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Vor dem Studio des wegen sexuellen Missbrauchs angeklagten R. Kelly in Chicago rufen Demonstrantinnen im Januar zum Boykott auf.
© AFP

#MeToo-Debatte: Trieb und Tugend

Im Zeitalter der Skandale: Genießen Künstlerinnen und Künstler wie Emil Nolde und Harvey Weinstein moralische Sonderrechte? Ein Pro und Contra.

Pro: Kunst entsteht nur zwischen Licht und Finsternis

Die Kinder sollen es einmal besser haben. Dieser Wunsch kommt dank #MeToo der Erfüllung immer näher. Schauspielerinnen und Sängerinnen, die ihr Talent ohne Besetzungscouch entfalten dürfen. Tänzer und aufstrebende Autorinnen, die sich nicht vor unerwünschter Anmache fürchten müssen. Das war höchste Zeit. Nur muss der Preis so hoch sein?

Wenn jetzt das Problembewusstsein geschärft wird, ist das gut und richtig. Aber muss man die Toten verdammen, weil sie zu unsensibel waren, das Richtige zu tun? Muss man in längst untergegangene Zeitdörfer blicken, um Anlass für eine Hexenjagd zu finden? Und soll man sich dann fromm aller Kunst entledigen, die von fehlbaren Menschen stammt? Bitte nicht!

Für Thomas Mann war der Künstler kein moralisches Wesen, sondern ein ästhetisches, dessen Grundtrieb das Spiel und nicht die Tugend ist. Kunst und Künstler sind demnach zweierlei. Darf man nun nie mehr Filme von Woody Allen sehen, CDs von Placido Domingo hören oder Bilder von Emil Nolde anschauen? So abscheulich es erscheint, was jeder von ihnen getan haben soll, so wenig Anlass besteht, diese Abscheu auf das Werk zu projizieren.

„Ich bin die Hebamme, ich mache nicht das Kind“, hat Alexander Kluge über seine Filme gesagt. Nun kann man sich wünschen, dass die Kunst sich als Mittler zwischen Geist und Wirklichkeit nur ordentliche Leute sucht, Männer, die niemals fremdgehen oder fluchen und abends Fencheltee trinken, Frauen in dezenten Hosenanzügen, denen männerverschlingende Anwandlungen so fremd sind wie Alkohol- oder Drogenexzesse.

Das hat Kunst allerdings nie getan. Komischerweise entsteht Kunst nur zwischen Licht und Finsternis. Künstler müssen an Grenzen gehen, in Abgründe blicken, sie müssen fehlbar sein. Das soll keine Entschuldigung sein für sexuelle Übergriffe oder politische Fehlgriffe. Nur ein Werben für ein bisschen Großzügigkeit angesichts oft nicht mal bewiesener Missgriffe.

Künstler/innen sind keine Gottheiten - ich denke, es gibt Werke, die stark infiziert sind von dem, was die Künstlerperson sich hat zuschulden kommen lassen, es gibt aber auch Werke, wo dies nicht sichtbar oder merkbar ist. Schwierig, ich plädiere, im Zweifel, für die Trennung von Werk und Person.

schreibt NutzerIn Zweiglein

Es soll die Kunst davor schützen, in Sippenhaft genommen zu werden mit dem Künstler, der sie in die Welt gebracht hat. Der riesige Echo-Raum einer Empörungsunkultur, die sich auf den kleinsten Verdacht stürzt wie ein ausgehungerter Löwe, diese Gier darauf, sich sogar im Nachhinein, sogar posthum an Fehlern moralisch abzuarbeiten, wenn unter den Lebenden sich gerade niemand anbietet, verdammt zu werden, ist abstoßender als vieles, was sich die angeprangerten Delinquenten zuschulden kommen ließen.

