zum Hauptinhalt
Arm in Arm genießen diese Soldaten das Ende des Zweiten Weltkriegs.
© bpk / Voller Ernst- Fotoagentur

Zweiter Weltkrieg: Erinnerungen an eine Niederlage, die eine Befreiung war

Der Weltkrieg endete mit Gewalt und Leid. Gedichte, Lieder, Witze und Briefe erzählen von den Tagen der Kapitulation – und sie zeigen auf, wie viele Menschen ihren Humor behielten.

Ich sah an der Straßenecke eine Frau mit einem großen Stück Fleisch, fragte, woher das komme und bekam die Antwort, da vorne gebe es Pferdefleisch. Ich dachte, es werde verteilt, rannte hin und fand ein halbes, noch warmes Pferd auf dem Trottoir und drum herum Männer und Frauen mit Messern und Beilen, die sich Stücke lossäbelten. Ich zog also mein großes Taschenmesser, eroberte mir einen Platz und säbelte auch. Einfach wars nicht. Ich bekam ein Viertel Lunge und ein Stück von der Keule, woran noch das Pferdefell war, und zog blutbespritzt ab. Da wir im letzten Krieg vom Metzger auch Pferdefleisch bekommen hatten und es gut fanden, war ich hochbefriedigt, wollte mit Frau Mietusch teilen – die aber wandte sich schaudernd ab. Nun begann eine scheußliche Arbeit in der Küche. Alles war voll Blut – und ich kann mir jetzt lebhaft vorstellen, wie schwer es einem Mörder fällt, Blutspuren zu entfernen. Irgendwo bleibt doch ein Fleck. Ich erkannte bald, dass das Fleisch erst abhängen müsse, zog durch jedes Stück eine Schnur und hing beide auf. Das Fell war abgeschnitten. Von der Lunge trieb ich doch schon die Hälfte durch und machte mit Zwiebel, Thymian und einer Einbrenn eine sehr köstliche Lungenblutwurst. Während diese Metzelei noch im Gange war, rief Herr Mietusch, der erste russische Wagen fahre durch unsere Straße. Dies historische Ereignis musste ich mir entgehen lassen, sonst hätte ich das Blut auch in die Vorderzimmer gebracht.“

Die Brief-Notizen der Journalistin Margret Boveri stammen aus den ersten Maitagen ’45, als Berlin kapituliert. Sie schildert, was sie sieht, ohne zeitliche Distanz und literarische Überhöhung und assoziiert dabei doch mehr als eine archaische Nahrungsjagd: die Präsenz der kaum zu Ende gegangenen Gewaltherrschaft und des Krieges. Fünf Tage später, am Vormittag des 8. Mai, versucht die 45-Jährige per Rad von Dahlem zur Schweizer Botschaft am Reichstag zu gelangen, um Bekannten eine Botschaft zu bringen.

Der Tiergarten ist ein Schlachtfeld

„Mir entgegen kamen etwa 30 russische Panzer, fliedergeschmückt, mit Soldaten und Russenmädchen darauf. Hinter dem Knie heute: Ernst-Reuter-Platz] rief mir eine Frau aufgeregt zu, ich dürfe nicht die Ost-West-Achse fahren; vorne sei eine Kontrolle, die nehme einem die Räder ab. Ich bog also hinter der Stadtbahn in die Händelstraßen-Gegend ab, musste aber immer wieder umkehren, weil kein Durchkommen war. Bäume über die Straßen, zerschossene Panzer, der Tiergarten ein aufgewühltes Schlachtfeld, kein Weg zu begehen. Ich kehrte also zum großen Stern zurück. Am Fuß der Siegessäule lagerten viele unordentliche Russen; am Straßenrand spielte ein Grammophon deutsche Tanzplatten aus dem Jahr 1930; an einer anderen Ecke des Platzes aßen und tranken Soldaten und lümmelten sich herum. Dann kam ich ans Schlieffenufer heute: Bettina von Arnim-Ufer], musste immer wieder absteigen und über Berge klettern. Alle Häuser zu Klump geschlagen. Kaum Deutsche zu sehen, die in anderen Straßen meist zahlreich schleppend, ziehend, schaufelnd an der Arbeit sind. Dafür viele Russen. Nicht gemütlich.“

