Essay: Syrien, vor dem Sturm
Im Februar 2011 begannen in Syrien die Proteste, dann folgte ein heilloser Bürgerkrieg. Marc Röhlig hatte vor dem Krieg in Damaskus gelebt. Heute entgleitet ihm die Wirklichkeit des Landes - und seine Freunde von damals, die nur im Netz lebendig bleiben. Eine Erinnerung.
Es ist jetzt fast drei Jahre her, dass ein Land, das ich sehr liebe, zu verschwinden begann. Ich habe in der Hauptstadt dieses Landes gelebt und Arabisch gelernt. Ich lernte, mich in den Straßen zurechtzufinden, fand dort Freunde, wurde Teil des Rhythmus der Stadt.
Ich hatte diesen Freund, der sich die Haare rabenschwarz färbte und aus Metallstücken Nieten für seine Jacke bastelte. Er wollte wie der „Tokio Hotel“-Sänger Bill Kaulitz aussehen, einen Deutschen zu kennen war für ihn ein Abenteuer. „Meinst du, ich sehe aus wie Bill?“, fragte er mich einmal, drehte und wendete sich vor mir und damit vor aller Augen auf der Straße. Ein Bill-Kaulitz-Haarschnitt, das war sein Symbol für Unangepasstheit, für Rebellion.
Ich verließ das Land ein halbes Jahr bevor die Unruhen begannen. Ich kann nicht mehr sehen und hören, wie es den Menschen in diesem Land geht. Ich kann es nur auf Facebook lesen. Meine Erinnerungen sind eingewoben in soziale Netzwerke. Vor drei Jahren riefen Aktivisten einen „Tag des Zorns“ aus. Sie beschrieben das Netzwerk mit Parolen, als sei es eine riesige Hauswand.
Die Menschen redeten nie vom Arabischen Frühling - sie sprachen von "Umsturz"
Das war im Februar 2011. Die Menschen in dem Land wollten an die Ereignisse des Arabischen Frühlings in Tunesien und Ägypten anknüpfen, die zuvor ihre Diktatoren in einem Rausch weggespült hatten. Ägypter und Tunesier hatten nie von einem „Frühling“ gesprochen, vielmehr nannten sie ihre Aufstände „thaura“ oder „isqad“ – Revolution und Umsturz. In dem Land, das mir am Herzen liegt, genügte zu Beginn Zorn.
Die „Tage des Zorns“ wurden vom Präsidenten des Landes mit Gewalt erstickt, in Folterkellern und Gefängnissen. Seitdem tobt ein Bürgerkrieg in dem Land, zwischen der Armee des Präsidenten und denen, die von den „Tagen des Zorns“ mit Tränen der Wut übrig geblieben sind. Ein Krieg zwischen islamistischen Kämpfern, die aus dem Ausland einsickern, zwischen iranischen und libanesischen Brigaden, zwischen Stellvertretern auf dem weltpolitischen Tableau. Das Land arbeitet immer schneller an seiner Auflösung – wenn aus Häusern Ruinen werden, wenn aus Menschen Erinnerungen werden.
Meine Freunde erleben diesen Krieg sehr unterschiedlich. Es gibt die, die im Internet militärische Erbauungsvideos verbreiteten oder Durchhalteparolen für die Armee. Das war im ersten Jahr des Krieges. Dann, seltener, veröffentlichten sie weinende Smileys oder Statusmeldungen, die nur ein vages „Ich bin traurig“ enthielten. Es gibt andere, die ihre Existenz im Netz zum Schutz auslöschten. Von einem auf den anderen Augenblick verschwanden sie aus meinem Leben.
Einer, der Bill Kaulitz, tauchte wieder auf: Heute lebt er bei einer Adoptionsfamilie in Europa. Er trägt jetzt kurze Haare und eine nie gekannte Härte in seinen Augen. Ich sehe ihn auf Facebook, wenn er Fotos von sich bei Mahnwachen vor Botschaften des Landes postet. Früher hatte er immerzu gelächelt. Heute publiziert er aus der Fremde Puzzleteile über die Kriegsverbrechen in seiner Heimat. Kaum ein Morgen, an dem ich auf Facebook keine blutigen Kinderleichen oder abgetrennte Glieder sehen kann.
Die beiden Assads wachen von Statuen und Gemälden überall im Land
Wer dieses Land, das ich so liebe, und seine Auflösung begreifen will, muss auf die Hauptstadt schauen, auf den einsamen Berg, der sich im Norden erhebt, den Dschabal Qasiyun. Von diesem Berg sieht man, wie zersetzt die Bevölkerung ist. Bei Tage sieht alles gleich aus, schlammfarbene Hochhäuser ragen wie faule Zahnstümpfe empor. Je nach Alter der Häuser wechselt ihre Patina von grünem, regennassem Schlamm hin zu weißem, verkrustetem Schlamm. Erst nachts zeugen neongrüne Farbtupfer von der wirklichen Dichte dieser Stadt: An jeder zweiten Kreuzung strecken sich nun hell erleuchtete Minarette sichtbar empor. Mehrere Hundert müssen es sein.
Die Stadt wächst an den Hängen des Qasiyun herauf. Eine Straße zieht sich von der Altstadt, die sich rühmt, älteste durchgehend bewohnte Stadt der Welt zu sein, bis auf wenige Meter an die Aussichtscafés oben am Berg.
Ich wohnte erst in der Altstadt, wo in der Umayyaden-Moschee das Grab Johannes des Täufers steht. Später zog ich in ein Haus weit oben am Berge Qasiyun. Ich konnte vom Dach die Stadt überschauen.
