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Vorbild Taiwan: Dort gibt es kaum Einschränkungen.
© REUTERS/Ann Wang

Faktor "R" Richtung Null drücken: So könnte eine Rückkehr zur Fast-Normalität gelingen

Zwei Szenarien dominieren die Diskussion: Unkontrollierter Ausbruch oder die Kontrolle von gesunkenen Infektionszahlen. Doch es gibt einen dritten Weg - der tut aber erstmal weh.

Wie wäre es, wenn das Coronavirus namens Sars-CoV-2 ein Keim wie viele andere wäre? Relativ hochansteckend zwar, aber tatsächlich gut kontrollierbar? Potenziell lebensgefährlich für ein betroffenes Individuum, aber in einem nicht überlasteten, gut ausgestatteten Gesundheitssystem selbst bei schweren Fällen zumindest oft beherrschbar? Bedrohlich, aber mit guter Überwachung immer wieder gut einzudämmen?

Sars-CoV-2 kann möglicherweise ein solcher Keim sein. Zwar fehlt nach wie vor eine der wichtigsten Säulen der Erregerbeherrschung, eine wirksame Impfung nämlich. Und wann sie zur Verfügung stehen wird - wenn überhaupt jemals in absehbarer Zeit - ist fraglich. Denn eine Immunisierung gegen dieses Virus per Erreger selbst oder eben auch per Impfstoff, ist möglicherweise nicht so einfach wie ursprünglich gedacht. 

Aber Impfungen gibt es auch gegen andere gefährliche Erreger nicht, HIV etwa. Oder, wenn es sie gibt, werden sie oft nicht so umfassend genutzt, dass sie für sich allein genommen die Ausbreitung eines Virus oder Bakteriums in Schach halten könnten, so wie es etwa bei Influenza oder Pneumokokken der Fall ist. 

Doch die Erfahrungen gerade in Berlin, vor allem aber etwa in Korea, Taiwan oder auch Neuseeland und sogar - wenn man den Zahlen von dort glaubt zumindest - in China, scheinen eines zu zeigen: Die anderen Säulen der Epidemieeingrenzung sind auch bei Sars-CoV-2, wenn sie fest gemauert werden, sehr tragfähig: Hygiene, Vorsicht, Abstand halten, per Maske Übertragungen verhindern, Infektionsketten mit Hilfe von intelligent eingesetzten Tests und moderner Datentechnik unterbrechen.

Vorbild Taiwan: Fast niemand steckt sich mehr im Land an

In Taiwan, dem Land, dass in den ersten Prognosen nach China die schwersten Folgen des neuartigen Virus zu tragen gehabt hätte, ist es derzeit komplett unter Kontrolle. Selbst nach einer kleinen Welle aus Europa und den USA importierter neuer Fälle liegt die magische Ziffer R in Taiwan bei nahe Null derzeit. Diese Reproduktionsrate gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person durchschnittlich ansteckt. 

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In Taiwan steckt eine Person im Durchschnitt fast keine andere an. Die allermeisten infizierten sind Personen, die den Keim in sich tragen, wenn sie einreisen. Gelungen ist das ohne Impfung, aber mit Hilfe intelligenter Überwachung und Unterbrechung der Infektionsketten - und einer auch aufgrund der Erfahrungen mit dem ersten Sars-Virus 2003 besonders einsichtigen und geschulten Bevölkerung. 

Testen, Testen, Testen - Daten, Daten, Daten - Masken, Masken, Masken - so könnte man die Strategie dort beschreiben. Stand 20. April 2020: 422 bestätigte Fälle seit Januar. Im April gab es bereits mehrere Tage, an denen kein einziger neuer Fall hinzukam. 

Taiwan war gut vorbereitet

Zwar hatte Taiwan auch ein par besonders gute Voraussetzungen. Neben der Sars-geprüften Bevölkerung und einer international beispiellosen Vorbereitung auf ein Ereignis wie das jetzige seit 2004 ist dies vor allem die Insellage, die die Kontrolle Einreisender erleichtert. 

Dem entgegen standen aber eben auch einige besonders schlechte: Es gibt einen massiven Austausch von Waren und Personen mit China und auch dem Rest der Welt. Außerdem ist das Land offiziell ausgeschlossen von internationalen Organisationen wie der WHO und deren Datenverkehr - Grund ist China, das Taiwan nicht als souveränen Staat anerkennt, sondern aufgrund der sogenannten „Ein-China-Politik“ als Teil der Volksrepublik versteht.

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Das Ergebnis, oder zumindest der Status quo, auch jenseits dieser Zahlen und Faktoren jedenfalls ist eindrucksvoll: Keine geschlossene Schule, keine ausgefallene Vorlesung, fast normal arbeitende Verwaltung, keine stillstehende Fabrik. Die ökonomischen Folgen der Epidemie sind allein die, die durch die weltwirtschaftlichen Verflechtungen des kleinen Industriestaates importiert werden und weniger gut zu kontrollieren sind als Re-Importe des neuen Sars-Virus über den internationalen Flughafen von Taipei.

Auch in Deutschland konnten regionale Ausbrüche eingedämmt werden

Taiwan reagierte schon sehr früh, dort ist es gar nicht erst zu einem massiven Ausbruch gekommen. Doch auch wenn das passiert, kann es gelingen, jene R-Ziffer deutlich zu drücken - das zeigt etwa Südkorea. Doch auch in Deutschland ist das mancherorts gelungen - zumindest soweit es die inzwischen deutlich verbesserte Datenlage hergibt. 