Wo Erinnerungen nach Jahren sortiert notiert werden, entfallen viele Details. Hier blickt der spätere Literaturkritiker Fritz J. Raddatz, damals 14 Jahre alt, auf das zurück, was er über „Leichen“ im Gedächtnis findet: „Sie lagen im Mai 1945 in Parkanlagen, am Straßenrand, oft so ausgeplündert, dass nicht zu erkennen war, ob erschossener Soldat oder umgebrachter Zivilist. Geschändete Frauen mit aufgerissenen Mündern, die Goldzähne von Fledderern herausgebrochen. Manche halb verkohlt in den Trümmern verbrannter Häuser. Es war nicht Flieder, noch waren es Hyazinthen, nach denen in diesem Frühjahr die Luft süßlich schmeckte.“

Marie Jalowicz, die als untergetauchte Jüdin den Krieg überlebt hatte und der Roten Armee zuerst Ende April, in Kaulsdorf, begegnet war, hat ihre packenden Erinnerungen erst 52 Jahre danach, kurz vor ihrem Tod, auf Band gesprochen: „Alle kletterten mit erhobenen Armen aus dem Graben. Ich hob die Hände nur leicht an, denn ich dachte: Ich habe mich nicht zu ergeben. Ich stand zwar formal auf Seiten der Besiegten, aber gefühlsmäßig auf Seiten der Sieger. Der Russe, der mir als Erster gegenübertrat, sah aus wie aus dem Bilderbuch: Es war ein Mongole mit Pockennarben. Ich umarmte ihn und bedankte mich auf Deutsch für die Befreiung. Dieser fremde, einfache Soldat wirkte darüber eher erschrocken. Und ich musste mir eingestehen, dass ich mir selbst Theater vorgespielt hatte. Ich war frei, der Krieg war aus, die Rote Armee hatte gesiegt. Gern hätte ich jetzt vor Freude und Erleichterung geweint. Aber nichts rührte sich in mir.“

Polnische Zwangsarbeiterinnen aus einem Lager in der Nachbarschaft plündern das Haus, in dem die 24-jährige Marie bei der Familie Koch wohnt, dann kommen wieder Soldaten.

„Ein riesig großer und korpulenter Mann setzte sich eines dieser idiotischen kleinen Hütchen von Frau Koch auf, zog dazu ihre geschmacklose, spießige, selbstgenähte Plüschjacke an und ging damit weg. Ich fand das urkomisch. Aber ihr Vater heulte auf. „Das sind ja Diebe“, plärrte er infantil mit weit offenem Mund. „Du Scheißnazi“, dachte ich, „du und deinesgleichen, ihr habt Hitler gewählt, ihr habt diesen Krieg mit angezettelt und die Durchhalteparolen befolgt. Und jetzt regst du dich wegen einem idiotischen Kinderhut auf.“ Aber ich sagte natürlich nichts. Ein anderer Soldat stürmte in den Keller, wo der alte Guthmann eine Versuchstierzucht betrieb … Ich stand an der offenen Kellertür, als der Russe die vielen Käfige entdeckte und sie sofort öffnete. Mit feierlichem Ernst, die Hände wie segnend erhoben, wiederholte er immer wieder in einem fast beschwörenden Singsang das Wort „Oswobozhdenie“ – das hieß Befreiung. Es war wie ein kindlicher, magischer Akt.

Dann begann er auch das Kompott, das in zahlreichen Einweckgläsern in Regalen an der Wand aufgereiht war, zu befreien. Wieder sagte er feierlich: „Oswobozhdenie“, während er ein Glas nach dem anderen zerschlug. Die Mäuse wälzten sich, durch Kirschen und Erdbeeren rot gefärbt, im Kompott, und ich konnte mich vor Lachen kaum halten. Hannchens Vater aber jaulte und heulte laut herum. Ich hatte Lust, ihn mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.“

Beim Unterschreiben der Kapitulationsurkunde

Ohne Überleitung geht der Bericht weiter: „Schlimm war, dass die Sowjets auch durch die Häuser zogen und Frauen vergewaltigten. Natürlich kam ich auch dran. Ich schlief oben in der Bodenkammer, und dort besuchte mich nachts ein stämmiger, freundlicher Typ namens Iwan Dedoborez. Es machte mir nicht viel aus. Er schrieb danach mit Bleistift einen Zettel und hinterließ ihn an einer Tür: Dies hier sei seine Braut, und man solle mich in Ruhe lassen. Tatsächlich bin ich danach nie wieder belästigt worden.“

Ilja Kritschewski (geb. 1907), Zeichner für eine Armeezeitung, ist am 8. Mai, dem letzten Tag seines Frontlebens, auf Motivsuche durch Berlin gelaufen: „Noch herrschte ungewohnte Stille, und der Abend, vom Duft des jungen Grüns erfüllt, war wundervoll. Plötzlich schossen Raketen hoch, eine nach der anderen. Bunte Lichtfontänen zerflossen am Himmel, dichte Rauchstreifen hinterlassend. Lustige Fünkchen tanzten umher und verhießen das langerwartete friedliche Leben. Ich wusste nicht, woher dieses Feuerwerk kam. Vielleicht feierte jemand, so wie wir gestern, im voraus den Abschluß des Krieges?“

