Rettung des Filmerbes: Streifen in Dosen
Sichern und sichtbar machen: Die deutschen Archive wollen das Filmerbe ins digitale Zeitalter retten. Letztes Jahr wurde Alarm geschlagen, jetzt gibt es erste Entwarnungen. Aber das Geld reicht noch lange nicht.
Sachen aufheben ist nicht leicht im digitalen Zeitalter, man kennt das. Liegen die Urlaubsfotos von 2010 immer noch unsortiert in der Cloud? Die im Internet gekaufte Musik, die Downloads auf der Festplatte, die Steuererklärungen, man müsste dringend mal wieder speichern und aufräumen im eigenen Datensalat.
Vor einer ungleich größeren Herausforderung stehen die Archivare von heute, besonders die Filmarchive, wegen der gigantischen Datenmengen. Seit der alarmistischen Petition im vergangenen Herbst, die 500 Millionen Euro für die Digitalisierung des deutschen Filmerbes forderte, um seinen „drohenden Untergang“ abzuwenden, hat sich herumgesprochen, dass die Digitalisierung des guten alten Zelluloids nicht die Lösung sämtlicher Probleme bedeutet.
Vieles geht in der Diskussion durcheinander. Der akute Notstand in einem der Standorte des Bundesfilmarchivs in Berlin-Wilhelmshagen: Die wegen zersetzendem Naphtalin zerbröselnden, hochexplosiven Nitrocellulosefilme mussten 2013 nach Hoppegarten notverlagert werden. Der naive Glaube, das Zerbröseln sei nicht so schlimm, wenn das World Wide Web nur schnell genug Weltfilmbibliothek wird und die öffentliche Hand die Digitalisierung des gefährdeten Materials finanziert. Die Feier der Rettung und Restaurierung von Robert Wienes Expressionismus-Klassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ auf der Berlinale (und demnächst bei den UFA-Filmnächten, siehe Kasten). Und gleichzeitig die Nachricht, dass 80 Prozent der Kleinode aus der Weimarer Republik unwiederbringlich verloren sind.
Monika Grütters sagt: Die Sicherung des Filmerbes hat hohe Priorität
Spricht man heute mit den obersten Filmschatzmeistern der Nation, den Verantwortlichen im Kinemathekenverbund (Bundesfilmarchiv, Deutsche Kinemathek in Berlin, Deutsches Filminstitut in Frankfurt/Main), bei der Defa-Stiftung oder der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden, hört man erste Seufzer der Erleichterung. Der Archiv-Notstand ist behoben, auch wenn ein zentrales Magazin auf sich warten lässt. Die Politik räumt der „Erhaltung und Zugänglichmachung des nationalen Filmerbes hohe Priorität“ ein, so Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Am 27. Mai lud sie zum „Runden Tisch Filmerbe“ und machte eine zusätzliche Million Euro locker. Und allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Rettung des Filmerbes nur zweigleisig funktionieren kann: mittels Sicherung, also sachgerechter Lagerung der analogen Originalnegative (8 Grad, 35 Prozent Luftfeuchtigkeit), und mittels Sichtbarmachung, sprich: der Bereitstellung digitaler Kopien.
Filmgeschichte ist beides: chemisches Material und flackernde Bilder. Das eine existiert nicht ohne das andere. Filme im Internet, schimpft Martin Koerber, Archivleiter der Deutschen Kinemathek, das ist etwa so, wie wenn man eine Symphonie durchs Telefon hört oder eine Picasso-Postkarte besitzt und sich einbildet, es sei das Original. Umgekehrt nützt die bestens konservierte Filmrolle nichts, wenn sie sich nicht abspielen lässt.
Die unverwüstlichen (obendrein weltweit einheitlichen) Projektoren sind aus den Kinos verschwunden, also verschwindet auch die Filmgeschichte. Deshalb wird digitalisiert, soweit die Euros reichen. Von den Rechte-Inhabern, die bei der mit Branchengeldern finanzierten FFA 15 000 Euro pro Film beantragen können – eine Million Euro pro Jahr sind bereitgestellt, wobei eine Digitalisierung schon mal das Dreifache kosten kann. Und von der Kinemathek, dem Deutschen Filminstitut, der Defa- und der Murnau-Stiftung, die die Million vom Bund unter sich aufteilen.
