Analyse: Warum der Konflikt in Syrien so schwer zu lösen ist
Über die Vernichtung der Chemiewaffen sind sich die USA und Russland einig, Syrien nimmt den Plan an. Ein Ende des Bürgerkrieges ist aber nicht in Sicht. Gibt es überhaupt eine Chance auf eine friedliche Zukunft? Zehn Thesen.
Warum ist der Konflikt in Syrien so schwer zu lösen?
... weil Amerika wieder Weltpolizei spielt?
In den vergangenen Tagen haben manche die Deutung verbreitet, die USA drängten auf einen Militärschlag, und es sei dem Geschick der Russen zu verdanken, dass die Diplomatie nun wieder eine Chance habe; Moskau habe eine ungeschickte Bemerkung des amerikanischen Außenministers John Kerry genutzt, um eine Initiative zur Vernichtung der syrischen C-Waffen einzuleiten. Das ist jedoch ein Zerrbild. US-Präsident Obama ist das Gegenteil eines Kriegstreibers. Er versucht, sein Land aus den Konflikten in der arabischen Welt herauszuhalten, weil er sich auf die innere, vor allem wirtschaftliche Gesundung Amerikas konzentrieren möchte. Er hält daran selbst um den Preis fest, dass ihm Schwäche und Autoritätsverlust vorgeworfen werden. Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow geht es nicht um Frieden. Sie verteidigen ihre Stützpunkte, ihren Einfluss im Mittleren Osten und wollen ihren Schützling Assad um jeden Preis an der Macht halten, auch wenn der mehr als hunderttausend Landsleute hat töten lassen.
Nur in einem Punkt hat Obama ein übergeordnetes – und, wenn man es so sagen will: weltpolizistenhaftes – Interesse: Er möchte die Massenvernichtungswaffen, ob atomar, biologisch oder chemisch, abrüsten und ihre Weiterverbreitung verhindern. Das war bereits ein Schwerpunkt in seiner Studienzeit. Als Präsident trieb er die nukleare Abrüstung voran. Aus Syrien würde er sich heraushalten, hätte Assad nicht C-Waffen eingesetzt. Jetzt muss Obama handeln, um andere Diktatoren vom Einsatz solcher Waffen abzuhalten. Die militärische Drohung ist im Übrigen der einzige Grund, warum Russland und Assad sich nun etwas ernsthafter auf Verhandlungen einlassen. In den zwei Jahren zuvor hatten sie Gespräche blockiert.
Im Fall von Syrien hat die Drohung des Weltpolizisten also die Suche nach Lösungen nicht erschwert, sondern der Diplomatie den Weg geebnet. Vielleicht hätte Obama früher und glaubwürdiger drohen sollen.
... weil Assad der Kriegstreiber ist und alles zu verlieren hat?
Zu Beginn des Arabischen Frühlings Anfang 2011 gab sich Baschar al Assad selbstgewiss. Syrien habe größere Probleme als viele arabische Nachbarn, sei aber stabiler. Grund dafür sei die enge Bindung seiner Führung „an die Überzeugungen des Volkes“. Wenn es einen Riss gebe zwischen offizieller Politik und den Interessen der Bürger, entstehe jenes Vakuum, das Unruhen erzeuge, belehrte der Präsident wortreich westliche Interviewpartner. Er jedenfalls habe, anders als Tunesiens Ben Ali und Ägyptens Hosni Mubarak, vom ersten Tag im Amt mit Reformen begonnen – Worte, die heute zynisch und realitätsfremd klingen.
Denn inzwischen steht Syrien vor der größten Katastrophe seiner Geschichte. Jahrzehnte von Aufbau, Entwicklung und Wohlstand sind zerstört. Am 15. März 2011 hatten die Bürger bei ihrer ersten landesweiten Massendemonstration noch versucht, sich nicht provozieren zu lassen. Wochenlang trotzten sie den Schüssen der Sicherheitskräfte, den Greifkommandos des Regimes, den systematischen Folterkampagnen.
Dieses zivile Aufbegehren jedoch ist längst Geschichte, untergegangen in einem schier endlosen Strom von Bestialität, Luftangriffen und zuletzt sogar Giftgaseinsätzen. Trotzdem kann sich der syrische Diktator in dem Bürgerkrieg nach wie vor auf Teile seines Volkes stützen, vor allem die Angehörigen der alawitischen Minderheit, aber auch Christen und Drusen sowie sunnitische Muslime, die zum Mittelstand des Landes gehören. Im eigenen Lager scheint Assads Macht daher nach wie vor unangefochten.
