Nahost-Korrespondenten berichten über Erlebnisse seit 2008: Ist die Arabellion tot?
Der Journalist Martin Gehlen und die Fotografin Katharina Eglau berichten seit 2008 für den Tagesspiegel aus dem Nahen Osten. Sie haben die Aufstände und Revolutionen miterlebt und viele Länder bereist. Jetzt erzählten sie in Berlin von ihren Erlebnissen. Wir dokumentieren die Veranstaltung mit Tagesspiegel-Lesern in Auszügen.
Müssen Touristen in Kairo Angst haben?
Wir wohnen 15 Minuten Fußweg vom Tahrir-Platz entfernt im Kairoer Stadtteil Dokki. Während der Auseinandersetzungen im Juli und August war in dieser Gegend eine extrem gespannte Lage entstanden, weil eines der beiden großen Protestlager der Muslimbrüder auf der Dokki-Seite lag, nahezu vis-a-vis vom Tahrir-Platz auf der Kairoer Seite des Nils. Mehrmals gab es große Protestzüge, also Heerscharen von Leuten mit Knüppeln, Steinen und bisweilen auch Gewehren, die von der Dokki-Seite über die Nilbrücken auf die Tahrir-Seite vordringen wollten, um die Unterstützer des Putsches und der jetzt Herrschenden zu attackieren. Bei diesen Aufmärschen ist es mehrfach vorgekommen, dass diese Kolonnen dann auch durch unser Viertel zogen.
Vor gut vier Wochen, am 6. Oktober, feierte Ägypten seinen Nationalfeiertag. Auch an diesem Tag wollten die Muslimbrüder erneut den Tahrir-Platz erobern. Der Boulevard, der von Dokki über den Nil direkt zum Tahrir- Platz führt, dieser Boulevard liegt etwa 800 Meter hinter unserem Haus. Am Vormittag hatten wir noch bei den Unterstützern der neuen Führung recherchiert, die die Armee und die Absetzung von Mohammed Mursi auf dem Tahrir-Platz feierten. Nach der ersten Reportage für die Andruckausgabe wollten wir gegen 16 Uhr wieder zurück auf die Straße, um die heranziehenden Demonstranten der Muslimbrüder zu beobachten. Doch zu diesem Zeitpunkt hörten wir bereits bis zu unserer Wohnung automatische Gewehrschüsse, die von dem Boulevard zu uns herüberhallten. Am Abend haben wir dann erfahren, dass bei heftigen Kämpfen auf dieser Straße mehr als 30 Menschen erschossen worden waren – die meisten von Polizisten oder dubiosen Bewaffneten in Zivil.
Das heißt natürlich nicht, wenn Sie nach Kairo reisen oder vom Flughafen in die Stadt fahren, dass Sie automatisch in solche Situationen hineingeraten müssen. Aber das heißt schon, wenn die Muslimbruderschaft ankündigt, sie will den Tahrir-Platz erobern und Sie zufällig zu Besuch in Kairo sind, dass Sie sich besser fernhalten. Die Polizei in Ägypten hat in den vergangenen Monaten mehr als 1000 Demonstranten erschossen – sie sind gegen Protestzüge der Muslimbrüder mit der Schusswaffe schnell zur Hand. Auch gibt es in Ägypten mittlerweile eine grassierende Fremdenfeindlichkeit, die schlecht zusammenpasst mit dem Image einer großen Touristennation. Betroffen sind vor allem die syrischen Flüchtlinge, aber teilweise auch westliche Ausländer.
Sie kennen sicher die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, es gibt Warnungen für Kairo, auch für Luxor und das Niltal. Die mildeste Reisewarnung bezieht sich auf das Rote Meer und seine Badeküste. Sie sollten diese Hinweise nicht auf die leichte Schulter nehmen. Vor einigen Tagen hat in der tunesischen Küstenstadt Sousse ein Selbstmordattentäter versucht, in eine Hotelanlage einzudringen. Er ist im letzten Moment von Wachen an einem Hintereingang entdeckt worden und zündete dann seinen Sprengstoffgürtel im Garten des Hotels, ohne dass jemand zu Schaden kam. Hätte er in das Hotel eindringen können, hätte es dort ein Blutbad gegeben. So etwas kann man natürlich angesichts der extrem angespannten innenpolitischen Lage auch für Ägypten nicht ausschließen. Am Roten Meer liegen die Ferienressorts oft sehr einsam und die Bewachung ist sehr schwach. Darüber sollten Sie sich meiner Meinung nach im Klaren sein, wenn Sie einen Urlaub in Ägypten planen.