Die wichtigsten deutschen Filme: Es gibt jetzt eine "500er-Liste"
Am Runden Tisch hat man sich auf Kriterien für Digitalisierungskandidaten geeinigt. Es gibt die laufend zu ergänzende „500er-Liste“ der wichtigsten Filme (online bei der FFA einzusehen), die vom Kinemathekenverbund mit unabhängigen Experten erstellt wird, drei Historikern und zwei Journalisten. Außerdem die üblichen Meriten wie Preise und Festivalteilnahmen sowie den Dreisatz von kommerziellen, konservatorischen und kuratorischen Kriterien. Digitalisiert wird auf Nachfrage, für Vorführungen, Retros, Jubiläen, Blu-Rays, DVDs. Zweitens in Fällen, wo Zersetzungsgefahr droht. Drittens aus kulturellen Gründen: Nicht nur Highlights sollen der Nachwelt erhalten bleiben, auch der „Schulmädchenreport“, "Der Theodor im Fußballtor" und Werbefilme gehören zur Nachkriegsgeschichte. Von vernachlässigten, wieder zu entdeckenden nichtkommerziellen Werken zu schweigen.
Derzeit digitalisiert die Deutsche Kinemathek Experimentelles von Werner Nekes, Dokumentarisches von Peter Nestler, Filme der kürzlich verstorbenen Helma Sanders-Brahms, Ula Stöckls Emanzipations-Klassiker "9 Leben hat die Katze" oder Helga Reidemeisters "Von wegen Schicksal". Das Deutsche Filminstitut hat Tonbilder aus der Zeit des Ersten Weltkriegs digitalisiert und Kurzfilme von Romuald Karmakar. Die Murnau-Stiftung wandelte bislang rund drei Dutzend Filme um, zuletzt etwa „Der müde Tod“ von Fritz Lang oder Lubitschs „Bergkatze“. Wobei die Sicherung der Stummfilm- und frühen Tonfilm-Klassiker oft mit aufwendiger Restaurierung einhergeht. Die kostet extra. Die Murnau-Stiftung ist deshalb auf Mitstreiter angewiesen. Bei Wienes „Caligari“, der mit Originalmaterial aus der ganzen Welt wiederhergestellt wurde, war Bertelsmann als Hauptsponsor dabei.
Früher hatten wir Dinge, heute haben wir Daten, sagt Kinemathekschef Rainer Rother
Die Defa-Stiftung sicherte Werke von Frank Beyer, Konrad Wolf und Roland Gräf, hat das Frühwerk von Volker Koepp aus Anlass von dessen 70. Geburtstag als DVD-Box ediert (und zeigt demnächst eine Koepp-Reihe im Arsenal), kümmert sich um das Œuvre Jürgen Böttchers und bringt zum Mauerfall-Jubiläum späte DDR- und Wende-Dokus heraus. Die populären Indianer- und Märchenfilme werden dabei nicht vernachlässigt. Das sind Renner, sagt Stiftungschef Ralf Schenk. „Die Geschichte vom kleinen Muck“, „Das kalte Herz“, die Filme mit Gojko Mitic – lauter Standbeine der Stiftung.
„Aber keiner weiß, wie haltbar Digitalisate sind“, sagt Ralf Schenk. Die Umwandlung einer 35-Millimeter-Rolle in eine Datei aus Nullen und Einsen ist eine unsichere Sache, siehe Urlaubsfotos. Rainer Rother, Direktor der Deutschen Kinemathek, formuliert es in seinem Büro im Filmhaus am Potsdamer Platz so: „Früher hatten wir Dinge, heute haben wir Daten.“ Anders als die sachgerecht klimatisierte Filmrolle sind die Daten nicht garantiert 100 Jahre haltbar, nämlich zugänglich und lesbar, schon weil sich die Standardformate ändern. „Also gilt es, die Digitalisate der alten analogen Filme wie auch die Masterdateien der aktuellen, digital entstandenen Filme, mehrfach aufzubewahren.“ An verschiedenen Orten, in verschiedenen Formaten, mindestens vierfach.