Seine Macht fußt auf dem seit 1971 aufgebauten Regime seines Vaters Hafez al Assad. Der Senior verfolgte die Opposition im Land mit immer brutalerer Härte. Als er vor 13 Jahren starb, hinterließ er seinem Sohn einen Machtapparat mit 17 verschiedenen Geheimdiensten. Dennoch galt Baschar zunächst als schwacher Präsident: nicht so hart wie der Vater, nicht so kernig wie der bei einem Unfall ums Leben gekommene ältere Bruder. Baschar al Assads ehemaliger Medizindozent erinnert sich an ihn als „stillen und sanften“ Studenten. Heute ist Baschar al Assad ein brutaler Herrscher, vielleicht eine Form der Emanzipation gegenüber der alten Führungsriege, die er von seinem Vater einst geerbt hat.
... weil der Bürgerkrieg gerade den internationalen Islamismus stärkt?
Zehn Jahre nach dem Einmarsch der US-Armee in den Irak steht mit Syrien ein weiteres Land der orientalischen Kernregion vor dem inneren Zerfall und der Auflösung staatlicher Strukturen. UN-Vermittler Lakhdar Brahimi jedenfalls nimmt kein Blatt vor den Mund. „Entweder wir erreichen eine politische Lösung oder die Situation wird ähnlich wie in Somalia oder sogar schlimmer“, sagte er. Denn auf syrischem Boden operieren inzwischen viele tausend Dschihadisten aus aller Herren Länder, die meisten aus dem Irak, viele aus Saudi-Arabien, Tunesien, Ägypten, aber auch aus Europa und Nordamerika, Russland und Tschetschenien. Sie tragen, obwohl geringer an der Zahl, die Hauptlast im Kampf gegen das Assad-Regime.
Und sie streben offenbar die Kontrolle ganzer Landstriche an, so dass sie immer häufiger mit der „Freien Syrischen Armee“ und der örtlichen Bevölkerung aneinander geraten. Die selbst ernannten Gotteskrieger richten Scharia-Gerichtshöfe ein, drangsalieren die Menschen mit ihren frommen Vorschriften. Ungezählte Exekutionen von gefangenen Assad-Soldaten gehen vermutlich auf ihr Konto. In Aleppo richteten drei schwarz gekleidete Islamisten einen 14-jährigen Kaffeeverkäufer wegen angeblicher Gotteslästerung vor den Augen seiner entsetzten Eltern hin.
Seit vier Wochen eskalieren nun auch die Kämpfe zwischen Al Qaida und Milizen der syrischen Kurden. Mehr als 50 000 Menschen haben die Extremisten in ihrem Kampf um die Vorherrschaft im Osten Syriens bereits in den benachbarten Nordirak vertrieben. Behalten die Gotteskrieger die Oberhand, könnte sich Al Qaida zum ersten Mal nahe der Mittelmeerküste in autonomen territorialen Enklaven festsetzen. Was das bedeutet, hat bisher nur der Jemen entlang des Golfs von Aden erlebt – totale Terrorisierung der Bevölkerung, zerstörte Ortschaften und hunderttausende Dauervertriebene.
... weil die Opposition zunehmend aus Extremisten besteht?
Wer den Kriegsbildern folgt, sieht, dass sich Assads Armee und die Rebellengruppen in ihren Grausamkeiten längst angenähert haben. Im Netz kursieren Videos, in denen Aufständische ihren Opfern das Herz aus dem Körper schneiden und syrische Soldaten hinrichten. Auch die UN sprechen von massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Rebellen.
Das war nicht immer so. Als die ersten Proteste gegen Baschar al Assad im Februar 2011 begannen, setzte sich die Opposition vor allem aus Studenten und Intellektuellen zusammen. Viele hatten die offene Gesprächskultur zu Assads Amtsantritt im Jahr 2000 – Damaszener Frühling genannt – noch in Erinnerung. Die syrische Revolution begann also elf Jahre zuvor in den Kaffeehäusern der Hauptstadt. Doch friedliche Proteste sind heute die Ausnahme. Assad ließ die Demonstranten im ersten Halbjahr 2011 verfolgen, inhaftieren und foltern. So hat sich das Regime die militante Opposition zum Teil selbst geschaffen: Auf die Repression folgte die Bewaffnung der Demonstranten.