Wie frei können Sie in den Ländern des Nahen Ostens arbeiten?
Die Freiheit, die man als Journalist zum Arbeiten hat, ist sehr unterschiedlich. Ich hatte in den vergangenen drei Jahren mehrfach versucht, ein Visum für den Iran zu bekommen, jetzt für kommenden Dezember ist erstmals wieder eine positive Antwort eingetroffen. Auch für Syrien habe ich seit Beginn des Volksaufstands nie ein Visum bekommen. Das Gleiche gilt für Bahrein. Die Behörden wollten mir zwar die Einreise gestatten, aber nur wenn meine Frau, die Fotografin Katharina Eglau, nicht mitkommt. Es gibt offenbar eine interne Anweisung des Kabinetts in Bahrain, keine ausländischen Fotografen mehr einreisen zu lassen. Denn sie könnten zufällig Zeugen werden von den häufigen Übergriffen der Sicherheitskräfte in den Vorstädten.
In Staaten wie Syrien oder Bahrain wird die Visumserteilung ganz offen gekoppelt an das politische Narrativ der Machthaber. Ein Journalist, dessen Artikel nicht der offiziellen Linie folgen, gilt als feindselig eingestellt und bekommt kein Visum. Auch in Ägypten ist die Arbeit in dieser Hinsicht schwieriger geworden. Ägypten trompetet momentan eine stark chauvinistische Selbstdarstellung in die Welt, die Absetzung von Mohammed Mursi durch die Armeeführung sei kein Putsch gewesen, sondern eine zweite Revolution. Das wird nun nach der Manier von Sektenpredigern als Indikator benutzt, um die Gesinnung vor allem der ausländischen Journalisten auf „politische Rechtgläubigkeit“ zu prüfen. Tag für Tag verkündet die offizielle Propaganda, das Ausland spioniere Ägypten aus, Amerika und Israel wollten Ägypten zerstören und führten Übles im Schilde. Mit solchen Verschwörungstheorien wird man praktisch rund um die Uhr konfrontiert. Auch das ägyptische Informationsministerium, das in allen seinen Verästelungen angeblich 9000 Angestellte haben soll, zeigt plötzlich nie dagewesene Aktivitäten. In den zurückliegenden Jahren ist die Behörde nur durch lautes Schnarchen aufgefallen. Jetzt auf einmal, nach dem Putsch durch das Militär, haben sie allen Auslandskorrespondenten bereits zweimal in gepflegtem Englisch eine mehrseitige Richtlinie geschickt, wie sie sich die Berichterstattung über Ägypten und die angebliche Wahrheit über die Zustände in Ägypten vorstellen. Beide Papiere hatten klar drohende Untertöne.
Wie sieht es aus mit dem Schutz der Altertümer?
Ein Beispiel: Die Bibliothek der Jesuiten in Minia war die älteste Bibliothek der Stadt – 10 000 Bände, vor allem islamische Literatur, viele Bücher unersetzlich. Auch diese Bibliothek ist bei dem Angriff islamistischer Horden auf den Campus des Ordens angezündet worden, der gesamte Bestand verbrannt. Das ist ein Kulturschaden ersten Ranges für eine Stadt, die sowieso kaum Bibliotheken hat. In der Nähe von Minia gibt es das kleine Museum von Malawi, auch dieses wurde komplett geplündert und in Brand gesteckt. 1200 Exponate wurden gestohlen, von denen bisher nur rund 200 wieder ausfindig gemacht werden konnten. Ein weiteres großes Problem sind die Raubgrabungen. In dieser chaotischen Situation in Ägypten besetzen Nachbarn von Grabungsfeldern auf eigene Faust Land und bauen auf diesen alten pharaonischen Stätten Häuser oder richten neue Friedhöfe ein. Die Antikenverwaltung ist selber nicht in der Lage, ihre Grabungsstätten polizeilich zu schützen. In einigen Fällen hat sie Klage erhoben und ist vor Gericht gezogen. Aber meist gelingt es nicht, die illegale Landbesetzung rückgängig zu machen. Leider muss man sagen – bei den Altertümern und Grabungsplätzen in Ägypten entstehen im Moment immense Schäden.
