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Birgit Minichmayr und Lars Eidinger in "Alle anderen".
© Polyfilm

Große Retrospektive in New York: MoMA zeigt Filme der "Berliner Schule"

Das MoMA in New York widmet den Filmen der "Berliner Schule" eine große Retrospektive. Spätestens jetzt sind Christian Petzold, Angela Schanelec, Thomas Arslan und Co. Teil der Filmgeschichte geworden. Und das ungeliebte Etikett adelt sie jetzt.

Berliner Schule, ist das nicht ein Schimpfwort? Ein schnelles Etikett für jene langsamen, dialog- und handlungsarmen Filme, die „Mein langsames Leben“, „Die innere Sicherheit“ oder „Schlafkrankheit“ heißen? Das Label mögen die Regisseure jedenfalls nicht: Angela Schanelec, Christian Petzold, Thomas Arslan als Protagonisten der ersten Generation und Ulrich Köhler, Maren Ade, Valeska Grisebach oder Christoph Hochhäusler als Vertreter der zweiten. Gut, die Älteren kennen sich seit dem Studium an der Berliner DFFB Anfang der 90er Jahre, und viele produzieren bei Schramm-Film, der Heimstatt der Bewegung. Und sie tauschen sich aus, etwa in der Zeitschrift „Revolver“. Aber eine gemeinsame Schule? Nein, es gibt kein Manifest, nur das Motto der anderen.

Aber dann feierten die Autorenfilmer Festival- und Auslandserfolge, und jetzt wird sowieso alles anders: Ab heute widmet das New Yorker Museum of Modern Art Petzold, Schanelec und Co. eine große Retrospektive, mit 17 Filmen von neun Regisseuren, bis 6. Dezember. Ergänzt wird das Programm mit Produktionen aus der Zeit von Mitte der 90er Jahre bis heute um Podien und ein zweitägiges Symposium an der New York University. Die Regisseure reisen an, ebenso Nina Hoss, Star in Petzolds Filmen und zuletzt in Arslans Westerndrama „Gold“.

Die Berliner Schule goes MoMA! Spätestens jetzt sind Petzold und Co. ein unverbrüchlicher Teil der Filmgeschichte geworden, der deutschen genauso wie der des internationalen Autorenkinos. The Berlin School, die Übersetzung versöhnt mit dem Label. Das ungeliebte Etikett adelt sie nun.

Die Filme zielen ins Herz ihrer Zeit

Rajendra Roy leitet seit sechs Jahren die Filmabteilung des MoMA, er hat die Reihe gemeinsam mit der Berliner Filmkritikerin Anke Leweke organisiert. Nach der Jahrtausendwende hatte er in Berlin gelebt, war von 2005 bis 2008 das einzige nichteuropäische Mitglied der Berlinale-Auswahlkommission. Es war sein Job, Außenseiter zu sein, sagt er heute. „Und da waren ein paar Filme, die mir halfen, Berlin und Deutschland besser zu verstehen. Nach der Wiedervereinigung gab es noch immer viel Niemandsland, im Straßenbild und in den Köpfen der Menschen.“ Die Stadt war sexy, chaotisch, pleite, und mittendrin entstand etwas Neues: Im Kino begriff Roy die Gemengelage. Zum Beispiel in Ulrich Köhlers „Bungalow“ von 2002. Ein junger Soldat kehrt nicht in die Kaserne zurück, verzieht sich im Bungalow seiner Eltern irgendwo in Hessen und weiß nicht weiter. „Er gerät in eine Sackgasse, aber das ist nicht das Ende. Genauso fühlte es sich damals hier an.“

Berlin war eine Baustelle, voller Hektik und Lärm. Auch die Berliner Schule ist mitten in der Gegenwart angesiedelt, aber die Filme bleiben ruhig, introspektiv, bevorzugen die Halbtotale, verweigern die Action. Weil sie ins Herz jener Zeit zielen, meint Roy. Einer Zeit der Verunsicherung nach dem Mauerfall, der Transiträume und brüchigen Identitäten. Die Antihelden dieser Filme wissen alle nicht weiter, hängen herum. Auf Plätzen in Städten, in der Provinz, auf Parkplätzen, in WG-Küchen, wie die Filmkritikerin Anke Leweke beobachtet hat, die das MoMA-Programm gemeinsam mit Roy konzipierte.

