"Das bessere Leben" von Ulrich Peltzer: Was weiß man schon über sich
Gewaltige Themen im Sog der Sprache: Ulrich Peltzers Roman „Das bessere Leben“ verzichtet auf das Thema Finanzkapitalismus und zeichnet ein breit aufgefächertes Zustandsprotokoll der Gegenwart.
Zunächst: Dunkelheit. Nacht. Ein Hotelzimmer in São Paulo. Ein Mann mit einer Flasche Bier, der sich in seiner Decke verheddert hat und offenbar auch in seinen Gedanken und Erinnerungen. Als wäre es gestern erst gewesen, so kommen ihm die Schlägereien und Gewaltszenen vor, die doch tatsächlich – aber das begreift man erst nach und nach – 36 Jahre zurückliegen: Kent, Ohio, USA, Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, als die Nationalgarde das Feuer auf die Menge eröffnete und vier Studenten ums Leben kamen. Sylvester Lee Fleming – so heißt der Mann – war offenbar dabei und kommt nicht los von diesen Bildern.
Fleming ist eine der drei Hauptfiguren im neuen Roman des Berliner Schriftstellers Ulrich Peltzer. Sein Nachname verweist nicht ganz zufällig auf James Bond-Autor Ian Fleming, denn er ist der Superschurke, ein diabolischer Charakter voller Lust, Leute ins Verhängnis zu stürzen, denn dann hilft er ihnen mit Krediten aus der Not, an denen er sich als Risikoversicherungsagent dumm und dämlich verdient. Wie ein klassischer Bond-Bösewicht hat er ein riesiges unterirdisches Archiv angelegt, in dem er Daten über alle relevanten Gesprächspartner sammelt. Er kennt deren Biografien und innerste Gedanken und weiß mehr über sie als sie selbst. Denn was weiß man schon über sich.
Ein Titelfigur mit reicher Geschichte
Begegnen wird er im Lauf des Geschehens Jochen Brockmann, einem Sales-Manager vom Niederrhein, der seit 14 Jahren in Turin lebt und unentwegt um die Welt jettet, um Industrieanlagen zu verkaufen, und der zu Beginn 600 000 Euro auf einem Schweizer Schwarzgeldkonto bunkert. Nicht begegnen wird Fleming der Amsterdamer Reederin Angelika Volkhart, denn zum vereinbarten Treffen erscheint er nicht, stattdessen aber zufällig Brockmann, woraus sich eine grandios erzählte Liebesgeschichte entwickelt. Wie Annäherung unter Fremden sich als Wunder ereignet, wie sie einander suchen, wie sie erschrecken und durchströmt werden beim Eintreffen der ersten Mail, ihr Wiedersehen, die erste Liebesnacht – das sind Höhepunkte, an denen sich Peltzers warme Erzählkunst aus nächster Nähe bewährt.
Im Unterschied zu „Johann Holtrop“, der Managerfigur, mit der Rainald Goetz vor ein paar Jahren den Finanzkapitalismus zu erfassen suchte, stattet Peltzer seinen Brockmann mit einer reichen Geschichte aus und entgeht so der Gefahr, ihn bloß als Funktion und eigenschaftslose Leerform darzustellen (der Goetz nicht entging). Brockmann ist umgeben von Exfrau (die sich aufs Land und in ein Yoga-Nirwana zurückgezogen hat), Tochter (die in Mailand studiert), Ex-Freundin (eine Fotografin), Eltern und Geschwistern, die alle mit eigenen Geschichten und Gedanken auftreten. Seine Erinnerungen reichen bis in die Schulzeit zurück mit Ferienjobs als Portier in einem Stahlwerk oder als Malocher auf einer Baustelle, wo der Lohn am Ende dann doch nicht reichte, um die ersehnte Anlage von Bose zu erwerben. Das ist atmosphärisch dicht erzählt und lässt nebenbei eine typische bundesrepublikanische Biografie entstehen – angefangen mit der Einübung in Warentausch, Abhängigkeiten und Hierarchien schon auf dem Schulhof.
Geld allein macht nicht glücklich
„Das bessere Leben“ ist ein radikaler Bewusstseinsroman, allerdings nicht aus einem einzelnen Bewusstsein heraus erzählt, sondern aus vielen, die alle miteinander verknüpft sind. War „Teil der Lösung“ (2007) noch ein klassischer Berlin-Roman, so geht Peltzer nun weit darüber hinaus: Die Gegenwart des 21. Jahrhunderts ist nicht an einem Ort, sondern nur im globalen Überall der Hotelzimmer, Flughäfen, Restaurants und Stadtlandschaften zu erfassen. Dass er das Frühjahr 2006 – noch vor der großen Finanzkrise – als Zeitraum gewählt hat, erspart ihm den Zwang, ganz auf der Höhe der Gegenwart erzählen zu müssen. „Das bessere Leben“ ist eben kein Roman über den Finanzkapitalismus – wie von vielen Kritikern behauptet, die daran Peltzers Scheitern festmachen wollen –, sondern ein breit aufgefächertes Zustandsprotokoll des besonderen In-der-Welt-Seins der Gegenwart.