Warum konnten die Muslimbrüder überhaupt die Wahl gewinnen? Haben die liberalen Ägypter die Wahlen nicht für voll genommen?
In den Staaten des Arabischen Frühlings waren die Wahlerfolge der Muslimbrüder durchaus unterschiedlich. In Tunesien regieren sie bisher in einer Koalition mit zwei säkularen Parteien, die Muslimbrüder jedoch stellen die deutlich stärkste Fraktion. In Libyen sind die säkularen Kräfte, die allerdings sehr zersplittert sind, sogar etwas stärker als die Muslimbrüder. Einzig in Ägypten war ihr Wahlsieg zusammen mit den Salafisten besonders stark ausgeprägt, dort errangen beide islamistischen Parteien im ersten Post-Mubarak-Parlament rund drei Viertel der Mandate. Das hat zum einen mit dem speziellen Wahlrecht zu tun, das große Parteien in der Tendenz bevorzugt. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Muslimbrüderschaft sehr gut organisiert war. Sie bildete schon in der Mubarak-Zeit eine Art Unterstaat, im Gegenüber zu Mubaraks Oberstaat. Der Mubarak-Oberstaat kontrollierte wichtige Teile der Gesellschaft. Die Muslimbrüder aber hatten auch eigene Domänen, wo es praktisch keine staatliche Präsenz mehr gab, zum Beispiel in den Slums und Armenvierteln der Städte. Insofern können Sie das Wahlergebnis bei der ersten Post-Mubarak-Parlamentswahl auch lesen als eine Art Schubumkehr des ganzen Staatssystems. Der alte Unterstaat wird zum Oberstaat und der alte Oberstaat verliert zentrale Hebel seiner bisherigen Macht.
Abgesehen davon ist Ägypten ein sehr islamisch-frommes Land. Und so hatten große Teile der Bevölkerung das Bedürfnis, nach der Revolution gegen Mubarak ein politisches System zu bekommen, das islamisch geprägt ist. Die Menschen wollen sich mit ihrer islamischen Identität in diesem post-revolutionären Staat wiederfinden. Sie wollen keinen säkularen, vom Westen ferngesteuerten Staat, wie unter Mubarak. Sie wollen einen Staat, der die islamischen Werte verkörpert. Und als gute Muslime haben sie geglaubt, wenn sie die Muslimbrüder oder auch die Salafisten wählen, dann kommt die Macht und ihr Anliegen eines islamischen Regierungssystems in die besten Hände. Das hat bei den Islamisten ein großes Missverständnis erzeugt. Sie haben gedacht, sie könnten jeden frommen Muslim in Ägypten ganz automatisch für ihren politischen Islam verbuchen und vereinnahmen.
Das säkulare und liberale Lager wiederum war und ist bis heute ausgesprochen schlecht organisiert. Es gibt im Grunde genommen keine nennenswerte Parteienlandschaft, die mit dem, was wir in Deutschland unter Parteienlandschaft verstehen, vergleichbar wäre. Jeder will gerne in Talkshows auftreten und große Reden schwingen. Aber keiner will harte Basisarbeit machen, Mitglieder werben oder Beiträge einsammeln. Und so gab es in der ganzen Auseinandersetzung um die Präsidentschaft von Mohammed Mursi nie einen politischen Gegenentwurf der säkularen Opposition. Einig war man sich nur in einem einzigen Punkt – Mursi muss weg. Diese eklatante programmatische und organisatorische Schwäche des liberalen und säkularen Lagers wird anhalten. Ägypten hat keine glaubwürdigen politischen Persönlichkeiten, die das tief zerstrittene Land wieder zusammenführen könnten.
Das, was sich in Ägypten ereignet hat, war das für Sie, der Sie Kenner sind, wirklich so überraschend?