Christian Petzolds "Gespenster"

Birgit Minichmayr und Lars Eidinger in "Alle anderen".
Birgit Minichmayr und Lars Eidinger in "Alle anderen".
© Polyfilm

Die Kreuzberg-Kids in Arslans -Trilogie „Geschwister“, „Dealer“, „Der schöne Tag“. Vater und Sohn in Prenzlauer Berg, in „Netto“ von Robert Thalheim. Birgit Minichmayr und Lars Eidinger in Maren Ades Ehe-Kammerspiel „Alle anderen“: lauter. Zweifler, Zögerer, Unbehauste. Gespenster der Gegenwart. Ob es sich um Kleingangster handelt, um ein Paar in der Krise, um Banker in Frankfurt oder die Frauen von Nina Hoss, „Yella“, „Barbara“, Emily in „Gold“. Sämtliche Regisseure stammen aus dem Westen Deutschlands, aber ihre Filme spielen öfter im Osten, wagen sich inzwischen auch raus aus Europa.

Kaum war der neue Potsdamer Platz in den Himmel gewachsen, drehte Christian Petzold „Gespenster“, mit Julia Hummer und Sabine Timoteo als Großstadtvagabundinnen. Die versiegelte Investoren-Architektur grenzt darin direkt an den Märchenwald des Tiergartens. Rajendra Roy spricht von einem „prophetischen Film über die Gefahr, eine Leerstelle mit Leere zu füllen, mit reinem Kommerz.“ Wobei der MoMA-Filmchef gespannt ist, ob das New Yorker Publikum das Allegorische in den filmischen Alltagslebenswelten auch registriert. Nicht dass das deutsche Kino dort kein Begriff wäre; das MoMA zeigte Retros zu Fassbinder, zum Neuen Deutschen Film, zur Weimarer Republik. Der typische deutsche Film in amerikanischen Augen? Ist Fritz Lang, „Berlin Alexanderplatz“ oder Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“, erklärt Roy. Beim Durchblättern des wunderschön bebilderten Begleitlesebuchs (mit Beiträgen von Petzold, Grisebach, Hochhäusler, Arslan oder Benjamin Heisenberg – hoffentlich verlegt es einer auf Deutsch!) fragte ihn ein cinephiler Kollege, warum „Der Himmel über Berlin“ nicht dabei sei. Auch Wim Wenders macht ja langsames Kino.

Aber dann sah Roy den schwarzen, schwulen, französischen Arzt in Ulrich Köhlers Afrikadrama „Schlafkrankheit“. „Seine Homosexualität befremdet die Afrikaner, seine Hautfarbe befremdet die Europäer, er ist mit nichts identisch, eine durch und durch moderne Figur“. Das kennen die Menschen in New York, also verstehen sie auch die Berliner Schule.

Apropos Wenders. Roy ist auch oberster Filmarchivar des MoMA, er sorgt sich um den Schatz von 25 000 Filmen. Denn das Problem der digitalen Archivierung ist bislang ungelöst. Schon jetzt muss Wenders seine 2010/11 rein digital entstandene 3-D-Hommage „Pina“ umformatieren, wenn er sie zeigen will. Wie soll man „Pina“ dann erst konservieren?, fragt Roy, der den Tanzfilm für den bislang besten 3-D-Autorenfilm hält. Ein Alptraum. Noch wird meistens auf klassischem Filmmaterial konserviert, aber Fuji hat die Produktion eingestellt, auch „bei Kodak ist es nur noch eine Frage der Zeit“. Für digitale Datenträger gibt es keine technischen Standards, das Filmerbe ist in Gefahr.

Deshalb arbeiten die Archive inzwischen weltweit zusammen, das MoMA kooperiert eng mit der Berliner Kinemathek und richtet die Berlinale-Retrospektive 2014 als echtes Partnerprojekt mit aus, zum zweiten Mal. Rajendra Roy schwärmt vom Berlinale-Publikum als den besten Retrospektive-Zuschauern der Welt. Und es mag verrückt klingen, aber er hofft auf die finanziell besser ausgestattete Medizinindustrie: Röntgenbilder und Kernspin-Tomografie sind ebenso von der Furie des Verschwindens bedroht. Und die Dringlichkeit, eine digitale Konservierungsmethode zu entwickeln, ist hier noch größer. Wovon der Film profitieren könnte. Auch die filmhistorisch bedeutsame Berliner Schule.

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