielen Orten herrscht Personalmangel. „Die Anstrengungen unsere älteren Mitbürger zu schützen, müssen intensiviert werden“, sagte Löfven. Es sei entscheidend, dass sich Angehörige weiter an das Besuchsverbot hielten. „Ich verstehe, dass das schwer ist. Es ist natürlich frustrierend seine Lieben in so einer schweren Zeit nicht besuchen zu können. Aber es ist überlebenswichtig.“