Als Bashar al-Assad an die Macht kam, hofften die Syrer auf eine Öffnung
Meine Straße durchzog die ganze Hauptstadt. Unten, wo die Bürgersteige breit sind, lebten die Reichen der Stadt, oben, wo die Straße zu einem Trampelpfad am Berghang wird, die Ärmsten. Die Straße beginnt am Four Seasons Hotel. Saudische Wochenendausflügler steigen hier ab und holen sich Knaben aus den umliegenden Parks auf ihre Zimmer. Hinter dem Hotel liegt ein Viertel voller Elektronik- und Bekleidungsläden. Es gibt hier DVDs mit Hollywood-Filmen, bevor sie im Kino anlaufen, sie kosten nur wenige Cent. Und es gibt Designerpullover, die dem Jahreseinkommen eines Lehrers entsprechen. Dort, wo die Straße einen leichten Knick beschreibt, steht eine Statue von Hafiz al Assad, dem Vater des heutigen Präsidenten.
Die Gesichter beider wachen auf Statuen und Gemälden überall im Land. Der Sohn versprach bei seinem Amtsantritt im Jahr 2000 eine Öffnung. Es bedeutete, dass entlang der Straße Espressobars nach westlichem Vorbild eröffneten. Die Besitzer jahrhundertealter Caféhäuser schraubten blinkende Internet-Reklametafeln an die Türen. Was mit dem Amtsantritt des Sohnes nicht kam, waren soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit.
Am Berg Qasyiun gehörte meine Wohnung zu den letzten Häusern, die noch mit fester Substanz gebaut wurden. Dahinter entstanden Wohnungen wie Organismen, wild wuchsen sie Etage für Etage, je nachdem, wie viele Ziegelsteine der Bauherr beschaffen konnte. Die Armen in dieser Stadt hatten die schönste Aussicht und doch nie mehr als das.
Der Krieg, der das Land heute überspannt, ist vor allem ein ökonomischer. Jeder Zweite war unter 25 Jahren. Es war ein Land voller Träume und Hoffnungen und zugleich so beengter Möglichkeiten. Ich kannte einen jungen Tiermediziner, der tags in einer Klinik arbeitete und nachts sein Gehalt als Taxifahrer auf ein erträgliches Maß heben musste. Schlaf und Ruhe fand er zwischen drei und fünf Uhr morgens auf der Rückbank seines Wagens. Doch der Präsident spricht von einem Krieg gegen Terroristen. Und Qaida-Kämpfer, die in das Land einsickern, nennen es einen Krieg für den Islam. Dabei hatten Sunniten, Schiiten, Alawiten oder Christen in diesem Land immer Tür an Tür gelebt, tiefe religiöse Gräben gab es nicht. Dass sie sich nun hassen, dass sie im Nachnamen oder Dialekt des Anderen einen Feind erkennen, ist der Dynamik des Krieges geschuldet.
Ich habe Freunde, die demonstrierten. Ich hatte Freunde.
Wie es heute in dem Land, das ich so liebe, aussieht, kann ich nicht wissen. Hört man noch das Hupen der Taxis? Oder das Knurren der Panzer? Ich kenne nur die Realität im Netz. Aus Deutschland ist das schwer einzuordnen: Stimmt es, dass Qaida-Kämpfer tunesische Frauen zum „Sex-Dschihad“ einflogen? Nein, es ist Propaganda des Präsidenten. Ist es wahr, dass von ihm der Giftgasangriff im Sommer letzten Jahres ausging? Es ist sehr wahrscheinlich.
In die Hauptstadt dieses Landes flog man früher so schnell wie nach Kairo oder Tunis. Doch das Land hat keine Badestrände wie Ägypten oder Tunesien, vielmehr römische und christliche Kulturschätze, die auch ein Fundament Europas sind, seiner Kultur. Das Land ist uns nah und bleibt in Unschärfe. Die Berichterstattung im Fernsehen ändert daran wenig. Wirklich wissen kann ich nur Zahlen: Über 100 000 Menschen tot, über zwei Millionen auf der Flucht.
Erst stellten sie Videos ihrer Demonstrationen ins Netz, dann ihrer Kämpfe
Es gibt, es gab, die Freunde, die vom ersten Tag an demonstrierten. Sie gingen tags auf die Straße und luden nachts Videos und Fotos ihrer Demonstrationen, später ihrer Kämpfe, ins Netz. Ein solcher Freund ist mir im Gedächtnis, er sprach schon von der Ungerechtigkeit in seinem Land, als ich noch dort lebte. Er tat dies nie in Cafés oder in der Öffentlichkeit, sondern nur, wenn wir Ausflüge aufs Land machten.
Einmal gingen wir auf den Qasiyun. Er schaute auf die Stadt hinab, kleine Schweißperlen standen ihm vom Aufstieg auf der Stirn. Dann zeigte er auf ein eingemauertes Areal zwischen den Hütten. „Schau, hier wohnt er, guckt auf sein Land und sieht dennoch nichts.“ Hinter den Mauern stiegen grüne Zedern und Überwachungskameras empor. Es soll eine Wochenendvilla des Präsidenten sein.
Mit Beginn der Demonstrationen traute sich der Freund, auch auf Facebook seine Gedanken zu äußern. Ich konnte aus Deutschland mitlesen, was er fühlte. Heute, drei Jahre nach Beginn der Demonstrationen, finde ich im Netz keine Spur mehr von ihm.
Ich glaube, er gehörte zu den Ersten, die in Syrien verschwanden.
Marc Röhlig