Heute ist die syrische Opposition äußerst heterogen. Es gibt Zivilisten, die die medizinische Versorgung aufrechterhalten. Es gibt Rebellen, die ihre Heimatorte verteidigen. Aber es gibt auch jene, die sich gegen Assad organisieren. Viele davon kämpfen in der Freien Syrischen Armee, einer unabhängigen Partisanentruppe. Doch immer mehr schließen sich islamistischen Gruppen wie der Nusra- Front an, dem syrischen Ableger von Al Qaida. Aus dem Ausland sickern zudem Dschihad-Kämpfer ins Land ein. So sind die Extremisten zum wichtigen Faktor im Bürgerkrieg geworden. Die USA müssten, sagt der Terrorismusexperte Aaron Zelin vom Washington Institute, „jetzt mit der Opposition arbeiten, die sie durch ihr eigenes Zögern“ hervorgebracht habe.
Vor allem in Nordsyrien haben sich die Nusra-Kämpfer festgesetzt. Gerade dort würde sich aber die Zivilbevölkerung gegen die Vormacht der Islamisten wehren, sagt Syrienexpertin Petra Becker von der Stiftung Wissenschaft und Politik dem Tagesspiegel. „Komplett in islamistischer Hand ist die Opposition noch lange nicht.“ So habe es auch Assad bisher nicht geschafft, die Regimegegner in der Öffentlichkeit komplett als extremistisch abzustempeln. Den Kämpfern kommt das zugute: Ein Feind, der sich nicht skizzieren lässt, lässt sich auch schwerlich treffen.
...weil es nur Frieden geben kann, wenn Syrien unter Schiiten und Sunniten aufgeteilt wird?
Syrien war über Jahrhunderte geprägt von einem Gewebe aus interreligiöser und interkultureller Pluralität. Städte wie Aleppo und Damaskus galten als polyglotte Zentren für Sunniten, Schiiten, Christen und Drusen gleichermaßen. Erst mit dem Aufstieg von Hafez al Assad 1971 zum Alleinherrscher Syriens errang die Minderheit der Alawiten eine Schlüsselrolle in dem 1946 unabhängig gewordenen Staat. In Hama und Homs leben sie in eigenen Vierteln, die bislang von dem Bürgerkrieg weitgehend verschont geblieben sind.
Schon Ende der siebziger Jahre begehrten sunnitische Gruppen gegen die Herrschaft des Alawiten Hafez al Assad auf. 1977 und 1978 verübten radikale Muslimbrüder erste Terroranschläge, denen das Regime zunächst mit Polizeimethoden zu begegnen suchte. Nach dem spektakulären Massaker in der Militärakademie von Aleppo, dem im Juni 1979 mehr als 80 alawitische Kadetten zum Opfer fielen, schaltete die Regierung auf kompromisslose Härte um. Höhepunkt war 1982 der Angriff mit Panzern und Kampfflugzeugen auf die Stadt Hama. Drei Wochen dauerten die Kämpfe, durch die große Teile der Altstadt zerstört wurden. Etwa 1000 Soldaten starben, mindestens 10 000 Bewohner verloren ihr Leben. Sohn Baschar al Assad, der heutige Präsident, war damals Oberschüler am französisch-arabischen Gymnasium in Damaskus. Die Erfahrung der sunnitischen Terrorjahre 1977 bis 1982 grub sich tief ein in sein Bewusstsein und das der alawitischen Herrscherelite.
Die heutigen blutigen Kämpfe in ganz Syrien, die bereits mehr als 110 000 Menschen das Leben gekostet haben, tragen mittlerweile unübersehbare Züge eines Glaubenskriegs. Religiös-verächtliche Beschimpfungen sind üblich geworden. Sunniten titulieren ihre schiitischen Gegner als „Dreck“ und „Hunde“. Alawitische Soldaten beschimpfen sunnitische Rebellen als „Ratten“ oder „Beduinen“.