Es gibt keinen Determinismus in der Geschichte, davon bin ich überzeugt. Historische Umbrüche erfolgen nicht zwangsläufig und damit exakt vorhersehbar. Sie entzünden sich oft in einer spezifischen Situation an Kleinigkeiten, auch wenn die Missstände zuvor bereits Jahre und Jahrzehnte bestanden, ohne dass das politische System kollabiert wäre. In der Schlussphase von Mubarak herrschte in Ägypten weitgehend Stagnation. Das einzige politische Thema, das zuletzt noch vorhanden war, war die Frage, ob es Mubarak gelingen könnte, seinen Sohn Gamal als Nachfolger im Präsidentenamt zu installieren. Dieses lähmende Klima war nach dem Arabischen Frühling total verflogen. Nach dem Januar 2011 wurde in der ägyptischen Gesellschaft so viel debattiert wie nie zuvor. Es waren absolut bereichernde und sehr interessante Diskussionen, selbst auf dem Land, auf den Dörfern, zum Beispiel in Oberägypten, war es ein besonderes Erlebnis, den Menschen zuzuhören. Sie hatten ein differenziertes Verständnis von dem, was in ihrem Land vorgeht und wie sie künftig in der neuen Zeit leben wollten. Solche öffentlichen Volksdiskussionen hatte es zuvor in der Mubarak-Zeit praktisch kaum gegeben.
Auch der Armeeputsch gegen Mohammed Mursi nach den Massendemonstrationen am 30. Juni, der Ägypten zunächst einmal das Ende seines Arabischen Frühlings beschert hat, war in meinen Augen keinesfalls zwangsläufig. Die Geschichte hätte auch anders verlaufen können, auch wenn die Putsch-Befürworter so tun, als wenn zu ihrem Handeln keinerlei Alternative bestanden habe. Die Vorgeschichte der Entmachtung von Mursi beginnt nach meiner Wahrnehmung im November 2012 mit den Justizdekreten des islamistischen Präsidenten, die die Verfassunggebende Versammlung vor der Auflösung durch das Verfassungsgericht immunisieren sollten. Die Justiz war ja seit Juni 2012, also seit der Auflösung des Parlaments durch das Verfassungsgericht, dabei, Mursis Regierungsmacht systematisch zu zerschießen. Mursi überreagierte mit seinen Allmachtsdekreten, seine Anhänger mit einer handfesten Belagerung des Verfassungsgerichts. Mursi hat mit der Zerstörung der Legitimität staatlicher Institutionen in Ägypten begonnen, seine Gegner in der Justiz jedoch trifft zweifellos eine Mitverantwortung. Und dieser gefährliche Zerrüttungsprozess ist bis heute nicht zum Stillstand gekommen.
Umgekehrt war die Putsch-Entscheidung des Militärs, die ja offenbar Mitte Mai oder Anfang Juni 2013 gefallen ist, ebenfalls nicht zwangsläufig. Präsident Mursi hatte im April 2013, also zwei Monate vor seinem Sturz, ein von der EU vermitteltes Kompromisspaket auf dem Tisch, das vorsah, die Regierung stärker auszuweiten und für andere politische Kräfte zu öffnen. Im Gegenzug wollte die in der sogenannten „Nationalen Rettungsfront“ zusammengeschlossene Opposition die Forderung fallen lassen, Mursi müsse auf jeden Fall zurücktreten. Dieses Kompromissangebot war von wichtigen Teilen der Führung der Muslimbruderschaft befürwortet worden, am Ende jedoch scheiterte es offenbar an Mursi persönlich.
General Sissi hatte nach dem Putsch Mitte Juli ebenfalls einen von der EU vermittelten Kompromiss auf dem Tisch. Der sah wechselseitige Vertrauensschritte vor, die am Ende in politische Gespräche der beiden verfeindeten Lager münden sollten. Als ersten Vertrauensbeweis sollten die neuen Machthaber drei bis vier führende Muslimbrüder aus der Haft entlassen, die Muslimbruderschaft sollte dafür ihre beiden Protestlager um 50 Prozent reduzieren. Dann hätte man Zug um Zug weitere Führungsleute freilassen können, die Protestlager langsam aufgelöst und einen politischen Verhandlungsprozess beginnen können. So jedenfalls lautete die Grundidee der EU-Vermittler. Diesmal jedoch scheiterte das Ganze an General Sissi. Mein Fazit daher: Es gibt in der Geschichte keinen Determinismus. Es gibt alles entscheidende Momente, vielleicht einige Stunden, ein halber Tag oder ein Tag, wo die geschichtliche Weiche nach der einen oder anderen Seite gestellt wird. Und das prägt dann die gesamte folgende Entwicklung.