„Der Film verliert sein Handwerk“, zitiert Rother einen Buchtitel des HFF-Professors Gerhard Schumm. „Auch wir haben den Film buchstäblich nicht mehr in der Hand.“ Und doch ist das klassische Handwerk – noch – unverzichtbar. Bei Experten wie Rother heißt das Autopsie: „Dosen öffnen, Filmstreifen angucken, riecht es nach Essig? Ab und zu muss umgerollt werden, und wenn eine Rolle vom Vinegar Syndrome befallen ist, heißt es umkopieren.“ Es ist wie beim Kampf gegen die Motten im Kleiderschrank. Entfällt all das bei der digitalen Kopie? Auch da müssen die Daten gelegentlich auf einen anderen Träger migrieren, sagt Rother. Noch so ein seltsames Wort. Migration, Autopsie, Digitalisat, schöne neue Filmwelt.
Wer analog sichern will, dem geht das Material aus: Fuji produziert nicht mehr
Nicht dass alle sich einig wären. Wegen der mangelnden Datensicherheit schwören manche Archive auf die Ausbelichtung auch digitaler Produktionen. So versucht das Filmarchiv des New Yorker MoMA, von jeder bedeutenden Produktion eine 35-Millimeter-Kopie zu konservieren. Was immer schwieriger wird, weil große Studios wie Disney solche Kopien nicht mehr erstellen. Und weil das Material ausgeht: Fuji produziert nicht mehr, bei Kodak ist es laut MoMA-Filmchef Rajendra Roy nur noch eine Frage der Zeit. Weil Röntgenbilder und MRTs ebenso von der Furie des Verschwindens bedroht sind, hofft Roy auf die finanziell weit besser ausgestattete Gesundheitsindustrie. Bei den Medizinern geht es oft um Leben und Tod: Vielleicht finden die ja den Stein der Weisen bei der Datenkonservierung.
Und nicht, dass alle zufrieden wären. „Es ist noch Luft nach oben“, sagt Claudia Dillmann vom Deutschen Filminstitut, dessen Archiv rund 20 000 Kopien verwahrt. Und betont noch einmal: „Ein Erbe ist nicht lebendig, wenn ich es nicht sehen kann. Dann haben wir keine Filme mehr, sondern nur noch Streifen in Dosen.“
Was sind schon zwei Millionen Euro im Jahr? Die von der Filmförderanstalt bereitgestellte Million war 2013 bereits im Mai erschöpft (für 79 Filme), die für 2014 vor wenigen Wochen (74 Filme); über eine Erhöhung wird nachgedacht. Frankreich hat für sechs Jahre 400 Millionen Euro bereitgestellt, auch in Ländern wie Holland und Skandinavien kursieren weit höhere Summen als in der reichen Bundesrepublik. Mit zwei Millionen Euro können gerade mal 120 Filme gesichert werden, in zehn Jahren wären das 1200. Tropfen auf heiße Steine: Die Archivare schätzen, dass 90 000 bis 100 000 deutsche Titel in den Archiven lagern, genau weiß das keiner.
Erstmals wird jetzt ein Bestandskatalog aller Archiv-Filme erstellt
Ein schöner Nebeneffekt: Die Archive in ihrer historisch gewachsenen Diversität arbeiten enger zusammen denn je und erstellen erstmals einen einheitlichen Bestandskatalog. Bei Fragen der Auflösung, der Formate, der Strategien herrscht Einmütigkeit. Rother, Dillmann, Schenk, auch Ernst Szebedits von der Murnau-Stiftung, alle betonen, dass eine verlässliche, im Bundesetat verankerte Summe und eine klare Zeitperspektive effektiver sind als viele Sofort-Millionen. Schon weil die Betriebe, die die Umwandlung durchführen, Auftragssicherheit brauchen.
Dabei ist Fingerspitzengefühl gefragt. Die Versuchung ist groß, Bilder im Prozess ihrer Konservierung zu schönen. Nicht jeder Kratzer muss verschwinden, auch Filme tragen Lebensspuren davon. Blessuren, die sichtbar bleiben sollen, wie Ernst Szebedits es sich für die Schätze der Murnau-Stiftung wünscht. Der Rest ist Geduld. Der Startlauf in die Zukunft des Films wird auch in zehn Jahren noch lange nicht abgeschlossen sein.
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