Nach zweieinhalb Jahren Bürgerkrieg scheint das Assad-Regime den Plan aufgegeben zu haben, die abtrünnigen Regionen im Norden und Osten Syriens zurückzuerobern. Stattdessen konzentriert sich der Diktator darauf, für sich und seine Getreuen ein alawitisch-schiitisch geprägtes Restsyrien um Tartus und Lattakia zu schaffen, was über die Korridorstädte Homs und Qusair mit der Hauptstadt Damaskus in Verbindung steht. Ob dies gelingt, ist fraglich. Und ob dies Frieden zwischen den inzwischen tief verfeindeten Glaubensgruppen bringen kann, noch viel fraglicher.
... weil im ganzen Nahen Osten ein „Flächenbrand“ droht?
Umkämpft, zerstritten und ausgebeutet – bereits in altorientalischer Zeit gerieten Syriens Bewohner immer wieder zwischen die Mühlsteine der umliegenden Großmächte: im Osten die Assyrer und Perser, im Norden die Hethiter und Hurriter sowie im Süden die Ägypter. An diesem Schicksal hat sich auch 8000 Jahre später nichts geändert. Auch heute liegt das arabische Land im Zentrum regionaler und globaler Machtkämpfe – zwischen den sunnitischen Golfstaaten und dem schiitischen Iran, den Vereinigten Staaten und Russland, der Türkei und dem Iran, Israel und Libanons Hisbollah. So haben in dem Bürgerkrieg auf syrischem Boden viele externe Akteure ihre Hände im Spiel, befeuern die Kämpfe mit Waffenlieferungen, milliardenschweren Finanzhilfen und Militärberatern.
Vor allem drohen die beiden direkten Anrainer Libanon und Irak, deren Bevölkerung ethnisch und religiös ähnlich vielfältig zusammengesetzt ist, in den tödlichen Strudel der syrischen Katastrophe hineinzugeraten. Der Libanon ist tief gespalten in Gegner und Anhänger des syrischen Diktators. Die Hisbollah kämpft an der Seite der Assad-Truppen, während radikale sunnitische Scheichs in Tripoli und Sidon ihre Anhänger zum Heiligen Krieg gegen den Machthaber in Damaskus aufrufen. Im Irak dreht sich die Spirale der Gewalt inzwischen wieder so heftig, wie seit den dunklen Jahren des Bürgerkriegs 2006 und 2007 nicht mehr. Jeden Tag erschüttern neue Attentatsserien das Land. Im April vereinigten sich die Al-Qaida-Verbände von Irak und Syrien zum „Islamischen Staat im Irak und in der Levante“. Der kürzlich ausgeschiedene UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Martin Kobler, bilanziert: „Die Schlachtfelder wachsen zusammen.“
... weil in der Region die Zukunft der Christen auf dem Spiel steht?
An Warnungen herrscht kein Mangel. Ein Militärschlag gegen die syrische Regierung wäre „fatal für die einheimischen Christen“, heißt es zum Beispiel in einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Brief des Weltrats der Aramäer. Und der assyrische Erzdiakon Emanuel Youkhana betont, von einem möglichen Bombardement würden nur die Fanatiker unter den Rebellen profitieren. Er meint damit Dschihadisten. Die machen nach Angaben von Experten mehr oder weniger gezielt Jagd auf Syriens Christen. Diese werden aber immer häufiger ebenfalls Opfer der Truppen von Assad. Der Grund: Die Konfliktparteien werfen den Christen vor, sie würden mit dem jeweiligen Gegner zusammenarbeiten. Mehrere hunderttausend Christen sollen aus Angst vor Gewalt bereits auf der Flucht sein. Kirchliche Hilfswerke sehen denn auch die Gefahr eines Exodus aus Syrien, wo vor Bürgerkriegsbeginn schätzungsweise 1,9 Millionen Christen lebten. Der armenisch-katholische Erzbischof von Aleppo, Boutros Marayati, sagt sogar: Es gebe keine Hoffnung mehr, dass das Land zu einem friedlichen Zusammenleben der Religionen zurückkehren werde.