Wer erforscht heute noch die eigenen Verfehlungen, bevor er den ersten Stein wirft? Manchmal scheint es so, als habe die digitale Revolution die uralte Lust des Menschen auf den Pranger wieder zutage gefördert, als kämen dadurch die niedrigsten Instinkte ans Licht, die man im Lauf der Evolution längst überwunden haben müsste. Einfach mal loszuhassen ist so viel leichter als zu differenzieren. Wie viel schwerer ist die Kunst des Maßhaltens, auch wenn es um Urteile geht. (Elisabeth Binder)

Harvey Weinstein kurz nach einer Gerichtsverhandlung.
Harvey Weinstein kurz nach einer Gerichtsverhandlung.
© AFP

Contra: Die Kunst wiegt nicht mehr als das Leid der Opfer

Vergangenes Jahr wählte das einflussreiche Kunstmagazin „ArtReview“ die #MeToo-Bewegung auf Platz drei seines Machtrankings der Kunst. Schließlich dominieren die Themen Gleichberechtigung und Diskriminierung den Kulturbetrieb, seit #MeToo das Schweigekartell gebrochen hat. Es geht längst nicht mehr nur um Sexismus, sondern auch um Rassismus und andere Diskriminierungen. Untaten in der Kultur werden endlich thematisiert. Die Radikalität dieses Wandels stößt vielen sauer auf. Sie reden von Denkverboten, exzessiver Moralisierung und Hexenjagd. Was sie außer Acht lassen, ist worum es hier wirklich geht: um Gerechtigkeit und Verantwortung.

Soll man Künstler*innen für ihre Verfehlungen mit Missachtung strafen? Metoo hat gezeigt, wie lange es gedauert hat, bis Schandtaten wie die von Harvey Weinstein endlich juristisch sanktioniert wurden. Natürlich muss man unterscheiden zwischen Straftaten, Verdachtsfällen, und diskriminierenden Tabubrüchen. Sie alle entstehen jedoch aus einer Situation heraus, in der die Mächtigen glauben, ihre Grenzüberschreitungen würden keine Folgen nach sich ziehen.

Ihnen die Aufmerksamkeit und dadurch die Macht zu entziehen, hat sich als einziges Mittel gegen die Beharrlichkeit der Unterdrückung erwiesen. Hier kann es keine Kompromisse geben, es darf nicht zwischen Künstler*in und Privatperson unterschieden werden. Man würde schließlich auch nicht zum Boykott gegen ein Unternehmen wie Nestlé aufrufen, aber weiterhin deren Wasser trinken, weil dieses halt schmeckt. Niemand würde auf die Idee kommen, einem Produkt unabhängig vom Produzenten ein Eigenleben zuzusprechen, wieso also sollte man dies in der Kultur tun?

Es geht bei diesem Umwälzungsprozess darum, endlich Grenzlinien festzulegen. Dabei wird gelegentlich über die Stränge geschlagen, klar, aber diesen Prozess zu verweigern, banalisiert die Gefühle und Traumata derjenigen, die der Diskriminierung ausgesetzt sind. Hier geht es auch um Empathie.

Ist etwa die Musik von R. Kelly bedeutsamer als das seelische Leid seiner Opfer? Natürlich ist die Gemengelage nicht immer so klar, gerade wenn es um Künstler*innen geht, die schon lange tot sind und deren Werk nun an den heutigen Moralmaßstäben gemessen wird. Aber auch hier sollte man sich fragen, ob der Schutz der Vergangenheit oder der Freifahrtsschein der Genialität wirklich noch gerechtfertigt sind.

Kann man Emil Noldes Einstellungen mit „waren halt andere Zeiten“ oder „Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander“ entschuldigen? Würden Sie sich die Bilder eines gegenwärtigen Rassisten ins Wohnzimmer hängen?

Es wird sich ein Mittelweg zwischen oktroyierten Verboten und kompletter Ignoranz ergeben, doch das dauert. Bis dahin sollte jedes emanzipierte Wesen selber entscheiden, auf welche Kunst zu verzichten ist. Das geht nicht mit Scheuklappen. Dazu gehört die Gewissheit, dass ein Boykott machbar und sinnvoll ist. Sie hat lange auf sich warten lassen. (Max Tholl)

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