Gibt es irgendeine Gruppierung, die ein wirtschaftliches Konzept hätte?
Noch 2010 war Ägypten eines der führenden Länder für Auslandsinvestitionen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Seit dem Sturz von Hosni Mubarak sind die Auslandsinvestitionen praktisch auf null gesunken. Viele Firmen müssen Konkurs anmelden, die Tourismus-Industrie kommt einfach nicht mehr auf die Beine. Bei Produktionen für ausländische Auftraggeber können Firmen oft die Liefertermine nicht mehr garantieren – es gibt Ausgangssperren, wilde Streiks, Straßenschlachten, gesperrte Straßen, teilweise auch Devisenmangel beim Kauf von Ersatzteilen für Maschinen. Autozulieferer wie Leoni, die Kabelbäume für Neuwagen produzieren, liefern aus Tunesien „on-time“, also innerhalb von 48 Stunden, was den Autokonzernen Lagerkosten spart. Leoni in Ägypten schafft das nicht, sie brauchen einen Produktionsvorlauf von etwa vier Wochen. Wer also mit ägyptischen Autozulieferern zusammenarbeitet, muss eine Art Vorratshaltung machen, um Störungen bei der Produktion abfedern zu können. Das führt bei den Firmen natürlich auf mittlere Frist zu Überlegungen, den Standort Ägypten zu schließen und ganz nach Tunesien zu verlagern.
Das zweite große Problem Ägyptens ist sein strukturelles Haushaltsdefizit. Der Staatshaushalt Ägyptens hat etwa ein Volumen von 70 Milliarden Euro, von denen zwischen 25 und 30 Milliarden ungedeckt sind. Das kommt vor allem daher, weil Ägypten einen Großteil seines Staatshaushalts für Benzin-, Strom- und Brotsubventionen ausgibt. Diese Subventionen abzubauen, kann im Handumdrehen schwere soziale Unruhen auslösen. Wenn man zum Beispiel die Benzinsubventionen reduziert, wird der Transport für alle Menschen im Land teurer, auch die Lebensmittel werden teuer wegen der höheren Transportkosten – und das bei einer Bevölkerung, die jetzt schon zu 50 Prozent arm oder absolut arm ist. Diese in ihren heutigen Dimensionen völlig untragbar gewordenen Subventionen sind noch ein Erbe aus der Nasser-Zeit. Damals entschloss sich das Regime nach dem Vorbild der Sowjetunion, die grundlegenden Artikel des täglichen Lebens für alle zu subventionieren und nicht eine Sozialhilfe nach Bedürftigkeit einzuführen. Heute hat sich dies total ins Absurde verkehrt und gefährdet die ökonomische Zukunft Ägyptens. Denn durch die Wirtschaftsentwicklung Ägyptens in den vergangenen drei Jahrzehnten ist eine Mittelklasse entstanden, die solche Subventionen gar nicht mehr braucht und sie dennoch erhält. Durch das rasante und immer noch ungebrochene Bevölkerungswachstum wiederum ist ein großer Teil der Bevölkerung so arm, dass jede noch so kleine Streichung bei den Subventionen Millionen Menschen sofort in Existenzkrisen stürzt, weil sie sich kein Brot mehr kaufen oder von ihren mageren Gehältern die Fahrt zur Arbeit nicht mehr bezahlen können. Niemand in Ägypten, auch die neue Führung nach Mursi, ist in der Lage, dieses tief sitzende, strukturelle Problem anzupacken und zu lösen. Es ist eine Quadratur des Kreises. Und das in einem so großen Land mit fast 90 Millionen Einwohnern.
Gibt es einen Funken Hoffnung?
Selten war ein Jahr so gewalttätig und chaotisch wie 2013 – denken Sie an den mörderischen Bürgerkrieg in Syrien, die Serienbomben im Irak mit ihren täglichen Verheerungen, die halsbrecherische Anarchie im post-revolutionären Libyen, die spektakulären Morde an säkularen Politikern in Tunesien oder an die apokalyptischen Zahlen von syrischen Flüchtlingen in der gesamten Region. Zehntausende versuchen sich inzwischen in schrottreifen Booten über das Mittelmeer nach Europa durchzuschlagen. Und für Hunderte, wenn nicht Tausende endet die Fahrt mit dem Tod.