Den Christen wird jetzt auch zum Verhängnis, dass sie lange Zeit vom laizistischen Kurs der alawitischen Assad-Familie profitierten. Denn das macht sie vor allem in den Augen islamistischer Rebellen zu Parteigängern des Machthabers. Und die müsse man bekämpfen – als Kollaborateure und „Ungläubige“. Fachleute halten diesen pauschalen Vorwurf allerdings für unzutreffend. Schon frühzeitig hätten Kirchenvertreter eklatante Menschenrechtsverstöße der syrischen Regierung kritisiert. Einige christliche Intellektuelle zählen zudem zu den aktiven Unterstützern der Opposition. Was wiederum Repressalien regimetreuer Truppen gegen christliche Gemeinden zur Folge hatte. So bewegen sich die Anhänger Jesu nicht über den Parteien, sondern zwischen den Fronten. Und das in Syrien, der Wiege des Christentums. Eine bedrohliche Situation. Vor allem, weil auch in anderen arabischen Staaten, zum Beispiel in Ägypten, Christen immer häufiger für Missstände verantwortlich gemacht werden. Und als Sündenböcke herhalten müssen.
... weil Israel eigene Interessen verfolgt?
Die Abwehrraketen sind in Stellung gebracht. Ein Teil der Reservisten befindet sich in Alarmbereitschaft. Und wer sich als Bürger bedroht fühlt, hat sich eine Gasmaske besorgt. Alles übertrieben und hysterisch? Vielleicht. Aber der jüdische Staat geht nun mal gerne auf Nummer sicher. Das Selbstverständnis einer allzeit wehrhaften Nation gebietet es, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Wer kann im Moment schon kategorisch ausschließen, dass die USA nicht doch noch militärisch in Syrien intervenieren, sollte mit Blick auf die Chemiewaffen die Diplomatie scheitern? Israels Regierung will daher auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Sei es, dass Machthaber Assad als Antwort auf amerikanische Angriffe seine Raketen in Richtung Tel Aviv oder Haifa abfeuert. Oder die mit ihm verbündete Hisbollah den verhassten „Zionisten“ den Krieg erklärt.
Beides halten israelische Experten und Regierungsverantwortliche allerdings für eher unwahrscheinlich. Sowohl die Schiitenmiliz als auch der Herrscher in Damaskus wüssten ganz genau, dass Jerusalem mit ganzer Härte auf derartige Attacken reagieren würde. Israel wiederum hat kein Interesse, den Konflikt in Syrien zu verschärfen. Dementsprechend hält man sich bewusst mit Stellungnahmen zurück und damit aus dem Bürgerkrieg heraus. Das hat vielerlei Gründe. Einer heißt Assad. Den Autokraten, der auf sein Volk schießen lässt, hält man in Jerusalem fraglos für einen verachtenswerten Schurken. Aber auf ihn war in den vergangenen Jahren in der Regel Verlass. Die Grenze zu Syrien auf dem Golan gehörte jahrzehntelang zu den sichersten.
In Israel fürchtet man jedoch, dass nach einem Sturz Assads radikale Islamisten die Macht an sich reißen oder Syrien völlig auseinanderbricht. Eine Art Somalia mit erklärten Judenfeinden vor der eigenen Haustür? Ein Horrorszenario für Israel. Ebenso wie die Vorstellung, militante Fundamentalisten gelangen in den Besitz von Chemiewaffen. Das könnte nämlich aus Jerusalems Sicht das Gleichgewicht der Abschreckung zuungunsten des jüdischen Staates verändern – was keinesfalls hinnehmbar wäre. Deshalb haben israelische Kampfjets bereits mehrfach Waffentransporte, von denen aller Wahrscheinlichkeit nach die Hisbollah profitieren sollte, in Syrien angegriffen. Vorsichtshalber und aus ureigenstem Interesse.
... weil Millionen Menschen ihre Heimat verloren haben?
Die Dimension des Leids und der Not lässt sich zwar in Zahlen ausdrücken. Doch was das im Alltag bedeutet, wissen nur die Betroffenen selbst: Derzeit haben mehr als zwei Millionen Syrer in Nachbarstaaten Schutz vor dem Bürgerkrieg gefunden. Und täglich kommen ein paar Tausend hinzu. Menschen, die alles verloren haben. Nun leben sie in zum Teil riesigen Lagern in Jordanien, der Türkei oder im Libanon – oft unter katastrophalen Bedingungen. Aber diesen Bedürftigen geht es immer noch besser als den „Binnenvertriebenen“. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks gibt es bereits mehr als vier Millionen Menschen, die wegen der Kampfhandlungen ihre Heimat aufgeben mussten und in Syrien umherirren. Andere Schätzungen gehen sogar von sieben Millionen aus. Sie nur mit dem Allernotwendigsten zu versorgen, stellt die Helfer an Ort und Stelle vor immense Probleme. Denn in Syrien gibt es praktisch keine staatliche Infrastruktur mehr. Kürzlich schätzte die regierungsnahe Zeitung „Al Watan“ die Kosten für den Wiederaufbau auf derzeit 55 Milliarden Euro. Dafür wären 10 000 Baustellen mit 15 000 Lastwagen und 10 000 Betonmischmaschinen sowie sechs Millionen Arbeiter notwendig. Vertreter von Hilfsorganisationen nehmen allerdings das Wort „Wiederaufbau“ ungern in den Mund. Zu desaströs sei die Lage und deshalb kaum vorstellbar, wie das Land wieder auf die Beine kommen könnte. Dennoch lassen sich die Menschen in den Flüchtlingscamps eines kaum nehmen: die Hoffnung, dass sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren können.
