Literaturnobelpreis 2015: Svetlana Alexijewitsch: Mehr als Journalismus
Die Nobelpreisträgerin Svetlana Alexijewitsch sei gar keine Schriftstellerin, heißt es. Sie habe die Ehrung aus politischen Gründen erhalten. Wie weit trägt dieser Vorwurf? Ein Kommentar.
Als Patrick Modiano vergangenes Jahr den Literaturnobelpreis verliehen bekam, war die Welt verblüfft. Wer ist das denn, fragte sich so mancher und hielt es für keine gute Entscheidung, die wichtigste literarische Auszeichnung der Welt an einen unpolitischen Erinnerungskünstler zu geben. Dieses Jahr ist es genau anders herum. Svetlana Alexijewitsch bekommt den Literaturnobelpreis zugesprochen, und es heißt, die Weißrussin sei doch gar keine Schriftstellerin, sondern eher Journalistin, schreibe gar keine Literatur, das Nobelpreiskomitee lasse das Literarische außer Acht und entscheide nur politisch.
Es ist die Crux von großen Kulturpreisen, dass die Erwartungen an sie genauso groß sind, dass sie natürlich immer politische Signalwirkungen haben, aber sich das Ästhetische und das Politische doch bitte schön mindestens die Waage halten sollen. In der Kunst selbst ist es noch problematischer. Je politischer sie ist, desto interessanter wird sie für eine größere Öffentlichkeit, desto bedeutender, auch wenn die Ästhetik hinterherhängt.
Kunst - nur etwas für Kenner und Liebhaber?
Ist es umgekehrt, gerät Kunst schnell in den Verdacht, nur etwas für wenige zu sein, für ausgewiesene Kenner, für Liebhaber. Insofern könnte am Montag, wenn in Frankfurt zum Auftakt der Buchmesse der Deutsche Buchpreis verliehen wird, ein Roman den Preis gewinnen, in dem die Flüchtlingskrise, die Situation von Flüchtlingen hier in Deutschland im Zentrum steht: „Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck. Dieser Roman ist ein solides, aber auch ein wenig braves Stück Literatur, das seine gesellschaftspolitische Sendung nie verhehlt.
Die ästhetisch aber viel kühneren Entwürfe, die Romane, die zeigen, wie Literatur und große Kunst zusammengedacht werden, Ulrich Peltzers „Das bessere Leben“ und Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ könnten leer ausgehen, weil sie zu schwer sind, sie auf dem Markt nicht bestehen können, aber auch weil sich ihre politische Aktualität nicht sofort erschließt.
Große Literatur - auf den zweiten Blick
In der Literatur haben sich zudem in den vergangenen Jahren die Grenzen zunehmend verwischt. Es gibt zum Beispiel Sachbücher, die sind besser, poetischer und kunstvoller gearbeitet als so mancher Roman. Es gibt, am anderen Ende der Skala, haufenweise Romane von Journalisten, ohne dass diese sich groß von den journalistischen Arbeiten ihrer Urheber unterscheiden. Und es gibt die Wanderer zwischen den Welten. Rainald Goetz zum Beispiel, diesen großen Gegenwartsmitschreiber, der kein ausgewiesener Romancier ist, aber dieses Jahr den Georg-Büchner-Preis verliehen bekommt für ein Werk, das aus unterschiedlichsten Textformen besteht.
Oder Walter Kempowski, der diesen Preis nie bekommen hat, weil er sich immer dem Vorwurf ausgesetzt sah, keine hochkarätige Literatur zu verfassen, ein Unterhalter zu sein – und ein Dokumentarist. Das „Echolot“ aber, Kempowskis vielstimmiges Hauptwerk, eine Collage aus Tagebüchern, Briefen, autobiografischen Erinnerungen und Fotografien aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, ist ein großartiges Kunstwerk. Beide Werke, von Goetz wie von Kempowski, erzählen viel über die Zeit, von der sie handeln und in der sie entstanden sind. Nicht anders ist das bei Alexijewitsch, nur anders herum.
Was auf den ersten Blick bloß politisch, nur dokumentarisch erscheint, ist beim zweiten Hinsehen Literatur.