Für wichtige Staaten der Region schwindet die Hoffnung: Irak, Syrien und auch Libyen sind auf dem Weg zu „failed states“, also auf dem Weg zum Staatszerfall. Die relativ größte Hoffnung ruht auf Tunesien. Die tunesischen Muslimbrüder haben sich insgesamt kompromissbereiter und politisch kultivierter verhalten als die Muslimbrüder in Ägypten. Wenn es eins der Länder des Arabischen Frühlings schaffen kann, nicht von der Fahrbahn abzukommen, ist es Tunesien – aber die Fahrbahn zu einer demokratischen Gesellschaft ist noch lang.
In Ägypten ist die Lage unübersichtlich und unkalkulierbar. Ich würde sehr dafür plädieren, dass Deutschland Ägypten jetzt nicht einfach den Rücken kehrt. Es gibt sehr viele gemeinsame Initiativen in der zivilen Zusammenarbeit, etwa Berufsbildungs-, politische Bildungs- und NGO-Projekte. Wenn man da anfängt zu kürzen, trifft es die Falschen, nämlich die jungen Menschen, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Man sollte Ägypten nicht die Freundschaft und die Nähe aufkündigen, sondern versuchen, die wenigen noch verbliebenen Möglichkeiten des Einwirkens zu nutzen. Das ist ja bekanntlich auch die Linie der Bundesregierung.
Ein interessanter Sonderfall ist der Iran. Der neue Präsident Ruhani ist ein Mann des Systems, kein Systemveränderer. Aber die iranischen Machthaber haben begriffen, dass sie sich mit ihrer extrem aggressiven und säbelrasselnden Außen- und Atompolitik ins Abseits manövriert haben. Die Sanktionen – der Ölboykott der Europäer und Amerikaner sowie der Ausschluss Irans aus dem internationalen Bankensystem – machen Teheran wirtschaftlich schwer zu schaffen. Die neue Führung um Ruhani wird Erfolg haben, wenn sie das politische Momentum, das ihnen die Bevölkerung mit dem Wahlergebnis gegeben hat, erhalten und ihre mächtigen konservativen Widersacher daheim vor sich hertreiben kann. Insofern gibt es für eine mögliche Entspannung im Verhältnis zum Iran eine hohe Mitverantwortung des Westens und der 5-plus-1- Gruppe. Die neue Führung braucht rasch vorzeigbare Erfolge und ist ja offenbar bereit, bei der Atomfrage mit offeneren Karten zu spielen. Insofern besteht eine reale Chance, den Atomkonflikt durch Verhandlungen zu entschärfen und im Gegenzug die internationalen Sanktionen zu lockern. Wenn die Atomverhandlungen sich dagegen wieder festfahren, könnte es erneut einen schweren Rückschlag geben.
Der Irak leidet unter dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Ebenso Syrien. Gibt es dieses Problem in Ägypten auch?
Das Problem existiert und ist in letzter Zeit erstmals sichtbar geworden. Sie erinnern sich möglicherweise an die Lynchmorde in dem Dorf Abu Musallim nahe Kairo. Dort gab es eine Versammlung zu einem schiitischen religiösen Fest. Aufgepeitscht durch Hetzreden salafistischer Prediger griff ein Mob dieses Betertreffen an und ermordete vier Teilnehmer. Das war bisher der schwerste Zwischenfall zwischen Sunniten und Schiiten in der jüngeren Vergangenheit. Es gibt eine kleine Minderheit von Schiiten in Ägypten, die sich aber normalerweise sehr bedeckt hält. Die Hauptkonfliktlinie zwischen den Konfessionen aber verläuft zwischen Sunniten und Christen. Die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten in Ägypten haben also längst nicht die Dimensionen wie in anderen Staaten, beispielsweise Bahrain, Syrien oder Libanon.
Westerwelle ist wenige Wochen nach dem Ausbruch in Kairo gewesen. Wie produktiv haben Sie seinen Gang über den Tahrir-Platz damals empfunden?
