Europäer, die in den "Heiligen Krieg" ziehen: Der Trip zur Radikalisierung
Die EU-Innenminister warnen: Von Syrien-Kämpfern, die aus Europa stammen und in die Heimat zurückkehren, geht eine erhöhte Anschlagsgefahr aus. Welche Dimension hat das Problem?
Auf der Genfer Friedenskonferenz versuchen sie derzeit das kleine Fünkchen Hoffnung auf ein Ende des fast drei Jahre währenden Blutvergießens in Syrien nicht ausgehen zu lassen. In Athen, wo sich am Freitag die EU-Innenminister trafen, schien die Aussicht auf eine Beilegung des Konflikts dagegen nicht nur Freude auszulösen. Es geht um die europäischen Bürger, die jetzt noch aufseiten der Aufständischen gegen das Assad-Regime kämpfen – speziell jene, die sich den Dschihadisten diverser Al-Qaida- Gruppen angeschlossen haben.
Wie viele solcher Europäer kämpfen in Syrien gegen Assad?
Der Anti-Terrorbeauftragte der Europäischen Union, Gilles de Kerchove, schätzt ihre Zahl auf gut 2000. „Manche wollen sich nur mit einer Kalaschnikow fotografieren lassen und das Bild auf Facebook stellen, aber nicht wirklich kämpfen“, sagt der Belgier. Andere aber könnten sich weiter radikalisieren und von verbündeten Terroristen nicht nur den Umgang mit Waffen und Sprengstoff, sondern auch deren Denkweise vermittelt bekommen. Wenn, so de Kerchove, „nur 40 mit Attentatsabsichten nach Europa zurückkehren, dann ist das besorgniserregend“.
Exakte Angaben gibt es nicht. Die schwedische EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström spricht von „mindestens 1200 Kämpfern“. Die Zahlen können sich auch deshalb unterscheiden, weil einige Reisebewegungen zählen, was die Zahl hochschnellen lässt, weil eine Person mit Hin- und Rückreise schon zwei Bewegungen ausmacht. Wiederholt er das im Jahr, steigen die Reisebewegungen, obwohl es sich nur um eine Person handelt. Die deutschen Behörden zählen Personen und nicht Reisebewegungen. Klar ist aber, dass das Phänomen deutlich sichtbarer ist als bei anderen Konflikten wie etwa in Afghanistan oder Pakistan – weil Syrien einfacher zu erreichen ist und kulturelle wie klimatische Unterschiede nicht so groß sind.
Woher stammen diese Dschihadisten?
Die europäischen Syrienkämpfer kommen aus zehn Staaten – die meisten, etwa 400, aus Frankreich, das kleine Belgien meldet 150. „Aus Deutschland sind rund 270 solcher Personen nach Schätzungen allein im letzten Jahr nach Syrien gegangen“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Athen: „Wir wollen nicht, dass sich Menschen aus Deutschland an dem Bürgerkrieg beteiligen. Wir wollen vor allem nicht, dass sie zurückkommen und dann hier kampferprobt Anschläge begehen.“
Ausreise wie Rückkehr sind nicht einfach zu verhindern – erst recht, wenn es sich nicht um Drittstaatsangehörige handelt, die in Europa leben, sondern EU-Bürger mit dem Pass eines Mitgliedslandes. Für sie gilt die volle Freizügigkeit des Schengenraums. „Angesichts der Tatsache, dass die Grenzen offen sind“, so der deutsche Minister de Maizière, „muss die Europäische Union zur Abwehr solcher Gefahren zusammenhalten.“ Die jeweiligen Geheimdienste sind zu besonderer Wachsamkeit und zum intensiven Informationsaustausch angehalten – auch mit Europol sowie der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Ein besonderes Problem ist die Türkei. Denn viele Islamisten nutzen die Türkei als Transit- und Rückzugsraum. Ein Personalausweis reicht zur Ein- und Ausreise. Und in Deutschland, aber auch auf EU-Ebene würde man sich mehr Engagement und Informationen der türkischen Dienste wünschen.
Wie kann die Gefahr gebannt werden?
Es beginn beim Versuch, dass sich junge Leute erst gar nicht in ihrem Umfeld oder über Internetpropaganda radikalisieren. „Das ist keine polizeiliche, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe“, so de Maizière, „Eltern, Familienangehörige, Freunde sollen bemerken, wenn es zu solchen Radikalisierungsprozessen kommt, das geht manchmal in Wochen.“ Seit 2011 tauschen die rund 700 Beteiligten auf europäischer Ebene ihre Erfahrungen aus. Die Zusammenarbeit soll auf der Grundlage von Vorschlägen der EU-Kommissarin Malmström weiter ausgebaut werden.
Im Mittelpunkt der Debatte stand jedoch die noch intensivere Grenzsicherung. Große Hoffnungen setzten die Minister dabei auf das Schengener Informationssystem für die polizeiliche Zusammenarbeit, das seit 2013 im Einsatz ist und weiter ausgebaut werden soll. „Wir brauchen auch ein europäisches System zur Erfassung von Fluggastdaten“, forderte der griechische Minister Nikolaos Dendios. Kommissarin Malmström, die bereits 2013 einen entsprechenden Gesetzesvorschlag präsentiert hat, musste jedoch eingestehen, dass der Entwurf wegen datenschutzrechtlicher Bedenken „im Europaparlament blockiert ist“. Skepsis herrscht dort auch gegenüber Malmströms sogenanntem „Smart Borders Package“. An „intelligenten Grenzen“ würde demnach automatisch Zeit und Ort von Ein- und Ausreise aus der EU aufgezeichnet – von 2018 an. Man sollte wohl hoffen, dass dieses System dann nichts mehr mit Heimkehrern aus einem Syrienkrieg zu tun hat.
Was weiß man über die deutschen Islamisten?
Von über 270 ist derzeit die Rede, allerdings weisen die Sicherheitsbehörden darauf hin, dass die Lage sehr dynamisch sei, weshalb sich die Zahl täglich ändern könne – mit steigender Tendenz. Allerdings sind nicht alle deutschen Islamisten, die in Syrien sind oder waren, auch in Kampfhandlungen verwickelt. Die Behörden gehen von nur einem Dutzend aus, die sich aktiv am bewaffneten Widerstand gegen das Assad-Regime beteiligt haben. 15 Personen sollen in Syrien gestorben sein. Von den mehr als 270 Personen sind auch einige wieder zurück, genaue Zahlen nennen die Behörden nicht. Sie bemühen sich auch, neue Ausreiseversuche frühzeitig zu verhindern. Die Anzahl der tatsächlich verhinderten Ausreisen bewege sich im niedrigen zweistelligen Bereich.
In Sicherheitskreisen heißt es, dass unter den deutschen Islamisten die unterschiedlichsten Gruppen seien: Deutsche, Ausländer, Deutsche mit Migrationshintergrund. Der Durchschnitt sei männlich und im Alter von 18 bis 25 Jahren. Aber es seien auch schon Minderjährige nach Syrien gereist und Frauen. Oftmals gehe es auch um logistische und materielle Unterstützung. Wieder andere versuchten erfolglos, Anschluss an radikale Gruppen zu bekommen. Auffällig in Deutschland sei, dass der Radikalisierungsprozess immer schneller und kürzer sei.