Experten - zuletzt der Immunologe Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig bei „Anne Will“ - gehen nun von einer bislang kaum diskutierten Möglichkeit aus.

Voraussetzung wäre demnach, dass die bisherigen Maßnahmen nicht nur konsequent verlängert werden. Meyer-Hermann zumindest hält sogar eine Verschärfung für etwa drei Wochen für sinnvoll. Zudem müssten sich die Menschen weiter konsequent an die Vorsichtsregeln halten.

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Und es müsste gezielter, effizienter und intelligenter als bisher auf Sars-CoV-2 getestet werden, um deutlich aussagekräftigere Daten zur tatsächlichen Situation zu bekommen als bisher

Sind all diese Voraussetzungen erfüllt, kann man vielleicht die Rate bestätigter Neuinfektionen und auch die Dunkelziffer der unerkannten Virenträger und -verbreiter weiter deutlich senken. Auch aus der Politik kommen entsprechende Gedanken, etwa vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach.

Ein drittes Szenario ist in Sicht

Das würde, zu Ende gedacht, ein ganz neues, alternatives Szenario eröffnen. Bisher gab es zwei: Massive Epidemie mit Überforderung des Gesundheitssystems, einem „R“, das dauerhaft deutlich über 1 liegt und unzähligen Toten sowie katastrophalen Folgen für die Wirtschaft lautete das erste. 

Eine abgeflachte Kurve mit einem „R“ knapp unter 1, aber mit nach wie vor vielen Infektionen, Erkrankungen und auch einer alles andere als zu vernachlässigenden Zahl von Todesfällen ist Szenario Nummer zwei. Es könnte unmittelbar auf eine Lockerung der Maßnahmen folgen

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Wenn jenes „R“ dann wieder anstiege, wäre aber sehr schnell wieder eine Verschärfung nötig. Es könnten sich mehrere Zyklen von Lockerungen und anschließenden Beschränkungen anschließen, das Ganze könnte sich dadurch mehr als ein weiteres Jahr hinziehen. Ein solches Szenario mit massivem Wiederaufflammen der Pandemie befürchtet auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie sie am Montag zu Protokoll gab. 

Szenario drei: Zunächst weiter massive Beschränkungen

Möglich scheint aber eben auch Szenario Nummer Drei zu sein: Zunächst braucht es weitere große Konsequenz, auch wenn das für die Wirtschaft weitere Einbußen bedeutet und die persönliche Freiheit weiterhin eingeschränkt ist. Doch so kann erreicht werden, dass es in absehbarer Zeit sehr wenige Neuansteckungen gibt. 

Dazu würden parallel gewaltige Test- und Überwachungskapazitäten aufgebaut. Erst dann würde deutlich gelockert werden. Von nun an müsste massiv getestet werden, etwa jeder, der Erkältungssymptome zeigt. Auch braucht es viele stichprobenartige Tests in Bevölkerungsgruppen. Zudem braucht es ein bestmögliches Monitoring von Einreisenden. Durch solche Maßnahmen muss sichergestellt werden, dass alle Infektionsketten unterbrochen werden.

Das Leben könnte sich dem Normalzustand annähern

So könnte die Reproduktionsrate „R“ innerhalb Deutschlands vielleicht dauerhaft sehr niedrig gehalten werden. Das Leben könnte sich, wenn dies gelänge, wieder dem, wie es früher war, zumindest annähern. Und vor allem die Wirtschaft könnte mit weniger Unsicherheit als in Szenario Zwei wieder Fahrt aufnehmen. 

Kombiniert mit weiterhin einsichtiger Umsetzung von Hygiene- und anderen Vorsichtsmaßnahmen in der Bevölkerung wäre es so sogar zumindest wahrscheinlicher, dass Maßnahmen nicht wieder massiv verschärft werden müssen, anders als bei Lockerungsszenario Nummer Zwei bei „R“ um die 1. Und ziemlich sicher - und das ist ein wichtiges ethisches Argument - würden weniger Menschen sterben.

Deutschland ist auf EU-weites Vorgehen angewiesen

Netto könnte sich ein solches Vorgehen auszahlen, trotz kurzfristig unvermeidlicher weiterer Verluste für Wirtschaftsbetriebe und massiver Unannehmlichkeiten und Zumutungen im persönlichen Bereich. Sicher sein, dass das funktioniert - und vor allem sicher sein, wann und in welchem Maße dann Lockerungen richtig sind - kann man sich aber auch hier nicht. 

Und viel wird für Deutschland als Zentrum Europas davon abhängen, wie die andere Staaten agieren und reagieren. Einmal mehr wäre also auch, wenn Szenario Drei tatsächlich ins Auge gefasst würde, Koordinierung von Brüssel aus und umgesetzt in der gesamten EU unabdingbar.

Allein die Möglichkeit, mit Maske, Seife und Abstand so lange, bis es hoffentlich einen Impfstoff gibt, zumindest ein halbwegs normales Leben in einem halbwegs normalen ökonomischen Umfeld leben zu können, ist vielleicht aber Motivation genug für alle Staaten und denkenden Menschen in Europa.

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