Der Frontberichterstatter Konstantin Simonow (geb. 1915) hat am 9. Mai kurz nach Mitternacht beobachtet, wie der deutsche Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel auf die Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch die Sieger reagiert: „Während sie unterschreiben, verändert sich Keitels Gesicht schrecklich. In Erwartung der Sekunde, da er an der Reihe ist, zur Feder zu greifen, sitzt er steif und starr da. Der große Offizier, der in strammer Haltung, die Hände an der Hosennaht, hinter seinem Sessel steht, weint, ohne daß sich in seinem Gesicht ein Muskel regt. Keitel sitzt gerade da, dann streckt er die Hände aus und ballt sie auf dem Tisch zu Fäusten. Den Kopf legt er immer weiter zurück, als wolle er die Tränen, die unter den Lidern hervorzubrechen drohen, nach hinten drängen.“

Eine andere Dokumentensorte, die Gefühle und Ereignisse zugespitzt überliefert, sind Witze. Sie entwickeln in Untergangs-Situationen als Medium des Druckablassens und der Distanzierung therapeutische Funktion. Der „Flüsterwitz“ konserviert das, was war, geschliffen; er pointiert, überdreht, verzerrt Fakten zur Kenntlichkeit, ist dabei trotzdem „näher dran“ als die abgeklärte Retrospektive.

In Trümmern lag Deutschland zu weiten Teilen nach dem Krieg.
In Trümmern lag Deutschland zu weiten Teilen nach dem Krieg.
© akg-images / RIA Nowosti

Durchhaltebefehle bis zur sogenannten Stunde null hatte die Berliner Schnauze gelassen gekontert: „Eher det ick mir meine Riebe abhacken lasse, eher jlobe ick am totalen Sieg.“ Die Schrumpfung des NS-Imperiums beim Zusammenrücken der West- und Ostfront inspirierte Witzbolde zur mythologischen Parodie: „Mutter Germania ist schwer erkrankt: Klein-Deutschland ist unterwegs.“ Parolen zur letzten Einberufung, die das Blatt noch wenden sollte, wurden durch eine Führer-Order überboten: „In Anbetracht unserer hohen Verluste im Kampf gegen die bolschewistischen Untermenschen habe ich mich entschlossen, die Schwangerschaftsdauer im gesamten Großdeutschen Reich mit sofortiger Wirkung auf sechs Monate herabzusetzen.“ Nach der Kapitulation erhält das Kinderkriegen einen anderen Unterton. Für zwei Freundinnen, die sich auf dem zerstörten Ku’damm begegnen, liefert nicht das Trauma Vergewaltigung den Kontext ihres Gesprächs, sondern der Männermangel: „Du bist ja in anderen Umständen! Wie ist denn das gekommen?“ – „Beziehungen!“

Ein Witz zum kollektiven Entlastungsreflex

Umgang mit Schuld scheint dagegen kein Hauptthema zu sein. Es gibt diesen Witz von einem abgerissenen Arm mit geballter Faust, der in Reichskanzlei-Nähe gefunden wird, identifiziert als Hitlers Körperteil. Der Hand wird ein Zettel entwunden, auf dem man entziffert: „Ich bin nicht schuldig im Sinne der Anklage, denn ich musste in die Partei eintreten, weil ich sonst der Rache Kaltenbrunners zum Opfer gefallen wäre!“ Hier charakterisiert der Volksmund nicht nur die Feigheit des Führers, der Verantwortung fürs eigene Versagen jeweils auf andere, „die“ Juden, Marxisten, den Generalstab oder zuletzt „die Deutschen“ abzuwälzen verstand, in diesem Fall auf den Chef des Reichssicherheitshauptamtes (NSDAP-Mitgliedsnr. 300179). Der Witz formuliert den kollektiven Entlastungsreflex überhaupt: „Es waren die Nazis.“

Lyrik und Lieder konservieren Erinnerung überformt. Manchmal lässt sich hinter der Struktur, der Reflexion und der Poesie erahnen, was den Kern der Geschichte ausmacht. Das Gedicht des Kabarettisten Werner Finck (geb. 1902) „Beim Ziegelputzen zu singen“ endet mit der messerscharfen Strophe: „Leergebrannt liegt Stadt für Stadt. Welche Hausse in Ruinen! Aber was wir dran verdienen, ist die Schuld, die keiner hat.“