Dass Geld allein nicht glücklich macht, ist bekannt. Auch die politischen Utopien des 20. Jahrhunderts sind verbraucht. In geschickt eingebundenen Exkursen führt Peltzer ins Moskau der 30er Jahre, wo deutsche Kommunisten damit beschäftigt sind, einen Abweichler abzustrafen – es handelt sich um den Vater der Russischlehrerin der aus der DDR stammenden Angelika Volkhart – , oder zum Spanischen Bürgerkrieg.
Die Ereignisse in Kent, Ohio von 1970 kommen über eine Installation der Künstlerin Renèe Green in den Blick, die Brockmann mit seiner Tochter in Mailand anschaut. Über einen schwulen Berliner Alt-Maoisten, der einen Aufsatz über „Buongiorno, notte“ (einen Film über die Aldo-Moro-Entführung) schreiben muss, taucht der Irrsinn des Linksterrorismus der 70er Jahre auf. Nebenbei gibt Peltzer in den Anmerkungen zum Film Auskunft über die eigene Arbeitsweise, wenn er notiert: „nicht politische Filme, sondern Filme politisch machen, das gilt auch für Literatur, andere Kunst“.
Es geht um alles: Kunst, Liebe, Geld
Peltzer war immer ein politischer Autor mit Interesse für die Geschichte der Linken – auch als Ko-Drehbuchautor der Politthriller von Christoph Hochhäusler. Inzwischen ist ihm aber klar geworden, dass das Politische sich nicht unbedingt daraus ergibt, dass man über Politik oder Revolutionen schreibt, sondern aus der Frage nach dem besseren Leben. Das ist keineswegs trivial, denn so einfach die Frage, so komplex die Antworten. Es geht, wie der Roman zeigt, dabei um alles, um die Kunst, die Liebe und das Geld. Vor allem geht es immer um die Frage, wie diese seltsame Sache, ein Leben, überhaupt zustande kommt, wie sich aus all den Zufälligkeiten so etwas wie eine Biografie ergibt, die so aussieht, als wäre alles nach Plan und Notwendigkeit abgelaufen. Dabei ist das Subjekt längst zu einer fragwürdigen Größe geworden, lassen sich doch weder historische Zusammenhänge noch all die Bewusstseinspartikel, die das Ich ausmachen, auch nur ansatzweise erfassen.
Es ist klar, dass literarisches Erzählen dies alles nur andeuten kann. Undurchschaubarkeit lässt sich nicht erzählen, weil sie sich im Erzählen automatisch in etwas Darstellbares verwandelt. Das gilt auch für James Joyce oder Thomas Pynchon, in deren Tradition Peltzer sich bewegt. Wenn man seinem Roman etwas vorwerfen kann, dann allenfalls die Unterkomplexität (und nicht, wie einige Kritiker meinten, dass manches im Dunkeln bleibt). Peltzer hat eine Sprache gefunden, die sehr viel – aber eben nie alles – aufnehmen kann, und der es mühelos gelingt, von einem Bewusstsein ins andere zu wechseln.
Geschichte machen durch Manipulation
In einer großartigen Szene macht er das, indem er den Weg einer Mail durchs elektronische Datenuniversum nachvollzieht vom Sender zum Empfänger. Auch die zahlreichen Einschübe in Klammern (kleine Bemerkungen, Relativierungen, prägnante Beobachtungen) gehören dazu als Partikel, die das Bewusstsein in jedem Moment durchlöchern und bereichern. Dagegen bleibt der Ansatz, vom Ich und von einzelnen Subjekten auszugehen, eher konventionell.
Nur der diabolische Sylvester Lee Fleming hat sein besonderes Verhältnis zur Geschichte. Er glaubt tatsächlich, Geschichte machen zu können, und er macht sie auch, indem er die anderen manipuliert. „Man ist auf der Welt, um dem Gesetz der Geschichte zu seinem Recht zu verhelfen, was sonst könnte ein gutes Leben sein?“, sagt er. Und während alle anderen an der Illusion festhalten, sie hätten Optionen, steht er über den Dingen und zieht die Fäden. Ein Diabolus ex machina, ein Gebieter der Zufälle, fast wie der Autor, der ja auch mit Schicksalen hantiert.
Das bessere Leben, das Ich und die Geschichte – das sind wahrlich gewaltige Themen, und es wäre müßig zu bemerken, dass Peltzer sie nicht bewältigt hat. Groß gescheitert – so der Tenor der meisten Kritiken. Doch damit ist in diesem Fall viel gewonnen: offene Fragen, eine dynamische Bewegung, ein offener Sprachstrom und eine spannende Lektüre, wenn man sich nur dem Sog der Sprache überlässt.
Ulrich Peltzer: Das bessere Leben. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015. 446 S., 22,99 €.
Jörg Magenau
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