Daran arbeiten Exilgruppen wie der Syrische Nationalrat (SNC). Der hat sich schon nach Kriegsausbruch im August 2011 gegründet. Er setzt sich zusammen aus Intellektuellen und Muslimbrüdern, die zum Teil seit Jahrzehnten im Exil leben. Von Istanbul aus agiert der SNC heute bereits wie eine demokratische Version eines fernen Syrien. Zwar noch ohne Macht, aber bereits mit mächtigen Verbündeten: Die USA und Saudi-Arabien unterstützen die Arbeit der Exilsyrer. Ende 2012 schloss sich der SNC durch Vermittlung der Amerikaner zudem mit anderen, kleineren Oppositionsgruppen zur Syrischen Nationalkoalition zusammen. Ahmad al Dscharba, Präsident dieser Koalition, schrieb in einem Essay für die „Washington Post“ über die „humanitäre Katastrophe“ in Syrien. Und warnte: Wenn keine Hilfe komme, werde im Land „die Verzweiflung den Radikalismus gebären“.
... weil in Syrien ein Stellvertreterkrieg tobt?
Falls dies ein Stellvertreterkrieg ist, dann nicht mehr wie in Zeiten des Kalten Kriegs. Damals unterstützten die USA, die Sowjetunion und China menschenverachtende Regime nach dem Muster: Sie sind Schurken, aber es sind unsere Schurken. Die entscheidende Frage war, auf welcher Seite diese Schurken im ideologischen Konflikt standen und ob man mit ihrer Unterstützung das andere Lager schwächen konnte.
Angesichts der inneren Konflikte in den arabischen Ländern verhalten sich die USA anders. Nur ganz zu Beginn des Aufbegehrens schwankten sie, ob sie sich im Namen der Freiheit auf die Seite der Protestbewegungen oder aus alter Loyalität, zum Beispiel zu Ägyptens Mubarak, auf die Seite der Regierung stellen sollten. Bald jedoch gewann ein anderes Motiv an Gewicht: die Gefahr, dass radikalislamische Kräfte zu viel Einfluss in den Oppositionsbewegungen gewinnen. Deshalb hielt Amerika sich zurück. In Libyen war die zögerliche Haltung Obamas offenkundig, als Frankreich und Großbritannien die militärische Intervention aus der Luft zum Sturz Gaddafis forderten.
Auch Russland hat sein Verhalten geändert. Es kalkuliert seine Machtinteressen in jedem Fall individuell. In Afghanistan hat Moskau nicht jede Gelegenheit genutzt, um den USA zusätzliche Probleme zu bereiten, sondern mit Nachschubwegen ausgeholfen, wenn Pakistan Schwierigkeiten machte. Auch in Syrien ist nicht die Schwächung Amerikas das oberste Ziel der Russen. Moskau verfolgt freilich handfeste Eigeninteressen und stützt Assad, weil er der einzige verbliebene Bundesgenosse in der Region ist.
Ein Stellvertreterkrieg ist der Konflikt dagegen für radikalislamische Bewegungen wie Al Qaida oder die Hisbollah, aber auch für den Iran. Überall in der Welt wollen sie Regime, die nicht ihrer jeweiligen Interpretation des Islam anhängen, stürzen. Oft ist ihnen dieses Ziel allem Anschein noch sogar noch wichtiger als der Kampf gegen den angeblichen „Satan“ USA.
Christian Böhme, Martin Gehlen, Marc Röhlig, Christoph von Marschall
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