Das Chanson „Tausch-Rausch“ von Heinz Hartwig (geb. 1907) und Hermann Mostar (geb. 1901) für ihr Reisekabarett „Die Hinterbliebenen“ öffnet wiederum ein Theater-Panorama auf den Schwarzen Flohmarkt der Identitäten und der Überlebens-Dealerei:

„Abwaschbare Gummikragen gegen Zwillingskinderwagen! / Gebe echten Tizian gegen Flasche Enzian! Tausche unsre ganze Zone gegen eine Kaffeebohne! Biete Mythus Rosenberg, suche netten Gartenzwerg! Tausche Görings Ordensbänder gegen einen Christbaumständer! Suche möglichst kleinen Laden, biete Berghof Berchtesgaden! Wer entnazit Alt-Pg? Schippe zwanzig Stunden Schnee! Habe Sorgen, werde Mami – biete Nazi, suche Ami! Wer hat was zum Steinerweichen? Biete mein Parteiabzeichen! … Reichstag gegen Parlament, Führer gegen Präsident! Braunhemd gegen Lendenschurz oder einen großen – Kurz: Tausche diese ganze Welt, die mir gar nicht mehr gefällt, heute noch und auf der Stelle gegen ein Billett zur Hölle! Lieber Gott, wir bitten drum: Tausch uns mit uns selber um!“

Das Ende des Krieges

Vor 15 Jahren hat mir der ukrainische Gitarrist Mykola ein sowjetisches Landserlied übersetzt, das wir mit einer russisch-jüdischen Band für eine Heimatrevue namens „Schlamassel Berlino“ verwenden wollten (aus der, wie so manches im Nachkriegs- und Nachwende-Berlin, nichts geworden ist). Anders als seine Bandkollegen lebte Mykola nicht auf dem jüdischen Ticket hier, sein Status war wohl ungesichert. Jedenfalls ahne ich nicht, wo er geblieben ist, und auch die Aufnahme der Melodie, der russische Text ist verschollen – und hoffentlich wiederauffindbar wie damalige, schöne Perspektiven einer deutsch-russischen Freundschaft. Auf die Übersetzung bin ich jetzt wieder gestoßen. Nur drei konkrete Namen enthält der Text: Berlin, Warschau und das zentralrussische Orjol (= Orel). Sonst bestehen die Verse aus sentimentalen Volkslied-Vokabeln, vielleicht gerade deshalb ein Vehikel „authentischer“ Gefühle. Sie erinnern auch daran, dass Berlin nicht der Nabel der Welt ist. Und dass der Kraftakt, aus der Ferne aufzubrechen, um die Leute in dieser Stadt von ihrem eigenen Wahnsinn zu befreien, einen Preis hatte.

Ich bin von Berlin aus zurückgefahren, auf dem kürzesten Weg. / Bin von der Front direkt nach Hause gefahren. / Vorbei an Warschau und vorbei an Orel/ wo Russlands Ehre ihre Pfade zog.

Durch viele große Länder sind wir gezogen, mit Freunden / aber ein besseres als unser Land sahn wir nicht. / Unsere Sonne ist schöner, und ich sage ehrlich: / Bessere Mädchen als unsere gibt es nicht auf der Welt.

Für die Frühlingssonne, für das Heimatland / für die braunen Augen bin ich in den Krieg gezogen. / Jetzt glänzen sie noch mehr, unsere goldenen Landschaften / jetzt küß mich noch heißer, meine Teure.

Refrain: Hey, begrüß mich, umarm mich doch fester / und schenk mir das Glas noch voller ein.

Zitate aus: Margret Boveri: Tage des Überlebens Berlin 1945. Eichborn Verlag. Frankfurt am Main 1996

Walter Kempowski: Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus. München 2005

Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940– 1945. S. Fischer. Frankfurt am Main 2014.

Volker Kühn: Wir sind so frei. Kabarett in Restdeutschland 1945–1970. Quadriga, Weinheim und Berlin 1993

In der Nacht auf den 9. Mai 1945 wurde in Karlshorst die Kapitulationsurkunde unterschrieben. Der Krieg in Europa war damit endgültig beendet. Für Berlin begann die „Russenzeit“, erst Anfang Juli zogen die Amerikaner und die Briten, später auch die Franzosen in die Stadt ein. Auf den folgenden Seiten werden die ersten Wochen und Monate nach dem Ende der Kämpfe geschildert, der Kampf ums Überleben, das Leiden der Bevölkerung und der durch die Stadt ziehenden Flüchtlinge – aber auch erste Ansätze eines Neubeginns

Zur Startseite