Das Ansehen Deutschlands in Ägypten ist im Moment getrübt. Viele Ägypter auf der Straße, aber auch Politiker und Publizisten sind davon überzeugt, es gäbe eine große Verschwörung zwischen den USA und Israel, Ägypten zu zerteilen, und Deutschland mache da mit. Außenminister Guido Westerwelle ist Ägypten enger verbunden als jeder Außenminister vor ihm. Zuletzt war er im Juli nach dem Sturz von Mursi in Kairo – ich habe ihn selten so deprimiert und verzweifelt gesehen. Ihm war klar, dass Ägypten sich in große Gefahr begibt, wenn die neuen Herrscher nicht nach politischen Kompromissen suchen, sondern versuchen, die Muslimbrüder und ihre Anhänger mit Armee, Polizei und Geheimdienst von der politischen Bühne wegzuboxen. Er hatte damals zu Recht den Eindruck, dass man in Kairo diesen Rat aus Europa nach Kompromiss und Mäßigung im Umgang mit den Muslimbrüdern nicht mehr hören wollte. Wie der Machtkampf in Ägypten und die Staatskrise des Landes ausgehen werden, kann heute keiner sagen. Aber die Gefahr ist groß, dass das Ganze nicht gut ausgeht.
Sie haben von dem Iran als dem säkularsten Land gesprochen. Können Sie das noch ein bisschen erläutern, was Sie damit meinen?
Wenn Sie sich freitags im Iran in einer kleineren Stadt an die Moschee stellen und schauen, wer herauskommt, dann sind das meist einfache, weniger gebildete ältere Männer. Eine Volksfrömmigkeit und manifeste Glaubenspraxis im öffentlichen Raum, wie sie in Ägypten existiert, gibt es im Iran nicht. Das einzige gut besuchte Freitagsgebet ist das Freitagsgebet an der Teheraner Universität – das aber gleichzeitig die zentrale politische Manifestation der Islamischen Republik ist. Da werden in der Form von Freitagspredigten politische Reden gehalten und die offizielle Staatspolitik verkündet. In Zeiten der Grünen Bewegung vor vier Jahren trat der Oberste Revolutionsführer Ali Chamenei sogar persönlich als Prediger auf. Nach der frommen islamischen Einleitung ging es dann politisch voll zur Sache gegen seine Kritiker und die jungen Herausforderer damals auf den Straßen.
Ist in Saudi-Arabien in absehbarer Zeit eine Veränderung möglich?
König Abdullah ist fast 90 Jahre alt und hat für seine Nachfolge einen sogenannten Huldigungsrat eingesetzt. Dort sitzen Vertreter aller 34 Familienstämme, die auf die 34 Söhne von Staatsgründer Abdel Aziz zurückgehen. Sie müssen den neuen König wählen – und zwar einstimmig. Die Folge wird sein, dass das ganze teure Apanage-System mit den verschiedenen Privilegien für die einzelnen Familienstämme neu austariert werden muss. Denn die Familienstämme, die bei der Königswürde leer ausgehen, müssen anderweitig abgefunden werden. Die Clans dieser Prinzen aber sind in verschiedenen Regionen Saudi-Arabiens verwurzelt. Darum besteht bei dem möglicherweise bald anstehenden komplexen Thronfolgeprozess durchaus die Gefahr, dass das Land nach dem Tod von König Abdullah destabilisiert werden könnte.
Man sagt doch, der eigentliche Terrorist sei Saudi-Arabien, denn da kommt das Geld her.
Saudi Arabien ist ein großer Unruhestifter in der Region – als Finanzier des Terrors und als Exporteur von militanter Religiosität. Die relative Milde, die der Westen gegenüber Saudi-Arabien walten lässt, hat zwei Gründe: das Öl und die saudischen Waffenkäufe. Die Saudis sind nach Indien der größte Waffenkäufer der Welt. Das sind politische Waffenkäufe, um die internationale Kritik an dem Verhalten ihres Landes zu dämpfen. Denn Saudi-Arabien braucht diese ganzen Panzer und Kampfflugzeuge gar nicht – das Land hat noch nicht einmal genug eigene Fahrer und Piloten für das milliardenteure Militärgerät.
„Es gibt in der Geschichte keinen Determinismus. Aber es gibt alles entscheidende Momente, wo die geschichtliche Weiche nach der einen oder anderen Seite gestellt wird“.
Martin Gehlen